Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 13.08.2020, Az.: 2 B 205/20

Abschiebungsanordnung; Corona-Pandemie; Überstellungsfrist

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
13.08.2020
Aktenzeichen
2 B 205/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 72068
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die coronabedingte Aussetzung der Abschiebungsanordnung durch das BAMF hemmt/unterbricht nicht den Lauf der Überstellungsfrist.

Tenor:

In Abänderung des Beschlusses vom 08.10.2019 im Verfahren 2 B 221/19 wird die aufschiebende Wirkung der Klage 2 A 220/19 gegen die im Bescheid des Bundesamtes vom 15.08.2019 enthaltene Abschiebungsanordnung angeordnet.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht auf Grund der früheren Mitteilung und der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung abgeschoben werden darf, hat in der Sache Erfolg.

Der Antrag ist allerdings nicht als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft (§ 123 Abs. 5 VwGO), weil die Abschiebungsanordnung im angefochtenen Bescheid vom 15.08.2019 nicht bestandskräftig ist. Zwar wurde ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die Abschiebungsanordnung mit Beschluss vom 08.10.2019 (2 B 221/19) abgelehnt. Über die von der Antragstellerin rechtzeitig erhobene Klage (2 A 220/19) gegen den Bescheid vom 15.08.2019 ist jedoch noch nicht in der Sache entschieden worden.

Der Antrag kann indes in einen – zulässigen – Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 08.10.2019 (2 B 221/19) gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO umgedeutet werden. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Abänderung oder Aufhebung eines Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

Der zulässige Antrag ist auch begründet.

Voraussetzung für einen Anspruch auf Abänderung eines Beschlusses gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist, dass sich die Umstände verändert haben, die die entscheidungstragenden Erwägungen des abzuändernden Beschlusses betreffen (OVG Münster, Beschl. v. 27.07.2015 - 12 B 800/15 - juris; Kopp/ Schenke, VwGO, 19. Aufl., § 80 Rn. 197). Zu prüfen ist daher, ob die veränderten Umstände zu einer von der im vorhergehenden Verfahren abweichenden Entscheidung führen können. Das ist hier der Fall.

Veränderte Umstände liegen insoweit vor, als der Asylantrag der Antragstellerin mit Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht (mehr) gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG unzulässig ist. Dem liegen folgende rechtliche Erwägungen zugrunde:

Die Abschiebung der Antragstellerin nach Spanien ist rechtlich nicht mehr möglich, weil die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO abgelaufen ist. Die Antragstellerin kann sich auf den Fristablauf auch berufen; Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 Dublin III-VO schützt subjektive Rechte der Antragstellerin im Dublin-Verfahren (vgl. EuGH, Urteil vom 07.06.2016 – C-63/15 –, juris). Nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung eines Antragstellers oder einer anderen Person im Sinn des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe c oder d Dublin III-VO aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder ein Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat.

Wie oben dargestellt wurde ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 15.08.2019 mit Beschluss vom 08.10.2019 (2 B 221/19) abgelehnt, wodurch der Lauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO dadurch unterbrochen worden ist. Einem solchen Antrag kommt aufschiebende Wirkung im Sinne von Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO zu. Er löst kraft Gesetzes ein Überstellungsverbot nach § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG, Art. 27 Abs. 3 c) Satz 2 Dublin III-VO aus und zwar unabhängig davon, ob der Eilantrag anschließend Erfolg hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 17; BVerwG, Beschluss vom 27.04.2016 – 1 C 22.15 – juris Rn. 18 ff.). Spätestens mit Bekanntgabe des ablehnenden Eilbeschlusses vom 08.10.2019 an die Beteiligten am 09.10.2019 wurde die sechsmonatige Überstellungsfrist erneut in Gang gesetzt. Das Eilverfahren führte nicht lediglich dazu, dass der Fristablauf gehemmt war, weil den Mitgliedstaaten eine zusammenhängende Frist von sechs Monaten für die Überstellung zur Verfügung stehen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.05.2016 – 1 C 15.15 – juris Rn. 11). Ein weiterer Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung im Sinne von Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO lag nicht vor, weil die weiterhin anhängige Klage (2 A 220/19) der Antragstellerin nach § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung hatte.

Die damit spätestens am 09.04.2020 um 24 Uhr endende Überstellungsfrist von sechs Monaten ist abgelaufen. Sie wurde entgegen der von der Antragsgegnerin vertretenen Ansicht auch nicht durch die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter Berufung auf § 80 Abs. 4 VwGO und Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO mit Schreiben vom 25.03.2020 vorübergehend angeordnete (und am 20.07.2020 widerrufene) Aussetzung der Vollziehung wegen der Corona-Krise unterbrochen.

Zwar können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit wird im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet, nach dessen Satz 1 die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, in den Fällen des Entfallens der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 2 VwGO die Vollziehung aussetzen kann, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO durch die Behörde ist dabei generell geeignet, die in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen (BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 19, und vom 09.08.2016 - 1 C 6.16 -, juris Rn. 189).

Die Aussetzung der Vollziehung erging hier jedoch nicht auf Grundlage des § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO. Denn die Aussetzung diente nicht dem mit Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 26 m.w.N.).

