Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 12.04.1994, Az.: 3 A 140/93

Rechtmäßigkeit der Heranziehung zu Verbandsbeiträgen ; Recht zu Beitragserhebung im Verbandsbeitragsrecht; Inzidenterprüfung der Mitgliedschaft in einem Wasserverband; Bedeutung besonderer Rechtstitel im niedersächsischen Wasserrecht ; Observanz als örtliches Gewohnheitsrecht; Begriff des Privilegs; Besondere Bedeutung von Regalien im Wasserrecht; Behandlung von Nebenläufen eines Flusses

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
12.04.1994
Aktenzeichen
3 A 140/93
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 11105
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:1994:0412.3A140.93.0A

Verfahrensgegenstand

Heranziehung zu Verbandsbeiträgen

Prozessführer

Stadt Lüneburg

Prozessgegner

Wasserverband der Ilmenau-Niederung,

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Im Gegensatz zum Gebührenrecht, wo die Erhebung einer Gebühr stets eine tatsächliche Leistung oder Inanspruchnahme voraussetzt, führt im Verbandsbeitragsrecht über den Vorteilsmaßstab gem. §§ 81 Abs. 1 Satz 3 WVVO, 30 Abs. 1 WVG bereits die Möglichkeit, die Maßnahmen des Verbandes zweckmäßig und wirtschaftlich auszunutzen, zur Beitragspflicht.

  2. 2.

    Das Recht, Beiträge zu erheben, besteht nicht erst im nachhinein. Einen Entstehungszeitpunkt für die Beitragspflicht gibt es deshalb im Verbandsbeitragsrecht nicht. Die Beiträge können daher auch schon zu Anfang eines jeden Jahres berechnet werden.

  3. 3.

    Die Frage der Mitgliedschaft in einem Wasserverband kann neben der Möglichkeit der Überprüfung im Rahmen einer Feststellungsklage gem. § 43 VwGO auch inzidenter im Zusammenhang mit der Anfechtung eines Beitragsbescheides geklärt werden.

  4. 4.

    Unter besonderen Rechtstiteln im niedersächsischen Wasserrecht sind Rechtsakte zu verstehen, die Rechte und Pflichten begründen, die sich nicht schon ohne weiteres aus dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht ergeben.

  5. 5.

    Die Observanz ist örtliches Gewohnheitsrecht, sie setzt voraus, dass der Unterhaltende den Wasserlauf lange Zeit hindurch in der Überzeugung unterhalten hat, hierzu verpflichtet zu sein. Diese ununterbrochene Gewohnheit ist zwar objektiv, aber nur eine allgemeine Rechtsnorm und damit kein besonderer Titel.

  6. 6.

    Begrifflich ist ein Privileg ein Akt der Rechtssetzung, durch den eine Ausnahme von der allgemeinen Rechtsnorm geschaffen wird und die bestimmten natürlichen oder juristischen Personen im Hinblick auf bestimmte Rechtsverhältnisse erteilt wird.

  7. 7.

    Nebenläufe eines Flusses, die aus ihm Wasser empfangen und ihm wieder zuführen, auch wenn sie künstlich hergestellt sind, doch der Selbständigkeit entbehren sind nach preußischem Wasserrecht organische Bestandteile des Hauptlaufes und sind rechtlich nicht anders zu behandeln als der Hauptlauf selbst.

In der Verwaltungsrechtssache
hat die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Lüneburg
auf die mündliche Verhandlung vom 12. April 1994
durch
den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht ...,
den Richter am Verwaltungsgericht ... und
die Richter in am Verwaltungsgericht Göll sowie
die ehrenamtlichen Richterinnen Hella ... und ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 2. Juni 1993 idF des Widerspruchbescheides vom 10. August 1993 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1

I.

Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu Verbandsbeiträgen für das Rechnungsjahr 1993.

2

Die Klägerin ist eine große selbständige Stadt. Der Beklagte ist ein ausgedehnter Unterhaltungsverband iSd Wasserhaushaltsgesetzes.

3

Nach einer im Stadtarchiv der Klägerin vorhandenen Urkunde vom 11. März 1348 ordneten die Herzöge Otto und Wilhelm von Braunschweig und Lüneburg die Schiffahrt und das Zollwesen für die Lüneburger auf der Ilmenau zwischen Lüneburg und Uelzen. Die "Ratleute und die gemeinen Bürger zu Lüneburg" sollten "die Ilmenau zwischen Lüneburg und Uelzen säubern und ausräumen lassen von allen Gegenständen, die denen hinderlich sind, die die Ilmenau auf- und niederfahren" und "die Ufer an beiden Seiten der Ilmenau zwischen Lüneburg und Uelzen, ..., zu ihrem Nutzen in Stand halten und ... vier Plätze anlegen". Mit einer weiteren Urkunde vom 15. April 1407 machten die Herzöge Bernd und Hinrick zu Braunschweig und Lüneburg den Lüneburgern wesentliche Zugeständnisse zu den Arbeiten an der Ilmenau. Nach ihrer Anordnung sollten der Rat und die Bürgerschaft zu Lüneburg "die Brücken und Deiche der Ilmenau bauen und instand halten lassen, so daß die Schiffe ihren freien Weg nehmen mögen".

4

Im Jahre 1961 gab es zwischen den Beteiligten einen Briefwechsel hinsichtlich der Unterhaltung der Ilmenau im Stadtgebiet. Mit Schreiben vom 28. August 1961 schlug der Beklagte der Klägerin vor, es bei der bisherigen Unterhaltung der Ilmenau im Stadtgebiet durch die Klägerin zu belassen, da er, der Beklagte, weder personell noch, finanziell genügend ausgerüstet sei, um die umfangreichen Arbeiten auszuführen. Mit Schreiben vom 18. September 1961 teilte die Klägerin dem Beklagten mit, es sei beschlossen worden, "die Unterhaltungsarbeiten der Ilmenau im Stadtgebiet nach dem Nieders. Wassergesetz auszuführen". Die Stadt werde keinen Antrag auf Übertragung der Unterhaltungspflicht auf sich stellen.

5

Der Beklagte stellte im Jahre 1964 ein Beitragsbuch (veröffentlicht in der LZ vom 19.10.1964) auf, und zwar u.a. auch "für die Stadt Lüneburg (teilweise) - die Grundstückseigentümer im Stadtgebiet Lüneburg sind keine Mitglieder des Verbandes, sondern nur die Stadt mit den beitragspflichtigen Flächen -". Das Beitragsbuch lag in der Zeit vom 20. Oktober bis 19. November 1964 in den Geschäftsräumen des Beklagten aus Rechtsmittel gegen das Beitragsbuch legte die Klägerin nicht ein.

