Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 12.03.2009, Az.: 2 A 124/07
Gebietscharakter; Räume, freiberufliche; Wohngebiet, reines
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 12.03.2009
- Aktenzeichen
- 2 A 124/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 44098
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2009:0312.2A124.07.0A
Rechtsgrundlagen
- 13 BauNVO
- 15 I 1 BauNVO
- 3 BauNVO
Fundstelle
- MedR 2009, 753-755
Tatbestand:
Die Kläger wenden sich gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zum Umbau und zur Erweiterung eines Wohnhauses mit Arztpraxis und zur Herstellung von zehn Einstellplätzen ebenda.
Die Kläger sind jeweils zur ideellen Hälfte Eigentümer des Grundstücks N. Weg x, Flurstück ... der Flur ... der Gemarkung F.. Der Beigeladene ist Eigentümer des Nachbargrundstücks N. Weg ..., Flurstück ... der Flur ... der Gemarkung F.. Er betreibt in dem von ihm bewohnten Einfamilienhaus seit dem 1. März 2005 eine Hals-Nasen-Ohrenarztpraxis. Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 8. "O. südlicher Teil" der Stadt F., der das Baugebiet als reines Wohngebiet ausweist. Gleichzeitig sind eine GRZ und eine GFZ von jeweils 0,2 festgesetzt. Der Planungsträger, die Stadt F., betreibt derzeit ein Planänderungsverfahren, das sich in der Auslegungsphase befindet.
Für die Errichtung seiner Praxis erhielt der Beigeladene unter dem 07. Januar 2004 eine Baugenehmigung. Mit ihr genehmigte der Beklagte eine freiberufliche Nutzfläche von 104,44 m2 bei einer Gesamtnutzfläche von 282,01 m2. Tatsächlich nutzte der Beigeladene eine Fläche von 159,78 m2 zu Praxiszwecken. Nachdem dies bekannt geworden war, stellte der Beigeladene am 27. Juni 2005 den zur streitigen Baugenehmigung führenden Bauantrag. Dieser bezeichnet das Vorhaben als "Umbau und Erweiterung eines Wohnhauses mit Arztpraxis und 10 Einstellplätzen". Es ist ein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren nach § 75a NBauO durchgeführt worden. In der Erklärung des Entwurfsverfassers wird die Baumaßnahme als "Erweiterung des Wohnhauses (Wohnfläche) und Schaffung von 10 Einstellplätzen" bezeichnet. Antragsgegenständliche Baumaßnahmen sind ein "Anbau 1" von 35,97 m2 (Wintergarten und Abstellraum) sowie ein "Anbau 2" von 16,06 m2 (Vergrößerung des Gäste-/Arbeitszimmers). Beide Baumaßnahmen führten bei dem vorgenommenen Flächenvergleich zwischen freiberuflich genutzter und privat genutzter Fläche zu einer Erhöhung der Wohnfläche und im Ergebnis dazu, dass eine Wohnnutzung von mehr als 50 vom Hundert der Gesamtfläche des Hauses erreicht wird.
Im Rahmen dieses vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens stellte der Beigeladene zwei Befreiungsanträge. Der eine nach § 31 Abs. 2 BauGB betraf die Abweichung von der bauplanungsrechtlich verbindlichen GFZ von 0,2. Nach Berechnungen des Beigeladenen beträgt die GFZ 0,39, nach Berechnungen des Beklagten beträgt sie 0,32. Der andere Befreiungsantrag nach § 86 NBauO betraf die teilweise Überbauung von gewidmeten Straßenflächen, die im Bebauungsplan als öffentliche Parkfläche ausgewiesen sind, um dort 10 Einstellplätze zu errichten. Die Stadt F. hat hierzu ihr Einvernehmen erklärt und eine entsprechende Baulast ist am 20. März 2006 in das Baulastenverzeichnis eingetragen worden.