Erfolgte die Aussetzungsentscheidung - wie hier - allein als Reaktion auf temporäre Schwierigkeiten bei der Überstellung aufgrund der COVID-19-Pandemie und der damit unionsweit erlassenen Einreisebeschränkungen, ohne dass dies der rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung diente, bewegt sich die Aussetzungsentscheidung nicht in dem von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgegebenen Rahmen. Sie diente damit nicht dem Zweck, dem Antragsteller die Möglichkeit zu gewähren, effektiven Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, oder dem Zweck, dass das Bundesamt seine Entscheidung überprüft (VG Münster Beschluss vom 28.07.2020 – 8 L 523/20.A -, juris Rn. 17; ebenso: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 8; VG Aachen, Urteil vom 10.06.2020 - 9 K 2584/19.A -, juris Rn. 58; VG Münster, Beschluss vom 22.05.2020 - 8 L 367/20.A -, juris Rn. 13; VG Düsseldorf, Beschluss vom 18.05.2020 - 15 L 776/20.A -, juris Rn. 18; a. A. VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 - 28 L 203/20.A -, juris Rn. 14).

Die Aussetzung der Vollstreckung durch das Bundesamt aufgrund der Corona-Krise ist hier vielmehr – anders als in der zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.01.2019, wo die Aussetzung aufgrund der zeitlichen Dauer des gerichtlichen Verfahrens über die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung angeordnet worden war – allein der fehlenden praktischen Durchführbarkeit der Überstellung geschuldet und nicht der Notwendigkeit einer Klärung der für den Erlass der Überstellungsentscheidung maßgeblichen Zuständigkeit nach den Regelungen der Dublin III-VO (vgl. VG Düsseldorf, a.a.O., juris Rn. 18).

Diese Einschätzung korrespondiert auch mit den von der Kommission in ihrer Mitteilung vom 17.04.2020 (Amtsblatt der Europäischen Union C 126/12) zu Covid-19 erteilten Hinweisen zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl-und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung. Danach ist unter Ziffer 1.2 der Mitteilung für Dublin-Überstellungen ausdrücklich vorgesehen, dass die Zuständigkeit nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf den ersuchenden Mitgliedsstaat übergeht, wenn die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedsstaat nicht innerhalb der geltenden Frist durchgeführt wird, weil keine Bestimmung der Dublin III-VO erlaubt, in einer Situation wie der sich aus der Covid-19-Pandemie ergebenden von dieser Regel abzuweichen (VG Düsseldorf, a.a.O., juris Rn. 20).

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein hat zu der streitigen Frage, ob die im nationalen Recht vorgesehene Aussetzungsentscheidung (§ 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO) die Aussetzung der sechsmonatigen Überstellungsfrist bewirken kann, mit Beschluss vom 09.07.2020 (1 LA 120/20) zutreffend weiter ausgeführt:

„Bereits dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO lässt sich mit der Bezugnahme auf den Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung entnehmen, dass mit der mitgliedstaatlichen Aussetzungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine rechtliche Prüfung der Überstellungsentscheidung verbunden sein muss. Nach dem Wortlaut bestimmt der Abschluss dieser Prüfung den Zeitpunkt, bis zu dem die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt werden kann.

Ferner macht die Überschrift des Art. 27 Dublin III-VO („Rechtsmittel“ bzw. „Remedies“ oder „Voies de recours“) sowie dessen systematische Einordnung in den Abschnitt IV der Verordnung („Verfahrensgarantien“ bzw. „Procedural safeguards“ oder „Garanties procédurales“) deutlich, dass Ziel der Vorschrift die Gewährleistung der Möglichkeit einer rechtlichen Prüfung der mitgliedstaatlichen Überstellungsentscheidung und damit eines effektiven Rechtsschutzes für die Antragsteller und andere Personen im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe c oder d Dublin III-VO ist.

Darüber hinaus ist bei der Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO neben dem Wortlaut und der systematischen Stellung insbesondere auch das Dublin-System insgesamt zu berücksichtigen (vgl. zur Auslegung von Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO EuGH, Urteil vom 07.06.2016 – C-63/15 –, Rn. 35, juris, m.w.N). Dieses ist von einem Beschleunigungsgedanken geprägt (vgl. Erwägungsgrund 5), der mit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in einem Spannungsverhältnis steht (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 07.06.2016 – C-63/15 –, Rn. 56 f., juris; BVerwG, Urteil vom 08.012019 – 1 C 16.18 –, Rn. 26, juris; Berlit, jurisPR-BVerwG 5/2019 Anm. 4).

Auch mit Blick auf Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ist eine Auslegung geboten, die den genannten widerstreitenden Interessen Rechnung trägt. Eine Aussetzung des Vollzugs der Überstellungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO, die den Fristbeginn nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO verzögert, kann demnach nur im Sinne der Gewährung effektiven Rechtsschutzes, d. h. mit der Zielsetzung einer rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung vorgenommen werden.“

Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich das Gericht an und macht sie sich zu eigen. Dies zugrunde gelegt, ist davon auszugehen, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist am 09.04.2019 um 24 Uhr abgelaufen ist, und die Antragsgegnerin im nationalen Verfahren zu entscheiden hat, Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.