6

Seit Jahren unterhielt die Klägerin einvernehmlich mit dem Beklagten einen Teil der Gewässer II. Ordnung selbst. Die dafür entstehenden Unterhaltungskosten wurden bislang mit dem errechneten, aber bis einschließlich 1992 nie erhobenen Beitrag der Klägerin verrechnet. Die Klägerin wurde mit dem allgemeinen Hebesatz veranlagt. Eine schriftliche Vereinbarung zwischen den Beteiligten bestand nicht.

7

Mit Bescheid vom 2. Juni 1993 zog der Beklagte die Klägerin erstmals zu einem Verbandsbeitrag heran, und zwar in Höhe von 63.764,82 DM. Seiner Berechnung legte er eine beitragspflichtige Fläche von 1882, 1645 ha zugrunde.

8

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. August 1993 zurückwies.

9

Die Klägerin beantragte bei der oberen Wasserbehörde gem. § 106 NWG, sie als selbständige Stadt mit den kreisfreien Städten gleichzustellen und ihr die Unterhaltung der Gewässer II. Ordnung mit öffentlich-rechtlicher Wirkung zu übertragen.

10

Die Bezirksregierung Lüneburg als obere Wasserbehörde setzte ihre Entscheidung über den Antrag der Klägerin nach § 106 NWG bis zur Entscheidung in diesem Gerichtsverfahren aus.

11

Die Klägerin hat am 10. September 1993 Klage erhoben und am 14. September 1993 die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt (3 B 69/93).

12

Zur Begründung trägt sie vor, daß sie weder durch Gesetz noch freiwillig Mitglied des Beklagten geworden sei. Es habe allenfalls eine Scheinmitgliedschaft bestanden. Sie sei kein gesetzlich korporatives Mitglied iSd § 100 Abs. 2 b NWG idF vom 20. August 1990, weil sie gem. § 111 NWG aufgrund eines besonderen Titels nach wie vor selbst die Unterhaltungslast zu tragen habe. Dieser besondere Titel ergebe sich aus den in ihrem Stadtarchiv vorhandenen Urkunden der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg vom 11. März 1348 und vom 15. April 1407. Diese besonderen Titel seien bis heute nicht untergegangen. Es habe kein Übergang der Unterhaltungslast auf den Beklagten stattgefunden. Eine gegebenenfalls fortbestehende Scheinmitgliedschaft sei entsprechend § 24 WVG aufzuheben. Selbst wenn man eine Mitgliedschaft unterstellte, sei sie die Klägerin - möglicherweise nur dingliches Mitglied des Beklagten mit der Folge, daß die zu berücksichtigende Beitragsfläche wesentlich kleiner wäre.

13

Die Klägerin beantragt,

den Beitragsbescheid des Beklagten vom 2. Juni 1993 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 10. August 1993 aufzuheben.

14

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

15

Er erwidert, daß die Klägerin ihm gem. § 100 Abs. 3, Abs. 2 b NWG rechtskräftig als Mitglied zugewiesen worden sei. Schon in seiner ursprünglichen Satzung vom Dezember 1963 sei die Klägerin in I 2 Abs. 1 Buchst. b als Mitglied ausdrücklich aufgeführt worden. Die Mitgliedschaft ergebe sich auch aus dem Schreiben der Klägerin vom 18. September 1961, wonach die Klägerin die Unterhaltungspflicht aufgegeben habe. Bei der Aufstellung des Beitragsbuches im Jahre 1964 seien alle Beteiligten davon ausgegangen, daß die Klägerin korporatives Mitglied des beklagten Unterhaltungsverbandes sei und er aufgrund der Gesetzeslage unterhaltungspflichtig für die im Stadtgebiet gelegenen Gewässer II. Ordnung geworden sei. Die von der Klägerin vorgetragene Unterhaltungspflicht aufgrund besonderen Titels gem. § 111 NWG spiele deshalb für die Frage der Begründung der Mitgliedschaft der Klägerin im Jahre 1964 keine Rolle.

16

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

17

II.

Die Klage ist zulässig und begründet.

18

Der angefochtene Bescheid vom 3. Juni 1993 idF des Widerspruchbescheides vom 10. August 1993 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

19

1.

Rechtsgrundlage für die Heranziehung der Klägerin zu Verbandsbeiträgen für das Rechnungsjahr 1993 ist für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 16. März 1993 einschließlich die Satzung des Beklagten vom 23. Dezember 1963 idF vom 21. Januar 1991 (AmtsBl Regierungsbezirk Lüneburg v. 21.01.1991 Nr. 1) - VBS 1991 - und für den Zeitraum vom 17. März bis zum 31. Dezember 1993 die Satzung des Beklagten vom 11. März 1993 (AmtsBl Regierungsbezirk Lüneburg v. 17.03.1993 Nr. 3) - VBS 1993 -.

20

Weder die VBS 1991 noch die VBS 1993 enthält eine Bestimmung über den Entstehungszeitpunkt des Beitragsanspruches. Im Gebührenrecht ist diejenige Satzung Rechtsgrundlage, die in dem Zeitraum, für welchen Gebühren erhoben werden, Geltung hat. Die Gebührenpflicht entsteht - soweit in der Satzung nicht anders geregelt - erst nach Ablauf des Gebührenzeitraumes. Im Gegensatz zum Gebührenrecht, wo die Erhebung einer Gebühr stets eine tatsächliche Leistung oder Inanspruchnahme voraussetzt, führt im Verbandsbeitragsrecht über den Vorteilsmaßstab gem. §§ 81 Abs. 1 Satz 3 WVVO, 30 Abs. 1 WVG bereits die Möglichkeit, die Maßnahmen des Verbandes zweckmäßig und wirtschaftlich auszunutzen, zur Beitragspflicht. Das Recht, Beiträge zu erheben, besteht nicht erst im nachhinein, etwa nach Ablauf des Haushaltsjahres; einen Entstehungszeitpunkt für die Beitragspflicht gibt es deshalb im Verbandsbeitragsrecht nicht. Die Beiträge können auch schon zu Anfang eines jeden Jahres berechnet werden. Für jedes Rechnungsjahr ist vorher ein Haushaltsplan aufzustellen (§ 65 Abs. 1 Satz 1 WVVO). Der Vorsteher des Verbandes verteilt die Geldsumme, die die Mitglieder des Verbandes nach dem Haushaltsplan aufzubringen haben, auf die Mitglieder in dem im Beitragsbuch angegebenen Beitragsverhältnis und setzt die Beiträge der einzelnen Mitglied in der Hebeliste fest (§ 89 WVVO). Für die Beitragserhebung nach dem Wasserverbandsgesetz gilt im Prinzip nichts anders, was die Ermittlung der Beitragshöhe aufgrund des Haushaltsplanes schon zum Jahresanfang betrifft. Weil der Verbandsbeitrag aber für ein Rechnungsjahr erhoben wird, das nach § 26 VBS 1991/1993 am 1. Januar beginnt, ist es sachgerecht, als Rechtsgrundlagen die Satzungen anzusehen, die im Laufe des Rechnungsjahres in Kraft sind. Im vorliegenden Fall ist im Laufe des Rechnungsjahres 1993 mit dem Inkrafttreten der VBS 1993 am 17. März 1993 die alte VBS 1991 außer Kraft getreten. Weil die neue VBS 1993 keine Rückwirkungsvorschriften enthält, ist die VBS 1991 bis zum 16. März 1993 einschließlich noch Rechtsgrundlage für den Beitragsbescheid; für die Zeit ab 17. März 1993 kann sie keine Rechtsgrundlage mehr sein.

