Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 23.09.2024, Az.: L 16 KR 383/24 B ER
Anspruch auf Gewährung einer Schulbegleitung in Form der außerklinischen Intensivpflege
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 23.09.2024
- Aktenzeichen
- L 16 KR 383/24 B ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 23913
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2024:0923.16KR383.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 23.08.2024 - AZ: S 6 KR 164/24 ER
Rechtsgrundlagen
- § 37c Abs. 1 S. 1 SGB V
- § 86b SGG
Amtlicher Leitsatz
Kein Anspruch auf Gewährung einer Schulbegleitung in Form der außerklinischen Intensivpflege, wenn aufgrund einer Stoffwechselstörung eine besondere Form und Regelmäßigkeit der Ernährung notwendig ist.
In dem Beschwerdeverfahren
A.
- Antragsteller und Beschwerdeführer -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwältin B.
gegen
C.
- Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin -
hat der 16. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 23. September 2024 in Celle durch die Vorsitzende Richterin am Landessozialgericht D., die Richterin am Landessozialgericht E. und den Richter am Landessozialgericht F.
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 23. August 2024 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung einer Schulbegleitung in der Form der außerklinischen Intensivpflege.
Der im Jahre 2015 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Er leidet an einem VLCAD-Enzymmangels (ICD-Code E71.3). Diese angeborene Stoffwechselstörung führt zu einer gestörten Verstoffwechselung langkettiger Fettsäuren, wodurch es ohne entsprechende diätetische Maßnahmen zu lebensbedrohlichen Krankheitszuständen wie Kardiomyopathie, Hepatopathie, Muskelschwäche und Hypoglykämie kommen kann. Solche Symptome treten insbesondere bei katabolen Stoffwechsellagen auf, wie sie etwa durch verlängerte Fastenperioden, Infekte, Operationen oder die Zufuhr von langkettigen Fettsäuren über die Nahrung ausgelöst werden. Zur Vermeidung dieser Zustände ist der Antragsteller auf eine spezielle Diät angewiesen, die regelmäßige Nahrungsaufnahme sowie eine Reduzierung der Zufuhr langkettiger Fettsäuren umfasst. Zudem müssen Fastenperioden vermieden werden, und die Fettzufuhr darf maximal 25 bis 30 % der täglichen Energiezufuhr betragen. Bei akuten Erkrankungen wie Fieber, Durchfall oder Erbrechen ist eine Glukose-Infusion oder die orale Verabreichung von Dextrose-Lösungen (Maltodextrin) erforderlich.
Der Antragsteller ist in Pflegegrad 2 eingestuft und bezieht Pflegegeld. Die Antragsgegnerin bewilligte ihm bereits für das erste und zweite Schuljahr eine Schulassistenz, welche von der gemeinnützigen Gesellschaft für paritätische Sozialarbeit mbH in G. erbracht wurde.
Mit Antrag vom 28. Mai 2024 begehrte der Antragsteller die Übernahme der Kosten für häusliche Krankenpflege für das Schuljahr 2024/2025, beginnend ab dem 5. August 2024, in Form einer Krankenbeobachtung während des Schulbesuchs. Nach den Angaben der behandelnden Kinderärztin Dr H. aus der ärztlichen Verordnung vom 30. April 2024 soll insbesondere auf die regelmäßige Nahrungsaufnahme geachtet und im Falle von Erbrechen Maltodextrin verabreicht werden. Zudem soll dem Antragsteller um 10:00 Uhr und um 12:00 Uhr MCT-Öl verabreicht werden.
Mit Bescheid vom 22. Juli 2024 und korrigierendem Bescheid vom 26. Juli 2024 bewilligte die Antragsgegnerin als Sondervereinbarung häusliche Krankenpflege im Umfang von zwei täglichen Einsätzen des Pflegedienstes während der Schulzeit, um die Gabe des MCT-Öls sicherzustellen. Eine darüberhinausgehende Versorgung sei nicht erforderlich.
Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller am 30. Juli 2024 Widerspruch ein. Zur Begründung trug er vor, dass ihm mit der bewilligten häuslichen Krankenpflege nicht geholfen sei. Die Krankheit zeige sich bei Kindern häufig dann, wenn über einen bestimmten Zeitraum keine Nahrung aufgenommen und so die Energiereserven aufgebraucht werden oder wenn sie aufgrund von körperlicher Betätigung oder Krankheit einen erhöhten Bedarf an Kalorien hätten. Der Blutzuckerspiegel sinke stark ab und verursache Verwirrtheit und Kummer. Das Kind werde schwach, Erbrechen und Krampfanfälle könnten auftreten. Neben der fettarmen Diät und der Zufuhr von MCT-Fett als Energielieferant seien regelmäßige Mahlzeiten ein entscheidender Bestandteil der Therapie. Die Schulbegleitung achte also darauf, dass ausreichend und richtig gegessen werde und ergreife zusätzliche Maßnahmen im Falle des Erbrechens. Über den Widerspruch ist bislang noch nicht entschieden.