Mit Bescheid vom 06. April 2006 genehmigte der Beklagte die Baumaßnahme "Umbau und Erweiterung eines Wohnhauses mit Arztpraxis und Herstellung von 10 Einstellplätzen". Gleichzeitig erteilte er dem Beigeladenen hinsichtlich der Überschreitung der Geschossflächenzahl durch den südlichen (Anbau 2) und nördlichen (Anbau 1) Erdgeschossanbau sowie hinsichtlich der Nutzung einer festgesetzten "öffentlichen Parkfläche" durch 10 private Stellplätze jeweils eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB.
In dem Begleitschreiben, mit dem den Klägern dieser Bescheid am 20. April 2006 zugestellt worden ist, meint der Beklagte, das Vorhaben des Beigeladenen verstoße nicht gegen § 13 BauNVO. Der Flächenanteil der HNO-Praxis des Beigeladenen liege im Verhältnis zur Wohnfläche unter 50 %. Hinsichtlich der Befreiung von der festgesetzten GFZ von 0,2 führte der Beklagte aus, die Festsetzung der GFZ sei - anders als die der GRZ - hinsichtlich einer geordneten städtebaulichen Entwicklung nur von geringer Bedeutung. Sie habe keine Auswirkungen auf die Größe und Wirkung von Gebäuden, sondern allenfalls auf die Nutzungsintensität - im Wesentlichen bezogen auf die Wohnnutzung. Eine unzumutbare Belästigung durch Einsichtnahme von Patienten auf das klägerische Grundstück trete nicht ein; die Kläger könnten durch Sichtschutz selbst für Abhilfe sorgen und im Übrigen sei ihr Wohnhaus gegenüber der Praxis des Beigeladenen nach hinten versetzt. Hinsichtlich der 10 Einstellplätze mache es für die Zweckbestimmung keinen Unterschied, ob es sich um eine öffentliche oder eine private Parkfläche handele. Ein Anspruch des Nachbarn auf Erhalt dieser Fläche als Grünfläche bestehe nicht.
Gegen diese Baugenehmigung legten die Kläger am 22. Mai 2006 Widerspruch ein, den sie im Wesentlichen damit begründeten, das Bauvorhaben verstoße gegen § 13 BauNVO. Durch den genehmigten Umfang der Erweiterung der Arztpraxis verliere das Einfamilienhaus des Beigeladenen den Charakter eines Wohngebäudes. Es sei damit in einem reinen Wohngebiet unzulässig. Insbesondere diene das Arbeitszimmer im Erdgeschoss der Wohnung des Beigeladenen nicht etwa zu Wohnzwecken, sondern sei vielmehr dem Praxisbetrieb zuzurechnen, so dass die von der Rechtsprechung festgelegte 50-Prozent-Grenze für die gemischte Nutzung eines Gebäudes als Wohn- und Geschäftsadresse im reinen Wohngebiet überschritten werde.
Mit Widerspruchsbescheid vom 04. Mai 2007 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte insbesondere aus, die Baugenehmigung stehe nicht im Widerspruch zu § 13 BauNVO, da das Arbeitszimmer des Beigeladenen zugleich als Gästezimmer genutzt werden solle und deshalb eine überwiegend private Nutzung angenommen werden könne, zumal der ganz überwiegende Teil der mit dem Betrieb der Arztpraxis zusammenhängenden Korrespondenz üblicherweise über das Sekretariat der Praxis abgewickelt werde.
Am 12. Juni 2007 haben die Kläger Klage erhoben.
Zu deren Begründung beziehen sie sich im Wesentlichen auf ihre Widerspruchsbegründung und machen ergänzend geltend, die dem Beigeladenen von dem Beklagten erteilten baurechtlichen Befreiungen verletzten sie ebenfalls in ihren Rechten.