21

2.

Soweit die VBS 1991 für die Zeit vom 1. Januar bis zum 16. März 1993 einschließlich Rechtsgrundlage für die Beitragserhebung ist, ist der angefochtene Beitragsbescheid schon deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte kein dreistufiges Beitragserhebungsverfahren durchgeführt hat. Nach der VBS 1991 erfolgte die Beitragserhebung in drei Stufen, nämlich durch Beitragsbuch, Hebeliste und Hebung (vgl. §§ 36, 39 VBS 1991). Zwar ist ein Beitragsbuch vorhanden, das ordnungsgemäß bekanntgegeben und unanfechtbar geworden ist. Der Beklagte hat jedoch nicht gem. § 39 Abs. 1 und 2 VBS 1991 die Hebeliste bekanntgegeben. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die Hebeliste nicht existent geworden ist. Der angefochtene Beitragsbescheid enthält - im Gegensatz zu Beitragsbescheiden früherer Jahre, die der Kammer aus anderen verfahren bekannt sind - keinen Hinweis darauf, daß es sich dabei auch um einen Hebelistenauszug handelt. Auch die Rechtsmittelbelehrung läßt keinen Schluß darauf zu. Ist die Hebeliste als Verwaltungsakt aber nicht bekannt gegeben worden, ist eine rechtmäßige Hebung nicht möglich (OVG Bremen, Urt. v. 18.08.1971 - IV A 18/70 - in: Wüsthoff/Kumpf, Handbuch des deutschen Wasserrechtes, Rechtsprechungsteil 1989, S. 508 Leitsatz 5). Die Bekanntgabe des Beitragsbescheides ersetzt die Bekanntgabe der Hebeliste nicht.

22

3.

Soweit die VBS 1993 für die Zeit vom 17. März bis 31. Dezember 1993 Rechtsgrundlage des Beitragsbescheides ist, ist das (Hebungs-)Verfahren nicht zu beanstanden. Denn die VBS 1993 setzt ein derartiges dreistufiges Beitragserhebungsverfahren nicht mehr voraus (vgl. § 34 VBS 1993; § 31 Abs. 1 WVG, zum neuen Recht siehe Rapsch, Wasserverbandsrecht, 1993, Rn 285).

23

4.

Die Heranziehung der Klägerin zu Verbandsbeiträgen nach neuem Recht (für das alte Recht gilt nichts anderes, wenngleich es wegen der Ausführungen zu 2. rechtlich nicht mehr darauf ankommt) ist aber deshalb rechtswidrig, weil die Klägerin von Anfang an nicht Mitglied des Beklagten geworden ist, sondern selbst für die Ilmenau und den Lösegraben, die Gewässer II. Ordnung sind, im Stadtgebiet von Lüneburg unterhaltungspflichtig ist.

24

Die Frage der Mitgliedschaft kann - neben der Möglichkeit der Überprüfung im Rahmen einer Feststellungsklage gem. § 43 VwGO - auch inzidenter im Zusammenhang mit der Anfechtung eines Beitragsbescheides geklärt werden (vgl. Rapsch, a.a.O., Rn 230 Rn 11; derselbe, WVVO, Kommentar 1989, § 16 Rn 2).

25

a)

Beim Inkrafttreten des Niedersächsischen Wassergesetzes am 15. Juli 1960 bestand folgende Rechtslage:

26

Der Beklagte ist für die Unterhaltung der Gewässer II. Ordnung ausgedehnt worden (§ 83 Abs. 3 NWG in der ursprünglichen Fassung v. 07.07.1960, jetzt § 100 Abs. 3 NWG, jeweils i.V.m. Abschnitt II der Anlage zum NWG).

27

Absatz 2 Satz 2 der genannten Vorschriften, der gem. Abs. 3 Satz 2 a.a.O. entsprechend gilt, bestimmt:

"Mitglieder dieser neuen Verbände sind:

a)
Die im Verbandsgebiet bestehenden Wasser- und Bodenverbände, zu deren bisherigen Aufgaben die Unterhaltung von Gewässern gehörte,

b)
die Gemeinden, die nach bisherigem Recht zur Unterhaltung eines Gewässers öffentlich-rechtlich verpflichtet waren,

c)
soweit keine verbände bestehen und die Gemeinden zur Unterhaltung nicht verpflichtet waren, die Eigentümer der im Verbandsgebiet gelegenen Grundstücke".

28

Im vorliegenden Fall ist die Klägerin zwar vor dem Inkrafttreten des Nieders. Wassergesetzes am 15. Juli 1960 für die Gewässer II, Ordnung im Stadtgebiet Lüneburg öffentlich-rechtlich unterhaltungspflichtig gewesen, die Unterhaltungspflicht ist aber gleichwohl nicht gem. § 83 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Buchst b NWG aF (§ 100 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Buchst. b NWG nF) auf den beklagten Unterhaltungsverband übergegangen, weil hier die Voraussetzungen der Ausnahmevorschriften der § 83 Abs. 1 i.V.m. § 91 Satz 1 NWG aF (§§ 100 Abs. 1, 111 Satz 1 NWG nF) vorliegen und die Klägerin an die Stelle des beklagten Unterhaltungsverbandes getreten ist.

