Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 31.01.2013, Az.: 10 K 233/12
Voraussetzungen für eine Verpflichtung des Finanzamts zum Ruhenlassen von Einsprüchen bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 31.01.2013
- Aktenzeichen
- 10 K 233/12
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2013, 52209
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2013:0131.10K233.12.0A
Rechtsgrundlagen
- § 363 Abs. 2 S. 1, 2 AO
- Art. 6 EMRK
- Art. 46 EMRK
Amtlicher Leitsatz
Es besteht keine Verpflichtung des Finanzamts, Einsprüche bis zur Entscheidung des EGMR in den Verfahren 7227/11 und 7258/11 ruhen zu lassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Beklagte (das Finanzamt -FA-) berechtigt war, über einen Einspruch des Klägers zu entscheiden oder ob das Einspruchsverfahren nach § 363 der Abgabenordnung (AO) hätten ruhen müssen.
Die Kläger sind Eheleute und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielt unter anderem als Arzt Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit. Mit Bescheid vom 12. Dezember 2011 veranlagte das Finanzamt die Kläger erklärungsgemäß zur Einkommensteuer 2010.
Mit Einspruch vom 3. Januar 2012 macht der Kläger Rechtsbedenken dagegen geltend, dass "normale" Steuerpflichtige für eine Freistellung ihrer Einkünfte den Nachweis sämtlicher beruflicher oder betrieblicher Aufwendungen erbringen müssten, während Bundestagsabgeordnete ohne Nachweis eine steuerfreie Aufwands-/Kostenpauschale in Höhe von ca. 30 % ihrer Gesamtbezüge erhielten. Dies stelle Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der europäischen Menschrechtskonvention (EMRK) sowie das Recht auf Schutz des Eigentums gem. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot aus Artikel 14 EMRK dar. Diesbezüglich seien zwei entsprechende Beschwerden beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unter den Aktenzeichen 7258/11 und 7227/11 anhängig. Diese Verfahren seien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und nach Artikel 46 EMRK für alle gleichgelagerten Fälle in Deutschland von Bedeutung. Weiterhin erklärten sich die Kläger mit einem Ruhen des Einspruchsverfahrens gem. § 363 Abs. 2 Satz 1 AO aus Zweckmäßigkeitsgründen einverstanden.
Das FA stellte die Erledigung der Einsprüche unter Hinweis auf gleichgelagerte Verfahren beim Bundesfinanzhof (BFH) unter den Aktenzeichen X B 182 - 184/11 zurück. Nachdem diese Nichtzulassungsbeschwerden durch Beschlüsse vom 10. Mai 2012 als unbegründet zurückgewiesen worden waren, teilte das FA den Klägern mit, dass das Einspruchsverfahren nunmehr fortgeführt werde, da ein weiteres Ruhen des Verfahrens weder nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO noch nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO gerechtfertigt sei. Auch sei die Rechtsfrage, ob die Abgeordnetenpauschale auf alle Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit anzuwenden sei, bereits abschlägig entscheiden; dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerden seien vom BVerfG als unbegründet zurückgewiesen worden.
In ihrem Antwortschreiben vom 28. August 2012 äußerten die Kläger ihr Unverständnis, warum die Finanzverwaltung die Urteile des EGMR in dieser Angelegenheit nicht abwarten könne. Weitere Anträge stellten die Kläger im Einspruchsverfahren nicht. Daraufhin wies das FA den Einspruch am 18. September 2012 als unbegründet zurück. In der Einspruchsentscheidung führt das Finanzamt aus, dass die beantragte steuerfreie Kostenpauschale nicht gewährt werden könne und ein weiteres Ruhen des Verfahrens wegen der beim EGMR anhängigen Verfahren weder nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO noch nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO in Betracht komme.
Mit der hiergegen erhobenen Klage begehren die Kläger die Aufhebung der Einspruchsentscheidung und eine Verpflichtung des FA, dass Einspruchsverfahren ruhen zu lassen. Zur Begründung berufen sich die Kläger im Klageverfahren erstmals auf die beim BFH anhängigen Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren mit den Aktenzeichen VI B 99/12 und VI B 101/12. Gegenstand dieser Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren sei die Frage, ob das Ruhen von Einspruchsverfahren anzuordnen sei, wenn die streitige Rechtsfrage im Rahmen eines Musterbeschwerdeverfahrens beim EGMR anhängig sei. Die Kläger sind der Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine Zwangsruhe und eine Zweckmäßigkeitsruhe von entsprechenden Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AO nunmehr im Hinblick auf die Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren beim BFH erfüllt seien.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
die Einspruchsentscheidung zur Einkommensteuer 2010 vom 18. September 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dass Einspruchsverfahren bis zur Entscheidung des EGMR in den Verfahren 7227/11 und 7258/11 ruhen zu lassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält an seiner in der Einspruchsentscheidung vertretenen Rechtsauffassung fest.