Die Kläger beantragen,
die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 06. April 2006 und den Widerspruchsbescheid vom 04. Mai 2007 aufzuheben sowie die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er wiederholt und vertieft die Argumentation seines Widerspruchsbescheids und trägt ergänzend vor, die Nutzfläche der Arztpraxis sei mit 159,78 m2 kleiner als die Wohnfläche des Einfamilienhauses, die nach der Erweiterung 160,60 m2 betrage, so dass die 50-Prozent-Grenze nicht überschritten sei. Unzumutbare Lärmbelästigungen durch verstärkten Zu- und Abgangsverkehr seien nicht zu erwarten.
Der Beigeladene, der einen Antrag nicht stellt, verteidigt die ihm erteilte Baugenehmigung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 06. April 2006 und sein Widerspruchsbescheid vom 04. Mai 2007 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten ( § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ).
Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verstößt gegen §§ 13, 15 BauNVO; diese Vorschriften sind nachbarschützend. Maßgebliche Rechtsgrundlagen sind die Vorschriften der BauNVO in der Fassung vom 26.06.1968.
Zunächst ist klarzustellen, dass die nicht von der Baugenehmigung vom 7. Januar 2004 gedeckte erweiterte Nutzung von Räumen im Hause des Beigeladenen zu freiberuflichen Praxiszwecken Gegenstand der Baugenehmigung vom 6. April 2006 ist. Den Gegenstand der Baugenehmigung bestimmt gemäß § 71 NBauO der Bauherr mit seinem Bauantrag; zur Konkretisierung bedarf es der Bauvorlagen. Der Bezeichnung des Bauvorhabens des Beigeladenen als "Umbau und Erweiterung eines Wohnhauses mit Arztpraxis" lässt sich nicht mit Eindeutigkeit entnehmen, dass auch die erweiterte Nutzung der Räume zu freiberuflichen Zwecken zur Genehmigung gestellt sein soll. Dass dies im Ergebnis aber so ist, ergibt sich aus den beigefügten Bauvorlagen. Vordergründig geht es nur um zwei Anbauten an das Haus des Beigeladenen. Die angestellte Vergleichsberechnung zwischen freiberuflich und privat genutzten Flächen macht aber nur Sinn, wenn auch die freiberufliche Nutzung insgesamt zur Genehmigung gestellt werden sollte. Dies dürfte auch dem Willen des Bauherrn und des Beklagten entsprechen, die mit dem Bauantrag auf entsprechende Nachbarbeschwerden reagieren wollten. Folglich ist auch die auf 159,78 m2 Grundfläche erweiterte freiberufliche Nutzung des Hauses des Beigeladenen Gegenstand des Bauantrags vom 27. Juni 2005 und damit auch der angefochtenen Baugenehmigung vom 6. April 2006.
Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verstößt gegen § 13 BauNVO 1968.
Der für die Grundstücke der Kläger und des Beigeladenen maßgebliche Bebauungsplan Nr. 8 "O. südlicher Teil" der Stadt F. vom 18. Juni 1968 setzt für diesen Bereich ein reines Wohngebiet fest. Gemäß der §§ 1 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 und 2 BauNVO ist damit der Inhalt des § 3 BauNVO zum Bestandteil des Bebauungsplans geworden. Gemäß § 13 BauNVO sind in den Baugebieten nach §§ 2 bis 9, also auch in reinen Wohngebieten nach § 3 BauNVO, Räume für die Berufsausübung freiberuflich Tätiger zulässig. Zur Abgrenzung von Räumen zu Wohnungen oder Gebäuden nimmt die Kammer Bezug auf die an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts angelehnte Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts. Das OVG führt in seinem Beschluss vom 17.08.2007 -1 LA 37/07-, BauR 2007, 2035 hierzu - erkennbar wie hier ein Einfamilienhaus betreffend - aus:
"Der Senat folgt dabei der vom Verwaltungsgericht auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der einschlägigen Kommentarliteratur beruhenden Berechnung der Wohnflächen im Erdgeschoss im Verhältnis zu den gewerblich genutzten Flächen im Kellergeschoss. Maßgeblich sind zunächst die drei einschlägigen Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Januar 1984 (4 C 56.80 - NVwZ 1984, 236 [BVerwG 20.01.1984 - BVerwG 4 C 56.80] = BRS 42 Nr. 56 = BVerwGE 68, 324 [BVerwG 20.01.1984 - BVerwG 4 C 56.80] ), vom 25. Januar 1985 (4 C 34.81 - ZfBR 1985, 143 = BRS 44 Nr. 47 = NJW 1986, 1004) und vom 18. Mai 2001 (4 C 8.00 - NVwZ 2001, 1284 [BVerwG 18.05.2001 - 4 C 8/00] = DVBl. 2001, 1458 = BRS 64 Nr. 66). Die Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Büroräumen für freiberuflich Tätige in Wohngebieten hat das Bundesverwaltungsgericht in dem zeitlich letzten Urteil unter erneuter Überprüfung seiner Auffassung wie folgt zusammengefasst:
Entscheidend sei, ob bei der Nutzung von "Räumen" durch freie oder ähnliche Berufe der Charakter des Plangebiets verloren gehe. Die Nutzungsänderung müsse den jeweiligen Gebietscharakter wahren. Mit der Beschränkung der freiberuflichen Nutzung auf Räume wolle der Verordnungsgeber verhindern, dass in einem reinen Wohngebiet durch eine zu starke freiberufliche Nutzungsweise - generell - die planerisch unerwünschte Wirkung einer Zurückdrängung der Wohnnutzung und damit einer zumindest teilweisen Umwidmung des Plangebiets eintreten könne. Deshalb dürfe die freiberufliche Nutzung in Mehrfamilienhäusern nicht mehr als die halbe Anzahl der Wohnungen und nicht mehr als 50 % der Wohnfläche in Anspruch annehmen. Im Einzelfall könne die Büronutzung sogar auf wesentlich weniger als 50 % der Wohnungsanzahl oder der Wohnfläche zu beschränken sein; unter besonderen Umständen mögen diese Grenzen auch etwas überschritten werden können. Niemals dürfe jedoch die geänderte Nutzungsweise für das einzelne Gebäude prägend sein. Der spezifische Gebietscharakter müsse - auch für das einzelne Gebäude - gewahrt bleiben.
Zutreffend ist das Verwaltungsgericht auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis gelangt, dass die von der Beklagten genehmigte freiberufliche Nutzung "nicht mehr als 50 % der Wohnfläche" in Anspruch nimmt. Es hat sich dabei in nicht zu beanstandender Art und Weise an der Kommentarliteratur (Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, Loseblatt-Kommentar zum BauGB (Stand: 1. März 2007), § 13 BauNVO, Rdn. 46; § 20 BauNVO, Rdn. 33) und an dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Mai 2001 (1 B 99 652 - BRS 64 Nr. 67) ausgerichtet. Danach ist bei dem Flächenvergleich, aufgrund dessen im Allgemeinen zu entscheiden ist, ob sich eine freiberufliche Nutzung im Sinne von § 13 BauNVO auf "Räume" beschränkt, in der Regel nur auf die Räume des Gebäudes abzustellen, die zum dauernden Aufenthalt objektiv geeignet sind und auch für diesen Zweck genutzt werden sollen. Diesem rechtlichen Ansatz begegnen aus Sicht des Senats keine ernstlichen Zweifel. .... Im Kellergeschoss entfallen die nicht für den dauernden Aufenthalt von Menschen geeigneten Räume wie Eingang, WC, Flur, Öl und Heizen, im Erdgeschoss die Räume WC, Garderobe, Diele, Flur und Bad. Die Gesamtwohnfläche im Keller- und Erdgeschoss beträgt mithin 79,03 m2 + 97,83 m2 = 176,86 m2. Die berufliche Nutzung beschränkt sich demnach auf rund 45 % der Wohnfläche. Sie liegt damit unter der maßgeblichen 50 %-Grenze des Bundesverwaltungsgerichts.