29

Denn nach § 83 Abs. 1 NWG aF (§ 100 Abs. 1 NWG nF) obliegt die Unterhaltung der Gewässer II. Ordnung den in der Anlage genannten Unterhaltungsverbänden nur dann, wenn sich nicht aus den §§ 86, 87, 90, 91 NWG aF (§§ 105, 106, 110 und 111 NWG nF) etwas anderes ergibt.

30

Im vorliegenden Fall ergibt sich allerdings nichts anderes aus § 106 NWG nF (§ 87 NWG aF). Danach kann zwar die obere Wasserbehörde kreisfreien Städten auf deren Antrag die Pflicht zur Unterhaltung der Gewässer II. Ordnung mit öffentlich-rechtlicher Wirkung übertragen. Ihr Gebiet gehört dann nicht zum Gebiet des Unterhaltungsverbandes. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin bei der oberen Wasserbehörde (der Bezirksregierung) beantragt, sie als große selbständige Stadt mit den kreisfreien Städten gleichzustellen und ihr die Unterhaltung der Gewässer II. Ordnung im Stadtgebiet zu übertragen. Die Bezirksregierung hat jedoch eine Entscheidung über diesen Antrag bis zu einer Entscheidung in dem gerichtlichen verfahren ausgesetzt. Die Voraussetzungen des § 106 NWG nF liegen daher nicht vor.

31

b)

Allerdings sind im vorliegenden Fall die Voraussetzungen der Ausnahmevorschriften des § 91 Satz 1 NWG aF (§ 111 Satz 1 NWG nF) gegeben mit der Folge, daß nicht der beklagte Wasserverband für die Unterhaltung der Gewässer II. Ordnung im Stadtgebiet von Lüneburg zuständig ist, sondern die Klägerin.

32

Ist am 15. Juli 1960 ein anderer als der durch die §§ 82 bis 90 NWG aF (§§ 99 bis 110 NWG nF) Bezeichneter aufgrund eines besonderen Rechtstitels zur Unterhaltung von Gewässerstrecken oder von Bauwerken (Anlagen) im und am Gewässer verpflichtet, so tritt er an die Steile des nach den §§ 82 bis 90 NWG aF (§§ 89 bis 110 NWG nF) Unterhaltungspflichtigen.

33

Die Klägerin ist am 15. Juli 1960 aufgrund besonderer Rechtstitel zur Unterhaltung der Gewässer II. Ordnung im Stadtgebiet von Lüneburg verpflichtet gewesen, so daß sie heute noch anstelle des beklagten Unterhaltungsverbandes unterhaltungspflichtig ist.

34

Unter besonderen Rechtstiteln sind Rechtsakte zu verstehen, die Rechte und Pflichten begründen, die sich nicht schon ohne weiteres aus dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht ergeben (vgl. Haupt/Reffken/Rhode, NWG, Kommentar, Stand: Stand 1993, § 111 Rn 2 mwN). Als besondere Rechtstitel kommen z.B. in Betracht Verleihungen (z.B. nach §§ 46, 56 PrWG), nicht jedoch örtliches Gewohnheitsrecht (Observanz).

35

Die Observanz ist örtliches Gewohnheitsrecht, sie setzt voraus, daß der Unterhaltende den Wasserlauf lange Zeit hindurch in der Überzeugung unterhalten hat, hierzu verpflichtet zu Bein. Diese "ununterbrochene Gewohnheit" ist zwar objektive, aber nur eine allgemeine Rechtsnorm und damit kein besonderer Titel (Holtz/Kreutz, Das Preußische Wassergesetz, 3. und 4. Aufl., Bd. I 1927, Bd. II 1931, hier Bd. I S. 356 f und S. 624 f). Eigentum oder Erlaubnisse, die sich ohne weiteres aus dem Gesetz ergeben, sind allgemeine Rechtstitel. Der besondere oder spezielle Rechtstitel steht im Gegensatz zu den allgemeinen Rechtsnormen. Besondere Rechtstitel sind etwa Privilegien oder Regalien (Holtz/Kreutz, a.a.O., Bd. I S. 356 f, Bd. II S. 589 ff). Begrifflich ist ein Privileg ein Akt der Rechtssetzung, durch den eine Ausnahme von der allgemeinen Rechtsnorm geschaffen wird und die bestimmten - natürlichen oder juristischen - Personen im Hinblick auf bestimmte Rechtsverhältnisse erteilt wird. Unter dem Begriff der Regalien faßte man etwa seit dem 12. Jahrhundert eine Reihe von Rechten zusammen, die ausschließlich dem Könige vorbehalten sein sollten. Im Laufe der Zeit wurden dann die Landesherren Träger der Regalität. Später gab es auch rechtliche Regelungen hierüber: So behandelte das preußische Allgemeine Landrecht die Nutzungen der von Natur schiffbaren Ströme als niedere Regalien. Streng genommen ist ein Regal kein Akt der Rechtssetzung, sondern ein Akt der Verwaltung im Rahmen des allgemeinen Rechtes, der allerdings dem Landesherrn vorbehalten bleibt. Da aber ein großer Teil der regalen Verleihungen aus einer Zeit stammt, in der eine klare Grenze zwischen Rechtssetzung und Verwaltung noch nicht gefunden war, und auch im vorliegenden Bereich des Wasserrechtes aus jenem Unterschied keine unterschiedlichen Folgen herzuleiten sind, braucht - was die Frage des besonderen Rechtstitels angeht - zwischen Regal und Privileg nicht weiter unterschieden zu werden. Im Wasserrechte haben Regalien - was der vorliegende Fall exemplarisch belegt - eine wesentliche Rolle gespielt, insbesondere bei der Benutzung der öffentlichen Wasserläufe. Nach ältestem Rechte standen die Gewässer regelmäßig in der Nutzung der Markgenossen. Durch die Ausdehnung der Regalrechte wurde der Gemeingebrauch eingeschränkt. Durch die Nutzung des Wasserlaufes aufgrund des Regals wurde der gemeine Gebrauch - je nach dem Umfang des Regals - ganz aufgehoben oder doch so weit eingeengt, als die Ausübung des Regals dies erforderte. Wasserrechtliche Regalien betrafen vielfältige Bereiche: Flößerei-, Brücken-, Fähr-, Fischereiregale und Mühlenregale. Auch die Schiffahrt selbst konnte Gegenstand regaler Nutzung sein (Holtz/Kreutz, a.a.O., Bd. II S. 591).

36

Im vorliegenden Fall liegt ein solcher besonderer Rechtstitel vor, nämlich eine regale Verleihung, die sich auf die Ilmenau bezieht.

