Staatsgerichtshof Niedersachsen
Beschl. v. 09.09.2020, Az.: StGH 1/20

Bibliographie

Gericht
StGH Niedersachsen
Datum
09.09.2020
Aktenzeichen
StGH 1/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 72229
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

1. Der von der Richterin des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs C mit dienstlicher Erklärung vom 30. Juni 2020 angezeigte Sachverhalt hindert sie nicht an der Ausübung des Richteramtes.

2. Der Antrag auf Ablehnung der Richterin des Niedersächsischen Staatsgerichthofs C vom 31. Juli 2020 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Gründe

I.

Die Antragstellerin beantragt festzustellen, dass die Antragsgegnerin die Unterrichtungspflicht nach Art. 25 Abs. 1 NV dadurch verletzt habe, dass sie den Landtag nicht vor Erlass jeder „Niedersächsischen Verordnung zur Beschränkung sozialer Kontakte anlässlich der Corona-Pandemie“ in der nach der Verfassung gebotenen Art und Weise unterrichtet habe.

Die Richterin C hat mit dienstlicher Erklärung vom 30. Juni 2020 erklärt, dass sie in ihrer Funktion als Rechtsanwältin die Antragsgegnerin bei der Abwehr von Entschädigungsklagen nach Maßgabe des Infektionsschutzgesetzes und anderer Rechtsgrundlagen im Zusammenhang mit Einschränkungen, die sich für die Betroffenen aus den Verordnungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ergeben haben, vertrete. Ressortmäßig sei das Sozialministerium zuständig, das auch federführend ihre Mandate betreue.

Den Beteiligten sowie dem Niedersächsischen Landtag ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

Die Antragstellerin hat daraufhin mit Schreiben vom 31. Juli 2020 ein Ablehnungsgesuch gegen die Richterin C gestellt. Der von Frau C dargelegte Sachverhalt begründe die Besorgnis der Befangenheit. Sie habe im Rahmen ihrer Rechtsvertretung die Rechtmäßigkeit der Corona-Verordnungen insbesondere auch hinsichtlich der Entstehungspraxis zu verteidigen und sich einseitig zugunsten der Antragsgegnerin positioniert. Offen geblieben seien die Anzahl der Mandate und die damit erzielten bzw. zu erwartenden Umsätze. Diese fehlenden Angaben führten zu einem Misstrauen hinsichtlich der Unparteilichkeit. Im Übrigen sei die Befangenheit schon begründet, wenn Frau C die Antragsgegnerin in anderen Angelegenheiten anwaltlich vertrete oder vertreten hätte.

II.

Richterin C ist weder kraft Gesetzes (dazu unter 1.) noch aufgrund von Besorgnis der Befangenheit (dazu unter 2.) von der Ausübung ihres Richteramtes ausgeschlossen.

1. Gemäß § 12 Abs. 1 des Gesetzes über den Niedersächsischen Staatsgerichtshof - NStGHG - vom 1. Juli 1996 (Nds. GVBl. S. 342), zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Oktober 2016 (Nds. GVBl. S. 238), ist auf das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof unter anderem

§ 18 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1724), entsprechend anzuwenden. Nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ist ein Richter des Bundesverfassungsgerichts von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen, wenn er in derselben Sache bereits von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist. Eine solche Tätigkeit in derselben Sache liegt bei der Richterin C nicht vor.

Der Begriff „dieselbe Sache" ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschl. v. 19.1.2004 - 2 BvF 1/98 -, BVerfGE 109, 130, 131 = juris Rn. 5; Beschl. v. 5.12.2019 - 1 BvL 7/18 -, juris Rn.9), der sich der Staatsgerichtshof angeschlossen hat, in einem strikt verfahrensbezogenen Sinne zu verstehen. Das Tatbestandsmerkmal bezieht sich auf das verfassungsgerichtliche Verfahren sowie ein diesem unmittelbar vorangegangenes und ihm sachlich zugeordnetes Verfahren (NdsStGH, Beschl. v. 23.1.2007 - StGH 1/06 -, Nds. StGHE 4, 145, 148 = juris Rn. 13; Beschl. v. 22.10.2012 - StGH 2/12 -, n.v.).

Da es sich bei diesem Verfahren um ein Organstreitverfahren handelt, das die Auslegung des Art. 25 NV betrifft, ist ihm ein Verfahren im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG nicht vorausgegangen. Die Verfahren um Entschädigungen nach dem Infektionsschutzgesetz stehen auch nicht in einem Zusammenhang mit den beim Staatsgerichtshof anhängigen Organstreitverfahren. Gegenstand dieses Verfahrens ist die Frage, ob die Antragsgegnerin den Landtag vor Erlass der Corona-Verordnungen entsprechend der Verfassung unterrichtet hat. Prüfungsmaßstab ist allein die Niedersächsische Verfassung. Die Rechtmäßigkeit der Verordnungen in formeller und materieller Hinsicht ist vom Staatsgerichtshof im anhängigen Verfahren nicht zu prüfen. Die Entscheidung des Staatsgerichtshofs hat auch keinerlei Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Corona-Verordnungen. Die Unterrichtung nach Art. 25 NV regelt den Informationsaustausch zwischen Landtag und Landesregierung und damit das Verhältnis der beiden Verfassungsorgane. Sie ist keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für den Erlass einer Verordnung. Prüfungsmaßstab der Entschädigungsklagen sind das Infektionsschutzgesetz i.V.m. den Corona-Verordnungen und sonstige Schadensersatz- und Entschädigungsnormen.