Selbst wenn die so beschriebene 50 %-Grenze hier gewahrt sein sollte, was von der zwischen den Beteiligten umstrittenen Frage abhinge, ob das im Erdgeschoss gelegene Gäste- und Arbeitszimmer vom Beigeladenen ausschließlich privat genutzt wird, ist § 13 BauNVO verletzt. Diese sog. 50 %-Regel wird vom Bundesverwaltungsgericht nicht rechtssatzartig verstanden. Maßgeblich ist in jedem Fall, die Prägung der Wohngebäude in den (reinen) Wohngebieten durch ihre Wohnnutzung zu erhalten. Die vom Beigeladenen unternommene Nutzung seines Hauses als HNO-Praxis wahrt den Charakter eines reinen Wohngebiets nicht mehr, sondern prägt sein Gebäude im Sinne der o.a. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unabhängig vom Verhältnis der privat zur gewerblich genutzten Fläche.
Dies ergibt sich zum einen aus einer rechtlichen Überlegung.
Infolge des Umstands, dass der Beigeladene die freiberufliche Nutzfläche ohne Baugenehmigung von genehmigten 104,44 m2 auf 159,78 m2 ausgeweitet hat und sein Haus nach wie vor so nutzt, vermag er zu einer mehr als 50 %-igen Privatnutzung nur dadurch zu gelangen, dass der Beklagte hinsichtlich der bauplanungsrechtlichen Festsetzung einer GFZ von 0,2 eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilt hat. Denn nur durch die beiden ausschließlich privat genutzten Anbauten, die zu einer solchen Überschreitung führen, gelingt es dem Beigeladenen die 50 %-Grenze einzuhalten. Dem Beklagten mag zuzugestehen sein, dass die Festsetzung der GFZ im Grundsatz - anders als die der GRZ- hinsichtlich einer geordneten städtebaulichen Entwicklung nur von geringer Bedeutung ist und sie keine Auswirkungen auf die Größe und Wirkung von Gebäuden, sondern allenfalls auf die Nutzungsintensität - im Wesentlichen bezogen auf die Wohnnutzung -hat. Führt die Abweichung von der GFZ, wie hier, aber dazu, dass auch die Wirkung des Gebäudes insgesamt eine andere, nämlich freiberuflich geprägte ist, gilt dieser Grundsatz nicht. Denn dann sind, mit Auswirkungen auf die Beurteilung im Rahmen von § 13 BauNVO, die Grundzüge der Planung betroffen, weil die Befreiung dazu führt, dass eine großflächige freiberufliche Praxen in einem ansonsten kleinflächigen reinen Wohngebiet möglich wird. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist die Kammer der Auffassung, dass in einem solchen Fall der Befreiungstatbestand des § 31 Abs. 2 BauGB nicht losgelöst von der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit freiberuflicher Räume nach § 13 BauNVO betrachtet werden kann. Spätestens im Rahmen des bei § 31 Abs. 2 BauGB auszuübenden Ermessens hätte der Beklagte bei der Gewichtung der Nachbarbelange berücksichtigen müssen, dass seine Entscheidung gleichzeitig Auswirkung auf die Beurteilung nach § 13 BauNVO hat. Dies ist nicht geschehen.
Das Gebäude des Beigeladenen hält den spezifischen Gebietscharakter eines reinen Wohngebiets auch tatsächlich nicht ein. Es stellt sich hier vielmehr als auffälliger Fremdkörper dar.