37

Die Herzöge Otto und Wilhelm von Braunschweig und Lüneburg ordneten mit der Urkunde vom 11. März 1348 die Schiffahrt und das Zollwesen für die Lüneburger auf der Ilmenau zwischen Lüneburg und Uelzen. Sie verpflichteten die Ratleute und gemeinen Bürger zu Lüneburg, "die Ilmenau zwischen Lüneburg und Uelzen säubern und ausräumen zu lassen von allen Gegenständen, die denen hinderlich sind, die die Ilmenau auf- und niederfahren und ... die Ufer an beiden Seiten der Ilmenau zwischen Lüneburg und Uelzen ... zu ihrem Nutzen instand zu halten und ... vier Plätze" anzulegen. Am 15. April 1407 gaben die Herzöge Bernd und Hinrick zu Braunschweig und Lüneburg dem Rat und der Bürgerschaft zu Lüneburg das Recht, die Brücken und Deiche der Ilmenau zu bauen und instand zu halten, so daß die Schiffe ihren freien Weg darauf haben konnten.

38

Der Annahme eines besonderen Rechtstitels steht nicht entgegen, daß die von der Klägerin in Abschrift auszugsweise vorgelegten Urkunden den Begriff der regalen Verleihung, des Privileges oder ähnliches nicht enthalten. Denn dies sind Begriffe der heutigen Zeit. Abgesehen davon ist zu berücksichtigen, daß zum damaligen Zeitpunkt geschriebenes Recht nicht üblich gewesen ist. Die Wahrnehmung allgemeiner Rechte hat sich zumeist aus dem örtlichen Gewohnheitsrecht ergeben, ohne daß es der Schriftform bedurft hätte. Um so stärker ist hier deshalb der Umstand zu bewerten, daß die damaligen Landesherren die Übertragung der Unterhaltungsrechte und -pflichten für die Ilmenau in Form von Urkunden schriftlich fixiert haben. Der Niederlegung dessen, was sich ohnehin aus dem allgemeinen Recht ergab, bedurfte es zweier landesherrlicher Akte nicht, so daß die Urkunden deshalb als regale Verleihungen bzw. Privilegien anzusehen und besondere Rechtstitel iSd § 111 Satz 1 NWG nF (§ 91 Satz 1 NWG aF) sind.

39

Die Frage, ob sich die Urkunden auch für das Stadtgebiet selbst Geltung beimessen, muß bejaht werden, zumindest, was die Urkunde von 1407 betrifft. Der Lüneburger Stadtarchivar Prof. Dr. ... hebt allerdings hervor (Gutachten v. 09.07.1927 in Sachen Realgemeinde Stockte ./. Stadt Lüneburg), daß der Hafen dem Rate unterstand, "wie es scheint, infolge natürlicher Entwicklung, nicht aufgrund besonderer Privilegien, es sei denn, daß die im Stadtrecht von 1247 vorausgesetzte, jedoch nirgends überlieferte Gründungsurkunde der Stadt entsprechende Verfügungen getroffen hat". Zu berücksichtigen ist jedoch die Interessenlage: Die Bedeutung der oberen Ilmenau (nach Uelzen hin) beruhte wesentlich auf der Möglichkeit, die für den Bedarf der Saline erforderlichen großen Holzmengen bequem herbeizuschaffen. Wichtiger noch war der Verkehr flußabwärts, schon um das Salz nach Hamburg, Lübeck und in das ganze Ostseegebiet auszuführen. So wurden 1392 ältere Privilegien bestätigt, die sich auf die Schiffahrt unterhalb Lüneburgs (zur Elbe hin) bezogen. Mit diesen wiederholten Absicherungen früherer Rechte wäre der Standpunkt, die besonderen Rechtstitel hätten sich nicht auf das Stadtgebiet erstreckt, nicht zu vereinbaren. Alle für die Ilmenau im Stadtgebiet getätigten Investitionen machten nur dann Sinn, wenn die Privilegien sich auch auf das Stadtgebiet selbst bezogen. So sind schon in einer Kämmereirechnung von 1320 Ausgaben zum Ausbaggern der Fahrrinne auf der Ilmenau verzeichnet, während 10 Jahre später eine Ausgabe für eine Schleuse bei Lüne belegt ist. Ein Schleusen bau unterhalb des Kaufhauses wird 1409 erwähnt, der Kai beim Fischmarkte wurde 1410 hergestellt. Der Rat er baute und erneuerte nach eigenem Ermessen die Kaufhäuser, deren ältestes um 1300 erwähnt wird, den Kran (1331), er behielt sich den Brückenbau vor (die Lünertorbrücke wurde um 1300 erbaut). Alle diese und auch noch weitere Wirtschaftsvorgänge (vgl. Reinecke, a.a.O., S. 4 f) zeigen, daß der Rat die obrigkeitlichen Befugnisse im Wasserbau auch des inneren Stadtgebietes bis zur Holzhude bei der Warburg, wo der Hafen für die Nachtzeit mit einem Baum und einer Kette geschlossen wurde, in voller Freiheit und ohne jedes Eingreifen der landesherrlichen Gewalt ausübte. Wenn das Stadtgebiet von Lüneburg in den alten Urkunden auch nicht ausdrücklich Erwähnung findet, so ist es doch von ihrem Regelungsbereich mitumfaßt, alles andere würde der damaligen Interessenlage Lüneburgs nicht gerecht werden.

40

aa)

Allerdings ist das Recht der Klägerin aus diesen besonderen Rechtstiteln bereits in historischer Zeit teilweise, nämlich im Hinblick auf die Unterhaltung der Ilmenau außerhalb des heutigen Stadtgebietes von Lüneburg, untergegangen.

41

Regale Verleihungen konnten wie Privilegien durch Verzicht auf das verliehene Recht oder durch Aufhebung enden. Es sind Beendigungen möglich durch Fristablauf (bei befristeten besonderen Rechten), Tod des persönlich Berechtigten oder Wegfall der begünstigten juristischen Person, Aufhebung durch den Landesherren oder Staat oder aber auch durch bloßen Nichtgebrauch während rechtsverjährter Zeit (vgl. Holtz/Kreutz, a.a.O., Bd. II S. 598).

