Verwaltungsgericht Osnabrück
Beschl. v. 31.05.2016, Az.: 3 B 8/16
Hospiz; Sonderurlaub
Bibliographie
- Gericht
- VG Osnabrück
- Datum
- 31.05.2016
- Aktenzeichen
- 3 B 8/16
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 43558
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 9a SUrlV ND 2006
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 4. bis zum 18. Juni 2016 Sonderurlaub unter Weitergewährung der Bezüge zu bewilligen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5000 € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Gewährung von Sonderurlaub.
Der Antragsteller ist Polizeibeamter. Seine am 4. November 1991 geborene Tochter D. leidet an der angeborenen und unheilbaren Stoffwechselerkrankung Mucopolysaccharidose Typ III B, die zu einer zunehmenden geistigen und körperlichen Behinderung führt. Die Tochter des Antragstellers ist mit einem Grad der Behinderung von 100 und den Merkzeichen G, aG, B und H als Schwerbehinderte anerkannt; sie kann nicht mehr sprechen, ist auf einen Rollstuhl angewiesen und von der Pflegeversicherung der (höchsten) Pflegestufe 3 zugeordnet (Blatt 13 Beiakte 1).
Seit 2006 wurde dem Antragsteller wiederholt Sonderurlaub, in einigen Fällen unter Wegfall der Bezüge, ganz überwiegend jedoch unter Weitergewährung der Bezüge, zu einer Begleitung seiner Tochter bei Hospizaufenthalten und Ähnlichem bewilligt (Blatt 1 Beiakte 1). Im April 2015 (Blatt 75 Beiakte 1) erfolgte eine nur teilweise Gewährung von Sonderurlaub.
Unter dem 18. April 2016 (Blatt 76 Beiakte 1) beantragte der Antragsteller Sonderurlaub unter Weitergewährung der Bezüge für den Zeitraum vom 4. bis zum 18. Juni 2016. Zur Begründung führte er aus, dass seine Tochter in diesem Zeitraum im Kinderhospiz E. aufgenommen werde und der Begleitung bedürfe. In der Einrichtung würden nur Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis zum 27. Lebensjahr aufgenommen, die unheilbar erkrankt seien, und die nur noch eine begrenzte Lebenserwartung hätten.
Auf dem Antrag hat die Beschäftigungsstelle unter dem 21. April 2016 vermerkt, dass dienstliche Belange der Sonderurlaubsgewährung nicht entgegenstünden (Blatt 76 Beiakte 1).
In einem Vermerk vom 21. April 2016 (Blatt 78 Beiakte 1) heißt es, dass dem Antragsteller in den letzten Jahren wohlwollend Sonderurlaub erteilt worden sei, dass aber aufgrund dienstlicher Gründe der Antrag dieses Mal nicht befürwortet werden könne.
Unter dem 21. April 2016 (Blatt 79 Beiakte 1) wurde der Antragsteller zur Ablehnung seines Sonderurlaubsantrages angehört. Hier heißt es, dass es nicht zutreffe, dass seine – des Antragstellers – Tochter D. nur noch eine begrenzte Lebensdauer von wenigen Monaten erwarten lasse.
Der Antragsteller teilte der Antragsgegnerin und dem 25. April 2016 (Blatt 81 Beiakte 1) mit, dass er einen rechtsbehelfsfähigen Bescheid erbitte.
Unter dem 27. April 2016 (Blatt 82 Beiakte 1) lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Sonderurlaub ab, da die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 9 a Abs. 3 Satz 1 Nummer 3 der Niedersächsischen Sonderurlaubsverordnung nicht vorlägen. Denn die Krankheit der Tochter D. des Antragstellers lasse nicht nach ärztlichem Zeugnis eine begrenzte Lebensdauer von wenigen Monaten erwarten. Der Umstand, dass dem Antragsteller bereits seit dem Jahr 2006 Sonderurlaub unter Weitergewährung der Bezüge für die Begleitung seiner Tochter D. gewährt worden sei, lasse den begründeten Zweifel zu, dass eine begrenzte Lebensdauer von wenigen Monaten zu erwarten sei, denn die Tochter sei immer noch am Leben und es bestehe vielleicht die Hoffnung, dass dies auch weiterhin der Fall sein werde.