Das Kellergeschoss, das wegen der Hanglage nach außen als Vollgeschoss erscheint und auch den Eingang zur Praxis darstellt, und das Erdgeschoss werden nach außen hin als Teil der HNO-Praxis wahrgenommen. Sie prägen den Eindruck des Hauses. Die privat genutzten Räume des Erdgeschosses treten nach außen hin praktisch nicht in Erscheinung. Daran wird sich nichts ändern, wenn der Wintergarten im rückwärtigen Grundstücksteil errichtet worden ist. Dem ausschließlich privat genutzten Dachgeschoss kommt gegenüber den beiden anderen Geschossen eine prägende Wirkung nach außen ebenfalls nicht zu. Die zu den Akten gereichten Fotos zeigen ferner einen lebhaften Patientenverkehr vor der Praxis, wie er für ein reines Wohngebiet völlig unüblich ist. Auf die Feststellung des Umfangs dieses Verkehrs im Einzelnen, der von Nachbarn des Beigeladenen dokumentiert worden ist, kommt es rechtlich nicht an. Ferner wird die Nutzung des Gebäudes durch die zahlreichen Stellplätze geprägt, die aufgrund des Patientenverkehrs erforderlich werden. So befindet sich einer schon auf dem Grundstück des Beigeladenen neben zwei Garagen. Auch die genehmigten 10 Stellplätze auf der dem Gebäude des Beigeladenen gegenüberliegenden Straßenseite lassen sich der Praxis des Beigeladenen zuordnen und prägen den Eindruck seines Grundstücks mit. Insgesamt wird die Wohnnutzung durch das Gebäude selbst, den Patientenverkehr und die geplanten Stellplätze in unmittelbarer Nähe des Hauses in den Schatten gestellt.
Selbst wenn die freiberufliche Nutzung von § 13 BauNVO gedeckt wäre, verstieße sie dennoch gegen § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO. Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung wäre dann aus diesem Grunde rechtswidrig. Auch dieser Vorschrift kommt nachbarschützende Wirkung zu (vgl. statt aller BVerwG, Urt.v. 13.05.2002 - 4 B 86.01 - ). Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind die in den §§ 2 bis 14 aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Die Vorschrift dient dem Ausgleich der unterschiedlichen Interessen benachbarter Grundstückseigentümer. Diese werden durch § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO gleichsam zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengeschlossen mit der Folge, dass ein Bauherr zwar Beschränkungen im Interesse des Nachbarn hinnehmen muss, zugleich aber auch erwarten kann, dass seine Nachbarn diese Beschränkungen gleichermaßen beachten. Im Hinblick auf das aus dieser Vorschrift folgende subjektive öffentliche Recht auf Bewahrung des Gebietscharakters hat die Bauaufsichtsbehörde deshalb bei der Genehmigung der Nutzung eines Gebäudes als Wohn- und Geschäftsadresse in qualifizierter und zugleich individualisierender Weise auf die schutzwürdigen Interessen der Nachbarschaft Rücksicht zu nehmen und zu berücksichtigen, dass durch eine solche gemischte Nutzung eines Gebäudes im reinen Wohngebiet die schleichende Umwidmung des Plangebiets droht (vgl. BVerwG, Urt.v. 25.01.1985 - 4 C 34.81 ).
Dieser Vorgabe ist der Beklagte bei der Erteilung der im Streit stehenden Baugenehmigung nicht gerecht geworden. Denn der intensive Publikumsverkehr, den die von dem Beigeladenen in dem Umfang der Baugenehmigung betriebene Arztpraxis verursacht, widerspricht im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO der Eigenart des Baugebiets. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass das Nds. Oberverwaltungsgericht in der zitierten Entscheidung vom 17.08.2007 aus dem Umstand, dass die 50 %-Grenze bei der freiberuflichen Nutzung nicht überschritten wird, für den Regelfall geschlossen hat, dass die Nutzung auch gebietsverträglich sei. Von dieser Regel ist im Einzelfall jedoch eine Ausnahme zu machen (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 05.09.2005 -10 A 3511/03 -, BauR 2006, 654). Einen solchen Ausnahmefall hält die Kammer hier für gegeben.