42

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vom 12. April 1994 vorgetragen, daß sie bereits lange vor Inkrafttreten des Preußischen Wassergesetzes die Unterhaltung der Ilmenau außerhalb des Stadtgebiets in Richtung Uelzen nicht mehr durchgeführt hat. Dieser Vortrag wird bestätigt durch zwei im Amtsbuch des Amtes Medingen von 1666 abgedruckte Quellen (überarbeitet von Heinz-Jürgen Vogtherr, 1993, Quellen 330, 348, S. 67, 69). Aus der Quelle 348 geht hervor, daß die Herzöge Heinrich und Wilhelm zu Braunschweig und Lüneburg durch - wie es der Verfasser des Amtsbuches bezeichnet - "Rezeß" 1562 geregelt haben, daß die Lüneburger "der Schiffahrt halben zwischen Lüneburg und Ültzen, derogestalt fallen zu lassen, daß diejenige Schiffahrt hinfürter nicht weiter, den bis gehn Medingen sollen zu gebrauchen haben". Nach der Quelle 330 soll sich in der Zeit vor 1666 der Probst zu Medingen bemüht haben, von Medingen aus bis Lüneburg mit Schiffen zu fahren, wobei aber die Mühle zu Wichmannsburg (bei Bienenbüttel) hinderlich gewesen sei. - Die Mühle zu Wichmannsburg wurde im übrigen von den Lüneburgern 1343 erworben, und zwar vom Kloster Medingen, damit die Lüneburger ohne Behinderung die Schiffahrt betreiben und treideln konnten. Die Mühle ist dann vor 1666 an den Freiherrn von Schwerin gegangen. Der Probst zu Medingen hat die Mühle dem Freiherrn von Schwerin abgekauft, sie abreißen lassen und den Wasserweg dadurch freigemacht. Die Nutzungsrechte des Klosters in "Cemmenaden", die an der Mühle Wichmannsburg bestanden, sind dadurch entschädigt worden, daß das Kloster Medingen sein "Recht und Abnutz" an der "Honkenmühle" abgetreten hat. Der Verfasser des Amtsbuches stellt fest, daß sich die Stadt Lüneburg an den Kosten nicht beteiligt und keinen Ausgleich gewährt hat, und er schließt mit den Worten: "Dahero die frei Schiffahrt auf den erkauften Ellmenowstrohm das Ambt Meding alleine verthediget".

43

Aufgrund des "Rezesses" von 1562 und Nichtgebrauch des Rechtes (und der Pflicht) der Unterhaltung, der als stillschweigender Verzicht gewertet werden kann, sind die regalen Verleihungen der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg aus den Jahren 1348 und 1407 und damit die besonderen Rechtstitel hinsichtlich der Unterhaltung der Ilmenau zwischen der (heutigen) Stadtgebietsgrenze von Lüneburg und Uelzen erloschen.

44

bb)

Im übrigen sind die besonderen Rechtstitel hinsichtlich der Unterhaltung der Ilmenau im Stadtgebiet von Lüneburg weder vor noch durch Inkrafttreten des Preußischen Wassergesetzes untergegangen.

45

(1)

Wie aus dem von der Klägerin vorgelegten Gutachten des Stadtarchivars zu Lüneburg Prof. ... vom 9. Juli 1927 hervorgeht, war im 16. Jahrhundert die Ilmenauschiffahrt, auch soweit sie von Privatpersonen betrieben wurde, eine Angelegenheit der Stadt (S. 19 f). Reinecke stellt fest, daß die Errungenschaften abhängig von der Landesherrschaft waren und sich auf Privilegien stützen mußten, die, "mit den Siegeln der Landesfürsten behängt, bis auf den heutigen Tag im Stadtarchiv wohl verwahrt werden" (S. 23). Er führt aus, daß sich die Stadt Lüneburg in der Zeit zwischen der Zerstörung der Burg auf dem Kalkberg im Jahr 1371 und dem 30jährigen Krieg ungewöhnlicher Selbständigkeit erfreute. Sie schloß Verträge ab mit auswärtigen Fürsten und handelte mit dem eigenen Landesherrn wie eine selbständige Macht, weigerte sich jedoch, einem neuen Herzog zu huldigen, "bevor dieser sich für die Wahrung der Privilegien feierlich verbürgt hatte". Demnach sind die regalen Verleihungen bzw. Privilegien - soweit es das heutige Stadtgebiet von Lüneburg betrifft - erhalten worden. Daß sie nach dem 30jährigen Krieg erloschen wären, ist nicht ersichtlich. Vielmehr geht aus dem von der Klägerin vorgelegten Festschrift für Gerhard Theuerkauf, Recht und Alltag im Hanseraum (Verfasser Lamschuß, S. 328) hervor, daß noch bis in das späte 18. Jahrhundert hinein Holz auf der Ilmenau transportiert wurde und die Schiffer die Flößerei bei der Lüneburger Kämmerei anzeigen mußten. Noch im 19. Jahrhundert stellte die Ilmenau für Lüneburg einen Haupthandelsweg, insbesondere für Salz, Kalk (Zement), Eisen, Heu usw. dar (Ernst Reinstorf, Elbmarschkultur zwischen Bleckede und Winsen, S. 82, 83). Auch in dieser Zeit regelte die Stadt Lüneburg die Ausfuhr der Waren aus der Stadt, so daß ihre Unterhaltungsrechte und -pflichten auf der Ilmenau im Stadtgebiet auch in diesem Zeitpunkt noch bestanden.

46

(2)

Die Rechte der Stadt Lüneburg sind nicht durch das Hannoversche Gesetz vom 22. August 1847 über die Entwässerung und Bewässerung der Grundstücke sowie über Stauanlagen untergegangen. Das Gesetz wurde erlassen von Ernst August, der damals nicht nur König von Hannover, königlicher Prinz von Großbritannien und Irland sowie Herzog von Cumberland war, sondern auch - was der im Zeitpunkt des Gesetzerlasses nahezu 500 Jahre alten Anordnungen von 1348 und 1407 wegen besonders hervorgehoben werden soll - Herzog zu Braunschweig und Lüneburg. § 2 des Gesetzes bestimmt, daß die Instandsetzung und Erhaltung der natürlichen Wasserläufe ("Wasserzüge") den Eigentümern der daran anliegenden Grundstücke obliegt, "sofern nicht etwas Abweichendes rechtsgültig (durch Herkommen usw) feststeht". - Da sich für den Bereich der Stadt Lüneburg ein festes Herkommen aufgrund der ein halbes Jahrtausend bestehenden Verleihungen gebildet und bewahrt hat, ist die Unterhaltungspflicht von vornherein nicht auf die Anlieger der Ilmenau übergegangen, sondern verblieb bei der Stadt als politischer kommunaler Körperschaft.