2. Gemäß §§ 12, 13 NStGHG i.V.m. § 19 BVerfGG berechtigt die Besorgnis der Befangenheit zur Ablehnung eines Mitglieds des Staatsgerichtshofs. Besorgnis der Befangenheit ist gegeben, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.1.2004 - 2 BvF 1/98 -, BVerfGE 109, 130, 132 = juris Rn. 8 m.w.N.; NdsStGH, Beschl. v. 16.6.2006 - StGH 1/05 -, Nds. StGHE 4, 133, 135 = juris Rn. 8; Beschl. v. 23.1.2007 - StGH 1/06 -, Nds. StGHE 4, 145, 149 = juris Rn. 18; Beschl. v. 27.2.2008 - StGH 2/07 -, Nds. StGHE 229, 231 = juris Rn. 11). Bei den Vorschriften über die Besorgnis der Befangenheit geht es darum, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit zu vermeiden (NdsStGH, Beschl. v. 23.1.2007 - StGH 1/06 -, Nds. StGHE 4, 145, 149 = juris Rn. 18). Daher ist es unerheblich, ob das abgelehnte Mitglied des Staatsgerichtshofs tatsächlich befangen ist. Nach diesen Maßgaben geben weder die dem Staatsgerichtshof mit Erklärung der Richterin C vom 30. Juni 2020 mitgeteilten Umstände, die der Staatsgerichtshof ungeachtet der Tatsache, dass sich die Richterin selbst nicht als befangen ansieht, als Selbstablehnung gemäß § 12 Abs. 1 NStGHG i.V. mit § 19 Abs. 3 BVerfGG behandelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.1.2004 - 2 BvF 1/98 -, BVerfGE 109, 130, 132 = juris Rn. 8; NdsStGH, Beschl. v. 23.1.2007 - StGH 1/06 -, Nds. StGHE 4, 145, 149 = juris Rn. 17; Beschl. v. 22.10.2012 - StGH 2/12 -, n.v), noch das Ablehnungsgesuch der Antragstellerin zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit Anlass.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und anderer Landesverfassungsgerichte führt allein der Umstand, dass eine Richterin oder ein Richter in einem anderen Verfahren einen der jetzigen Verfahrensbeteiligten als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt vor Gericht vertreten hat, nicht generell zur Besorgnis der Befangenheit. Vielmehr müssen noch weitere Umstände des Einzelfalles hinzukommen (BVerfG, Beschl. v. 5.2.1997 - 1 BvR 2306/96 u.a. -, BVerfGE 95, 189, 191 f. = juris Rn. 7; Beschl. v. 6.7.1999 - 2 BvF 2/98 u.a. -, BVerfGE 101, 46, 51 = juris Rn. 18; Beschl. v. 19.1.2004 - 2 BvF 1/98 -, BVerfGE 109, 130, 132 = juris Rn. 8 f.; so auch BayVerfGH, Entscheidung vom 7.11.2019 - Vf. 31-VI-19 -, juris Rn.11). Derartige Umstände können vorliegen, wenn zwischen den anderen und dem nunmehr anhängigen Verfahren ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang besteht (vgl. VerfGH RP, Beschl. v. 10.6.2014 - VGH N 29/14 -, juris Rn. 18). Dieser Rechtsprechung schließt sich der Staatsgerichtshof an. Nach § 12 NStGHG i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ist ein Richter per Gesetz von der Ausübung seines Richteramtes nur dann ausgeschlossen, wenn er in derselben Sache bereits von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist. Die Prozessvertretung eines Verfahrensbeteiligten des anhängigen Verfahrens in einem Verfahren mit anderem Verfahrensgegenstand ist davon gerade nicht betroffen. Diese gesetzgeberische Wertung ist bei der Anwendung des § 19 BVerfGG zu berücksichtigen (Lenz/Hansel, BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 19 Rn. 8). Es müssen aus diesem Grund weitere Umstände hinzutreten, um die Besorgnis der Befangenheit zu begründen.

Im vorliegenden Fall besteht zwar ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Vertretung der Antragsgegnerin durch Richterin C in Entschädigungsklagen, denn nach der Erklärung der Richterin hat sie das Mandat erst seit kurzem übernommen. Es fehlt aber an dem weiter erforderlichen sachlichen Zusammenhang. Wie oben dargelegt handelt es sich bei dem anhängigen Organstreitverfahren einerseits und den Entschädigungsklagen andererseits um Verfahren mit gänzlich unterschiedlichen Streitgegenständen und demzufolge unterschiedlichen Prüfungsmaßstäben. Der Ausgang der Entschädigungsklagen steht deshalb in keinem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang mit dem Ausgang dieses Verfahrens. Sonstige Umstände, die hier neben die Tätigkeit der Richterin C als Rechtsanwältin der Antragsgegnerin in anderen Verfahren treten, liegen nicht vor. Auch die Antragstellerin macht derartige Umstände nicht geltend.

III.

Der Niedersächsische Staatsgerichtshof entscheidet gem. den §§ 12 Abs. 1, 13 Satz 1 NStGHG i.V.m. § 19 Abs. 1 und 3 BVerfGG unter Ausschluss des abgelehnten Mitglieds. Eine Vertretung findet in diesem Fall nicht statt.