Das Baugebiet "O. südlicher Teil" ist nur auf Stichstraßen zugänglich, so dass es an Durchgangsverkehr völlig fehlt. Demgemäß ist es eine Eigenart des Baugebiets, dass grundsätzlich bloß der einem reinen Wohngebiet adäquate, von den Anwohnern selbst verursachte Verkehr mit seinen typischen Ausprägungen stattfindet. Es widerspricht daher bereits dieser Eigenart des Plangebiets, dass die Arztpraxis des Beigeladenen rein mengenmäßig einen Verkehr verursacht, der sich durch eine Ansammlung von parkenden Fahrzeugen im Bereich der Arztpraxis auszeichnet und durch die typische Nutzung der anderen Grundstücke des Plangebiets grundsätzlich gar nicht verursacht werden kann. Auch die Art, wie der von der Arztpraxis des Beigeladenen verursachte Verkehr stattfindet, widerspricht der Eigenart des Baugebiets. Es handelt sich auch keineswegs mehr um den für eine freiberufliche Praxis typischen An- und Abfahrtsverkehr. Die von dem Beigeladenen betriebene Praxis verfügt über vier Behandlungsräume und ist damit überdurchschnittlich groß. Sie befindet sich in einem abgelegenen Baugebiet, das nicht an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen ist. Deshalb wird die Praxis sowohl von Mitarbeitern wie auch von Patienten in der Regel mit Kraftfahrzeugen angefahren. Im Hinblick auf die für die Praxisnutzung genehmigte Geschossflächenzahl ist dem Beigeladenen bereits mit der Baugenehmigung aufgegeben worden, zehn praxisbezogene Einstellplätze herzustellen, während Arztpraxen in reinen Wohngebieten üblicherweise nur über drei bis vier Einstellplätze verfügen.
Außerdem geht der Einzugsbereich der Praxis weit über das Baugebiet hinaus, so dass es vielen der Patienten des Beigeladenen an der erforderlichen Ortskenntnis fehlt, was zu zusätzlichen Verkehrsbewegungen im Baugebiet führt. Schließlich behandelt der Beigeladene fachbedingt zu einem erheblichen Teil ältere Patienten, die häufig zur Praxis gebracht und später wieder abgeholt werden, so dass sich der Fahrzeugverkehr insoweit verdoppelt. Bereits dieses im Hinblick auf die Eigenart des Baugebiets in jeder Hinsicht untypische Verkehrsaufkommen durch an- und abfahrende Fahrzeuge führt zu einer Verfremdung der festgesetzten Gebietstypik des Plangebiets, ohne dass es noch auf individuelle Belästigungen oder Störungen der Kläger ankommt, von denen sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung berichtet haben. Diese sind für eine Verletzung des Anspruchs auf Gebietsverträglichkeit baulicher Anlagen im reinen Wohngebiet nicht erforderlich, denn der Nachbarschutz aus der Festsetzung eines Baugebiets geht weiter als der Schutz aus dem Rücksichtnahmegebot des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO (vgl. BVerwG, Urt.v. 03.02.1984 - 4 C 17.82; BVerwGE 68, 369, 375 ff. ). Gegen den partiell drittschützenden Gehalt des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO und damit gegen ein subjektives öffentliches Recht der Kläger verstößt die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung insoweit, als die Kläger Eigentümer des unmittelbar an das Grundstück des Beigeladenen angrenzenden Grundstücks und damit Nachbarn im Sinne des Baurechts sind; die Kläger sind deshalb durch den Betrieb der Arztpraxis in dem genehmigten Umfang in ihrem Planerhaltungsanspruch verletzt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Da der Beigeladene einen Antrag nicht gestellt hat und sich folglich einem eigenen Kostenrisiko nicht ausgesetzt hat und weil er in der Sache unterliegt, entspricht es nicht der Billigkeit, seine außergerichtlichen Kosten für erstattungsfähig zu erklären.
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO notwendig, da die klagende Partei der rechtskundigen Unterstützung bedurfte, um ihre Rechte und Ansichten gegenüber der staatlichen Verwaltung ausreichend zu vertreten.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.