47

(3)

Die regale Verleihung hinsichtlich der Unterhaltung der Ilmenau im Stadtgebiet von Lüneburg ist auch durch das im April 1913 verkündete und am 1. Mai 1914 in Kraft getretene Preußische Wassergesetz - PrWG - nicht erloschen.

48

Nach § 115 Abs. 1 Nr. 2 PrWG oblag bei natürlichen Wasserläufen II. Ordnung die Unterhaltung des Wasserlaufes den für diesen Zweck zu bildenden Wassergenossenschaften, nach Absatz 2 der Vorschrift waren bis zur Bildung einer Wassergenossenschaft die natürlichen Wasserläufe II. Ordnung von den bisher dazu Verpflichteten zu unterhalten. § 116 Abs. 1 PrWG bestimmte darüber hinaus, daß die Bildung einer Wassergenossenschaft zu unterbleiben hat, wenn der Wasserlauf ebenso zweckmäßig durch den bisher dazu Verpflichteten unterhalten werden kann. Solche Wassergenossenschaft für die Unterhaltung der Ilmenau im Stadtgebiet ist nicht gebildet worden, Vielmehr ergibt sich aus dem von dem Beklagten vorgelegten Schriftwechsel zwischen den Beteiligten aus dem Jahre 1961, daß die Klägerin im Stadtgebiet bis zum Jahre 1961 die Unterhaltung der Ilmenau selbst durchgeführt hat.

49

Von der besonderen Vorschrift des § 116 Abs. 2 PrWG wurde kein Gebrauch gemacht. Danach konnte vom Regierungspräsidenten die Unterhaltung des Gewässers einer Gemeinde oder einer anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaft übertragen werden, wenn die Unterhaltung des Wasserlaufes durch diese ebenso zweckmäßig wie durch eine Wassergenossenschaft erfolgen konnte. In einem solchen Fall - der hier ersichtlich nicht vorliegt - erloschen die Verpflichtungen aufgrund eines besonderen Titels (Holtz/Kreutz, a.a.O., Bd. I S. 594).

50

Die Unterhaltungspflicht ist auch nicht einem Provinzialverband nach § 125 PrWG übertragen worden, die §§ 117, 118 PrWG finden als spezielle Regelungen zur Unterhaltungspflicht für das Gebiet Hessen-Nassau und für das schlesische Auenrecht keine Anwendung.

51

Deshalb gilt für den vorliegenden Fall das, was für das Preußische Wassergesetz anerkannt war: Bei den natürlichen Wasserläufen II, Ordnung, bei denen keine Wassergenossenschaft zur Unterhaltung gebildet wurde (§ 116 Abs. 1) und bei denen auch weder § 116 Abs. 2 noch einer der §§ 117, 118 und 125 Anwendung fand, blieb es hinsichtlich der Unterhaltungspflicht bei dem vorhergehenden Rechtszustande; alle durch Gesetz, Observanzen und besondere Rechtstitel begründeten öffentlich-rechtlichen Unterhaltungspflichten blieben in diesem Falle bestehen (vgl. Holtz/Kreutz, a.a.O., Bd. I S. 623).

52

Damit liegen im Hinblick auf die Ilmenau die Voraussetzungen des § 111 Satz 1 NWG nF (§ 91 Satz 1 NWG aF) vor. Die Klägerin ist selbst innerhalb des Stadtgebietes von Lüneburg für die Ilmenau aufgrund besonderer Rechtstitel unterhaltungspflichtig geblieben. Sie ist im Hinblick auf die Ilmenau nicht gem. § 83 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Buchst b NWG aF (§ 100 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Buchst b NWG nF) Mitglied des beklagten Unterhaltungsverbandes geworden.

53

c)

Die Klägerin ist auch nicht im Hinblick auf den Lösegraben Mitglied des Beklagten geworden.

54

Allerdings: Wäre der Lösegraben ein künstlicher selbständig zu beurteilender Wasserlauf und wäre die Klägerin (entweder als öffentlich - rechtliche Körperschaft oder als Eigentümerin des Lösegrabens) zur Unterhaltung des Wasserlaufes verpflichtet gewesen, und bezögen sich die besonderen Rechtstitel, nicht auf dieses Gewässer, wäre die Klägerin gem. § 83 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 - Buchst b oder c - NWG aF (§ 100 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 NWG nF) Mitglied des beklagten Unterhaltungsverbandes geworden.

55

Jedoch: Der Lösegraben ist unselbständiger Bestandteil der Ilmenau und wird von den besonderen Rechtstitel aus den Jahren 1348 und 1407 umfaßt.

56

Dies ergibt sich aus folgendem:

57

Für das vor Geltung des Preußischen Wassergesetzes bestehende Recht hatten die Gerichte den Grundsatz ausgebildet, daß Nebenläufe eines Flusses, die aus ihm ihr Wasser empfangen und ihm wieder zuführen, auch wenn sie künstlich hergestellt waren, doch der Selbständigkeit entbehrten. Derartige Nebenläufe wurden vielmehr organische Bestandteile des Hauptlaufes und waren rechtlich nicht anders zu behandeln als der Hauptlauf selbst. Das Preußische Oberverwaltungsgericht hat diese Rechtsfrage mehrmals entschieden und an seiner Rechtsprechung konsequent festgehalten (vgl. etwa Urt. v. 24.03.1904 in PrOVGE 45 S. 304; Urt. v. 27.10.1909 in PrOVGE 55, 329; Urt. v. 10.12.1910 in PrVwBl Bd. 33 S. 829 ff). Die Auffassung, daß künstlich hergestellte Wasser betten, "um den Wassermassen ein zweckmäßigeres, für das anstoßende Gelände nutzbringenderes und dasselbe weniger gefährdendes Bett zu verschaffen" die rechtliche Natur des Hauptarmes teilen, hat auch für das Hannoversche Gesetz vom 22. August 1847 Geltung. Dies hat das Preußische Oberverwaltungsgericht in einer Entscheidung vom 21. Februar 1907 (PrVwBl Bd. 29 S. 433) ausdrücklich festgestellt. Ist der Lösegraben nach dem alten Recht wasserrechtlich Teil der Ilmenau, so kommt es nicht darauf an, wie der Graben entstanden ist.