Der Antragsteller hat unter dem 26. Mai 2016 die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt. Er ist der Ansicht, dass die für die Ablehnung seines Antrags gegebene Begründung, mit der aufgrund von Urlaubsgewährungen in der Vergangenheit Zweifel an einer tatsächlich begrenzten Lebensdauer seiner Tochter erhoben würden, unter Fürsorgegesichtspunkten zynisch sei. Bei einer derartigen schwersten und unheilbaren Erkrankung wie der seiner Tochter sei per se von einer begrenzten Lebenserwartung von nur noch wenigen Monaten auszugehen. Er – der Antragsteller – wolle seine Tochter auf ihrem Leidensweg engmaschig und bestmöglich begleiten. Nur durch die Herausnahme der Tochter D. aus deren üblicher Umgebung und die gemeinsame Zeit im Kinderhospiz habe er – der Antragsteller - überhaupt die Möglichkeit, mit seiner Tochter noch so etwas wie „gemeinsamen Urlaub“ zu erleben. Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache stehe unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG dem Antragsbegehren nicht entgegen. Er beziehe sich auf eine Bescheinigung des Klinikums F., Chefarzt Prof. Dr. G. vom 25. Mai 2016 (Blatt 8 der Gerichtsakte), in der es heiße, dass das Gesamtkrankheitsbild von D. in höchstem Maße als palliative Situation einzuschätzen sei, dass D. an rezidivierenden Krampfanfällen leide, die dafür sprächen, dass sie bereits in einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung sei, dass die Lebenserwartung von D. mit Sicherheit als sehr begrenzt anzusehen sei und dass bei ihr die klassische Definition der palliativmedizinischen Patientin mit einer schwersten, weit fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Erkrankung, die unweigerlich zum Tod führen werde, eindeutig gegeben sei. Ferner beziehe er - der Antragsteller – sich auf eine Bescheinigung des Internisten Dr. H. vom 24. Mai 2016, wonach bei D. eine lebenslimitierende, unheilbare Erkrankung bestehe, bei der jederzeit mit dem Ableben zu rechnen sei.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller Sonderurlaub nach § 9 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Sonderurlaubsverordnung für die Zeit vom 4. Juni 2016 bis zum 18. Juni 2016 unter Weitergewährung der Bezüge zu bewilligen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie ist der Ansicht, dass trotz der Bewilligungen von Sonderurlaub in der Vergangenheit aufgrund eines Zuständigkeitswechsels die allgemeine Personalknappheit und verstärkt wahrnehmbare Aufgabenverdichtungen in den Fokus der Entscheidung gerückt seien und nun intensiver geprüft worden sei, ob Abwesenheiten von Polizeivollzugsbeamten reduziert werden könnten. Bei der Tochter D. des Antragstellers sei keine begrenzte Lebensdauer von wenigen Monaten zu erwarten, da die Erkrankung von D. „glücklicherweise“ zwar schwer und gravierend und durch akute Zustände gekennzeichnet sei, dass jedoch nicht konkret nur noch mit einer Lebenserwartung von noch wenigen Monaten zu rechnen sei. Die Wahrscheinlichkeit der Gefahr, dass sich ein Ableben von D. binnen weniger Monate realisiere, dürfe nicht im Sinne der Intention des § 9 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 der Sonderurlaubsverordnung vorliegen. Denn andernfalls hätte der Antragsteller seit mehreren Jahren permanent einen Anspruch auf Sonderurlaub.
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze sowie auf die von der Kammer beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
II.
Der Antrag auf Gewährung von Rechtsschutz hat Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Antragsteller muss glaubhaft machen, dass ihm ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit schlechthin unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund, vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung). Dem Wesen und Zweck des Verfahrens entsprechend kann das Gericht mit einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem jeweiligen Antragsteller nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was Klageziel des Hauptsacheverfahrens wäre. Begehrt der Antragsteller die Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung, so kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes – mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Garantie effektiven Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) – ausnahmsweise dann in Betracht, wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und ein Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge hätte (BVerwG, Beschluss vom 26. November 2013, – BVerwG 6 VR 3.13 –, NVwZ-RR 2014, 558 - 560 [BVerwG 26.11.2013 - BVerwG 6 VR 3.13]).
Der Antrag des Antragstellers ist an diesen erhöhten Anforderungen zu messen, die für eine Vorwegnahme der Hauptsache gelten. Denn der Antragsteller begehrt eine derartige Vorwegnahme der Hauptsache. Sein Antrag ist darauf gerichtet, ihm eben diejenige Rechtspositionen – die Bewilligung von Sonderurlaub unter Weitergewährung der Bezüge – zu vermitteln, die er in der Hauptsache mit einem entsprechenden Klagebegehren anstreben kann.
Der Antrag des Antragstellers erfüllt diese erhöhten Anforderungen an den Anordnungsanspruch und an den Anordnungsgrund. Vorliegend ist ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten (2.) und ein Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller hätte schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge (1.).
1. Vorliegend hat der Antragsteller einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht; ihm ist ein Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller unter dem Gesichtspunkt der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes auch in zeitlicher Hinsicht unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG unzumutbar, da dem Antragsteller ohne eine Entscheidung schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile drohen würden. Ohne eine gerichtliche Entscheidung bestünde die Gefahr, dass die Tochter D. des Antragstellers verstirbt, ohne dass über das Bestehen des Anspruchs rechtskräftig entschieden würde.
2. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Es ist schon aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anzustellenden, bloß summarischen Prüfung des Sachverhalts mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die Kammer in der Hauptsache einen Anspruch des Antragstellers auf die Bewilligung von Sonderurlaub unter Weitergewährung der Bezüge judizieren würde. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 9 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 der Niedersächsischen Sonderurlaubsverordnung (Nds. SUrlVO, in der Fassung vom 16. Januar 2006, Nds.GVBl. 2006, 35). Nach dieser Norm soll Urlaub unter Weitergewährung der Bezüge unter anderem zur Pflege eines behinderten Kindes, das auf Hilfe angewiesen ist, gewährt werden, wenn dieses nach ärztlichem Zeugnis an einer Erkrankung leidet, die eine begrenzte Lebensdauer von wenigen Monaten erwarten lässt.
Die Voraussetzungen dieser Norm liegen vor. Die Tochter D. des Antragstellers ist dessen schwerstbehindertes Kind, das – wie sich schon aus der diesem zuerkannten Pflegestufe sowie aus den Merkmalen seiner Behinderung, aber auch aus dem vorliegenden Krankheitsbild unzweifelhaft ergibt – auf Hilfe angewiesen ist. Aufgrund der von dem Antragsteller zu den Gerichtsakten gereichten ärztlichen Zeugnisse, die die Antragsgegnerin – aus welchen Gründen auch immer – im gerichtlichen Verfahren nicht als geeignet angesehen hat, eine begrenzte Lebensdauer von wenigen Monaten als letztes Tatbestandsmerkmal der Norm als in der Person von D. verwirklicht anzusehen, steht für die Kammer auch fest, dass dieses Tatbestandsmerkmal erfüllt ist. Sowohl Herr Prof. Dr. G. als auch der behandelnde Internist Dr. H. haben insoweit bekundet, dass es sich bei D. - wie Prof. Dr. G. formuliert - um eine „palliativmedizinische Patientin mit einer schwersten, weit fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Erkrankung, die unweigerlich zum Tod führen“ wird handelt. Vernünftige Zweifel hieran bestehen auch nach Ansicht der Kammer nicht; solche hat auch nicht etwa die nicht durch besondere medizinische Sachkunde ausgewiesene Antragsgegnerin aufgezeigt. Auch die Kammer teilt vielmehr die Einschätzung, dass die Sichtweise in der angefochtenen Verfügung vom 27. April 2016, dass aus der Gewährung von Sonderurlaub seit 2006 unter gleichen Voraussetzungen, ohne dass D. in der Folgezeit verstorben ist, folge, dass nicht eine begrenzte Lebensdauer von wenigen Monaten zu erwarten sei, unvertretbar wenn nicht sogar zynisch ist. Zu Ende gedacht würde diese Sichtweise bedeuten, dass entgegen dem prognostischen Charakter der genannten Norm, bei dem für das Ergebnis der Prognose ärztliche Zeugnisse erforderlich sind, weil die Behörde regelmäßig nicht über die erforderliche medizinische Sachkunde verfügen wird, ein mehr oder weniger glücklicher oder zufälliger Verlauf einer Erkrankung in der Vergangenheit an die Stelle der ärztlichen Prognoseeinschätzung treten würde. Dies ist in der Norm indes so nicht vorgesehen.
Liegt damit der Tatbestand der Norm offensichtlich vor, so ist zu ergänzen, dass diese auf ihrer Rechtsfolgenseite als sogenannte Soll-Vorschrift ausgestaltet ist. Diese Formulierung als Soll-Vorschrift macht deutlich, dass von dem regelmäßigen Anspruch des Beamten lediglich in atypischen Ausnahmefällen abzusehen und der Ermessensspielraum der Behörde eingeschränkt ist (BVerwG, Beschluss vom 03. März 2016, - BVerwG 7 B 44.15 -, NVwZ 2016, 616 - 618 [BVerwG 03.03.2016 - BVerwG 7 B 44.15]). Für einen derartigen atypischen Ausnahmefall ist für die Kammer nichts ersichtlich und von der Antragsgegnerin auch nicht substantiiert vorgetragen worden; die Kammer weist insoweit ergänzend darauf hin, dass ausweislich der Stellungnahme der Beschäftigungsdienststelle vom 21. April 2016 (Blatt 76 Beiakte 1) auch dienstliche Belange einer Beurlaubung nicht entgegenstehen.
Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob die angegriffene Entscheidung auch dem Fürsorgegedanken als hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums in dem Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG widerspricht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG. Die Kammer hat wegen der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache von einer Halbierung des Regelstreitwertes für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abgesehen.