Zeitgleich hat der Antragsteller vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Er hat vorgetragen, dass es ohne eine diätetische Behandlung zur Krankheitssymptomen kommen könne, die akut auftreten und lebensbedrohlich sein könnten. Die Dauerbehandlung bestehe aus einer Diät mit häufigen Mahlzeiten zur Vermeidung von Hypoglykämien sowie einer Reduzierung der Zufuhr langkettiger Fettsäuren. Auch nüchterne Perioden müssten vermieden werden und die Fettzufuhr müsse reguliert werden. Mit den bewilligten Leistungen könnten lebensbedrohliche Situationen während des Schulbesuches nicht vermieden werden. Nur mit einer häuslichen Krankenpflege in Form der Schulassistenz könne darauf geachtet werden, dass die Mahlzeiten in genügender Menge eingenommen würden, dass ausreichend Kohlenhydrate aufgenommen würden und dass keine Mahlzeiten verweigert würden. Zu bedenken sei, dass der Antragsteller häufig erbreche. Nach solchen Phasen greife der Körper auf seine Reserven zurück. Dieses seien zunächst Zuckerreserven, die nur kurzfristig Energie liefern könnten. Danach greife der Körper auf die Fettdepots zurück und nutze diese als Quelle; diese Funktion sei bei seinem Körper gestört. Wenn ein solcher Fall eintrete, bestehe für den Antragsteller Lebensgefahr.
Mit Beschluss vom 23. August 2024 hat das SG den Antrag abgelehnt. Die Schulbegleitung könnte im vorliegenden Fall keine behandlungspflegerische Leistung der häuslichen Krankenpflege sein, da es hier um die Einhaltung einer diätischen Ernährung gehe. Sowohl MCT-Öl als auch Maltodextrin seien keine Arzneimittel, sondern diätische Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel bzw Nahrungsersatzmittel. Daher hätte - wie von der Antragsgegnerin zutreffend hervorgehoben - an sich bereits die erteilte Genehmigung für die Medikamentengabe zweimal schultäglich nicht erfolgen dürfen. Es handle sich um die Sicherstellung der Ernährung, was nach Nr 3 des Leistungsverzeichnisses der HKP-Richtlinie der Grundpflege und nicht der Behandlungspflege zugehörig sei.
Gegen den am 23. August 2024 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 10. September 2024 Beschwerde bei dem Sozialgericht eingelegt. Dieses hat die Beschwerde dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen zur Entscheidung vorgelegt. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein erstinstanzliches Vorbringen. Zusammenfassend vertritt er die Auffassung, dass täglich unvorhersehbar lebensbedrohliche Situationen eintreten könnten. Der genaue Zeitpunkt und das genaue Ausmaß könnten vorher nicht bestimmt werden.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 23. August 2024 aufzuheben und
die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller Schulbegleitung als Leistung der außerklinischen Intensivpflege zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und trägt ergänzend vor, dass die begehrte Leistung der Schulbegleitung nicht als Leistung der häuslichen Krankenpflege gewährt werden könne. MCT-Öl und Maltodextrin seien diätische Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel. Insofern hätte die Antragsgegnerin bereits dem Grunde nach nicht die punktuellen Einsätze eines Pflegedienstes genehmigen dürfen. Die Einhaltung eines Diätplanes stelle eine Leistung der Grundpflege dar.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und den Inhalt der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen, die der Entscheidung zugrunde gelegen haben.
II.
Die Beschwerde ist form- und fristgemäß erhoben worden und auch im Übrigen zulässig.
Sie ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig ist rechtmäßig und hält der rechtlichen Überprüfung stand. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf die vorläufige Gewährung außerklinischer Intensivpflege als Schulbegleitung.
Nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Das ist immer dann der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache im Fall des Obsiegens nicht mehr in der Lage wäre (vgl BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1977 - 2 BvR 42/76, BVerfGE 46, 166, 179, 184). Steht dem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Verfahren ist jedoch nur dann zulässig, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (Keller in Meyer/Ladewig-Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl, 2023, § 86b Rn 29 mwN). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden ein bewegliches System, sodass selbst bei einer offensichtlich begründeten Klage ein Anordnungsgrund gegeben sein muss. Denn die Regelung in § 86b SGG dient nicht dazu, Ansprüche "auf der Überholspur" durchzusetzen (vgl Beschluss des Senats vom 1. März 2018 - L 16 KR 41/17 B ER -). Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86b Abs 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen.
Nach Maßgabe dieser Voraussetzungen ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Gemäß § 37c Absatz 1 Sätze 1 und 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege Anspruch auf außerklinische Intensivpflege. Diese Leistung richtet sich an schwerstpflegebedürftige Menschen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10. Juni 2024 - L 16 KR 214/24 B ER).§ 37c SGB V regelt die Pflege von Menschen mit besonders hohem Pflegebedarf, die wegen des medizinischen Fortschritts auch außerhalb von Krankenhäusern und Hospizen gepflegt werden können (Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 37c SGB V, Rn 16). Sie hat das Ziel, die besonderen Bedarfe intensivpflegebedürftiger Versicherter durch Gewährleistung einer qualitätsgesicherten und wirtschaftlichen Versorgung angemessen zu berücksichtigen (Nolte, Kasseler Kommentar, Stand: Dezember 2023, § 37c Rn 3). Demgegenüber ist es nicht Aufgabe der Leistung, eine Kompensation für etwaige Versorgungsdefizite im pädagogisch-erzieherischen Bereich zu erbringen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29. Juli 2024 - L 16 KR 253/24 B ER). Denn die außerklinische Intensivpflege hat ihren Ansatzpunkt in medizinisch begründeten ganz besonderen Pflegenotwendigkeiten. Kinder beim Essen zu beaufsichtigen oder nach dem Erbrechen zu versorgen, ist keine intensivpflegerische Leistung der Behandlungspflege. Diese rechtliche Qualifikation gewinnt die Leistung auch nicht durch das Anreichen gängiger Nahrungsergänzungsmittel aus dem Bereich der Sporternährung wie Maltodextrin und MCT-Öl. Denn es handelt sich dabei um die generelle Sicherstellung der Ernährung, was nach Nr 3 des Leistungsverzeichnisses der HKP-Richtlinie der Grundpflege und nicht der Behandlungspflege zugehörig ist. Dabei ist es unerheblich, dass - wie hier - aus Krankheitsgründen eine besondere Form und Regelmäßigkeit der Ernährung notwendig ist.
Ausgehend von einer an medizinischen Notwendigkeiten ausgerichteten Sichtweise sind die Leistungsvoraussetzungen nicht glaubhaft gemacht.
Ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege liegt vor, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich ist. Gemäß §37c Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 SGB V kann die Intensivpflege auch in einer Schule oder einer Kindertagesstätte erbracht werden. Gemäß § 37c Absatz 1 Satz 8 Nummer 1 SGB V definiert der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), wann ein besonders hoher Bedarf an Behandlungspflege vorliegt. Die Konkretisierung erfolgt in der Richtlinie über die Verordnung außerklinischer Intensivpflege (AKI-Richtlinie), die am 15. September 2023 in Kraft getreten ist.
Gemäß § 4 Abs 1 der AKI-Richtlinie ist die Verordnung von außerklinischer Intensivpflege bei Versicherten zulässig, bei denen wegen Art, Schwere und Dauer der Erkrankung in Schule oder Kindertagesstätte die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft notwendig ist, weil eine sofortige ärztliche oder pflegerische Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar erforderlich werden kann, wobei die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden können.
Mit derartigen Notfällen ist bei Beachtung der erforderlichen diätischen Ernährung des Antragstellers nicht zu rechnen. Eine solche Gefahr ist nicht ansatzweise dargelegt. Vergleichbare in der Vergangenheit eingetretene Notfälle werden nicht beschrieben. Nach der vorgelegten ärztlichen Bescheinigung von Prof Dr I. kann es lediglich bei Nichteinhaltung der diätischen Ernährung zu Krankheitssymptomen kommen. Hieraus ergibt sich jedoch überhaupt nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar lebensbedrohliche Situationen auftreten können, die eine sofortige pflegerische Intervention notwendig machen. Es fehlt an tatsächlichen Anhaltspunkten dafür, dass jederzeit lebensbedrohliche Zustände auftreten. Allein die abstrakte Gefahr des Eintretens einer interventionsbedürftigen Situation führt nicht zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für eine intensivpflegerische Betreuung während des Aufenthalts in der Schule. Mithin kann die Beschwerde keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).