58

Die rechtliche Zugehörigkeit des Lösegrabens zur Ilmenau ist auch nicht durch das Preußische Wassergesetz beseitigt worden. Allerdings sieht § 115 Abs. 1 Ziff. 4 PrWG vor, daß bei künstlichen Wasserläufen der Eigentümer und, wenn sich dieser nicht ermitteln läßt, der Anlieger unterhaltungspflichtig ist, und § 1 Abs. 3 Satz 2 PrWG ergänzt, daß Triebwerkskanäle - Mühlgräben und dergleichen - und Bewässerungskanäle, soweit sie als Wasserläufe anzusehen sind, im Zweifel als künstliche Wasserläufe gelten. Mit diesen Vorschriften wollte sich der preußische Gesetzgeber in bewußtem Gegensatz zu dem früheren Rechte setzen. Bei der Beratung des Gesetzentwurfes traten Zweifel darüber auf, ob die allgemeinen Vorschriften ausreichten, um künstlich angelegte Mühlgräben und ähnliche Abzweigungen eines natürlichen Wasserlaufes von der Zugehörigkeit zum natürlichen Wasser lauf zu lösen und ihnen die Eigenschaft selbständiger Wasserläufe zu sichern. Um dies gegenüber dem früheren Rechte zu erreichen, wurde in § 1 Abs. 3 des Gesetzes der zitierte Satz über Triebwerkskanäle und Mühlgräben eingeführt. Es war die Absicht des Gesetzgebers, Triebwerkskanäle und Bewässerungskanäle, die erkennbar einem eigenen Zwecke neben dem Zweck des Hauptwasserlaufes dienten, als besondere Wasserläufe anzuerkennen und sie einem eigenen Rechte zu unterstellen. Der Gesetzgeber hatte aber nicht die Absicht, auch die übrigen Nebenwasserzüge zu erfassen, die keinem speziellen Sonderzwecke dienstbar sind, sondern lediglich streckenweise einen Teil des Wassers des Hauptlaufes abführen, sei es selbständig, sei es als Umfluter, sei es ständig oder zu mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Zeiten. Für diese übrigen Nebenwasserzüge ist entscheidend, daß sie lediglich den Hauptläufen dienen und diesen als Bestandteile an- oder eingegliedert sind. Die enge Verknüpfung zwischen Haupt- und Nebenläufen ist auch dann gegeben, wenn die Nebenläufe u.U. für die Hauptläufe von erheblicher Bedeutung sind oder werden können. Für derartige unselbständige, keinem speziellen Sonderzwecke dienenden Nebenstrecken hat das Preußische Wassergesetz die wasserrechtliche Zugehörigkeit zum Hauptlaufe nicht gelöst (vgl. zu alledem PrOVG, Urt. v. 20.03.1924, PrOVGE 79 S. 149; Holtz/Kreutz, a.a.O., Bd. I S. 47 f und S. 54 ff, insbes. S. 56). - Danach ist für den vorliegenden Fall festzustellen, daß der Lösegraben keinem selbständigen gesonderten Zwecke diente, wie etwa ein Mühlgraben, ein Triebwerkskanal oder ähnliches. Sicher hat er den Zweck, bei Hochwasser einen Teil des Wassers der Ilmenau abzuleiten, und so eine Schädigung der Ratswassermühle und Abtswassermühle zu verhindern. Diese Funktion einer "Umflutung" hat keinen eigenständigen Zweck, der sich im Verlaufe des Lösegrabens verwirklicht. Der Zweck des Lösegrabens ist vielmehr dienender und dem Zweck der Ilmenau untergeordneter Natur. Als "einfacher Umfluter für den Hauptlauf" der Ilmenau teilt der Lösegraben auch unter Geltung des Preußischen Wassergesetzes die Rechtsnatur der Ilmenau als natürlicher Wasserlauf (zum vergleichbaren Fall eines Burggrabens s. PrOVG, Urt. v. 20.03.1924, a.a.O.).

59

Als unselbständiger Bestandteil der Ilmenau teilt der Lösegraben deren rechtliche Eigenschaft in vollem Umfang und ist damit als von den besonderen Rechtstiteln aus den Jahren 1348 und 1407 mitumfaßt anzusehen. Dies folgt nicht nur aus den dargestellten rechtlichen Erwägungen, sondern auch aus dem Umstand herans, daß bei Abfassung der Regalien der Lösegraben schon als Umfluter existierte (wenngleich nicht im heutigen Ausbauzustand). Der Lösegraben hat seine erste urkundliche Erwähnung am 1. Juni 1299 gefunden, so daß er vom Regelungsbereich der auch für das Stadtgebiet von Lüneburg geltenden Verleihungen erfaßt wird.

60

Die Ausbaumaßnahmen im Bereich des Lösegrabens und der Ilmenau im 19, und möglicherweise auch 20. Jahrhundert sind rechtlich nicht von Belang; in diesem Zusammenhang ist insbesondere auf § 1 Abs. 4 PrWG hinzuweisen, wonach ein natürlicher Wasserlauf auch nach seiner künstlichen Veränderung seine Eigenschaft als natürliches Gewässer nicht verliert.

61

5.

Der Begründetheit der Klage kann auch nicht entgegengehalten werden, die Klägerin sei "Scheinmitglied" und müsse sich bei der Beitragsveranlagung diesen Rechtsschein entgegenhalten lassen.

62

Nach Mitteilung des Beklagten ist die Klägerin nie in einem gesonderen Mitgliederverzeichnis aufgeführt worden. Eine Aufführung im Beitragsbuch (für die Klägerin teilweise aufgestellt 1964) hat nicht die Festlegung der Mitgliedschaft zum Inhalt, sondern im wesentlichen die Zusammenfassung der einzelnen Beitragsflächen. Würde die Unanfechtbarkeit des Beitragsbuches gegenüber dem einzelnen Mitglied bei vorliegen der weiteren Voraussetzungen automatisch die Rechtmäßigkeit der Beitragserhebung zur Folge haben können, könnte eine streitige Mitgliedschaft nie durch Feststellungsklage oder inzidenter durch Anfechtung des Beitragsbescheides geklärt werden können, eine Ansicht, die in der Literatur und Rechtsprechung jedoch nicht vertreten wird.

63

Auch die Aufführung der Klägerin als Mitglied des Beklagten in der ursprünglichen Verbandssatzung von 1963 ist nicht erheblich: Die Klägerin ist nach Änderung der Satzung 1971 nicht mehr als Mitglied aufgeführt worden, so daß jedenfalls seitdem in vollem Umfang ihre Mitgliedschaft geprüft werden kann.

64

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 63.764,82 DM (in Worten: Dreiundsechzigtausendsiebenhundertvierundsechzig Deutsche Mark) festgesetzt.