Entscheidungsgründe
I. Die Klage ist unbegründet. Die angefochtene Einspruchsentscheidung ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung -FGO-). Das FA war nicht verpflichtet, den Einspruch bis zur Entscheidung des EGMR in den Verfahren 7227/11 und 7258/11 ruhen zu lassen.
1. Das FA durfte die angefochtene Einspruchsentscheidung erlassen. Das Einspruchsverfahren ruhte nicht zwangsweise nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO.
Nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO ruht das Einspruchsverfahren, wenn wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei dem europäischen Gerichtshof, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht anhängig ist und der Einspruch hierauf gestützt wird.
a) Soweit die Kläger die Ansicht vertreten, dass die von ihnen im Einspruchsverfahren genannten Verfahren vor dem EGMR zur Zwangsruhe des Einspruchsverfahrens hätten führen müssen, da es sich bei dem EGMR um einen europäischen Gerichtshof im Sinne des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO handele, folgt das Gericht dem nicht. Denn mit dem in § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 AO genannten "Europäischen Gerichtshof" ist der EuGH in Luxemburg, nicht aber der EGMR gemeint (vgl. BFH-Beschluss vom 10. Mai 2012 X B 183/11, BFH/NV 2012, 1570 [BFH 10.05.2012 - X B 183/11]). Daher begründeten die von den Klägern im Einspruchsverfahren genannten Bezugsverfahren vor dem EGMR keine Zwangsruhe im Sinne des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO.
b) Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass sich die Kläger im Klageverfahren zur Erreichung der Zwangsruhe nunmehr auch auf die beim BFH anhängigen Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (VI B 99/12 und VI B 101/12) berufen. Insoweit kann dahinstehen, ob Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren überhaupt geeignet sind, als sogenanntes Musterverfahren eine Zwangsruhe im Sinne des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO zu bewirken.
Tatbestandliche Voraussetzung der Zwangsruhe ist in jedem Fall, dass die Einspruchsführer ihren Einspruch auf die von ihnen genannten Verfahren stützen. Dabei muss sich der Einspruchsführer in der Einspruchsbegründung auf das von ihm zu bezeichnende konkrete Musterverfahren berufen (Pahlke in Pahlke/Koenig, Kommentar zur Abgabenordnung, § 363, Rd.-Nr. 48 m.w.N.). Es genügt nicht, dass das Musterverfahren lediglich bereits anhängig ist (BFH-Urteil vom 27. April 2006 IV R 18/04, BFH/NV 2006, 2017 [BFH 27.04.2006 - IV R 18/04]). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Denn unabhängig von der Frage, ob die Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren bereits während des Einspruchsverfahrens anhängig waren, haben sich die Kläger auf diese im Einspruchsverfahren jedenfalls nicht berufen. Daher kommt eine Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO im Hinblick auf die Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht in Betracht.
2. Das Finanzamt war auch nicht verpflichtet, das Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO ruhen zu lassen.
Nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde das Verfahren mit Zustimmung des Einspruchsführers ruhen lassen, wenn das aus wichtigen Gründen zweckmäßig erscheint. Da es sich bei § 363 Abs. 2 Satz 1 AO um eine Ermessensvorschrift handelt, ist deren Anwendung durch die Finanzverwaltung vom Gericht nur in dem durch § 102 FGO genannten eingeschränkten Umfang zu überprüfen. Konkrete Ermessensfehler sind aber weder von den Klägern vorgetragen worden, noch sind solche aus den Akten ersichtlich. Insbesondere führen die von den Klägern im Einspruchsverfahren genannten Verfahren vor dem EGMR nicht zu einer Ermessungsreduzierung des Finanzamts. Denn da der EGMR von der Zwangsruhe des § 363 Abs. 2 Satz 2 nicht erfasst ist, kann im Umkehrschluss eine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 1 nicht mit Rücksicht auf ein vor dem EGMR betriebenes Verfahren zwingend sein (vgl. BFH-Beschluss vom 10. Mai 2012 X B 183/11, BFH/NV 1570).
3. Die angefochtene Einspruchsentscheidung erweist sich auch in materieller Hinsicht als rechtmäßig. Das Finanzamt hatte die von den Klägern im Einspruchsverfahren begehrte Übertragung der Grundsätze der teilweisen Steuerfreiheit für Abgeordnetenpauschalen auf die Einkünfte des Klägers aus nichtselbstständiger Arbeit zu Recht abgelehnt. Wegen der Begründung wird auf das BFH-Urteil vom 11. September 2008 (VI R 13/06, BStBl. II 2008, 928) Bezug genommen. Die gegen diese Entscheidung erhobene Verfassungsbeschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2010 (2 BvR 2227/08, 2 BvR 2228/08) nicht zur Entscheidung angenommen.
II. Das Gericht durfte in der Sache entscheiden. Das Verfahren war nicht entsprechend § 74 FGO auszusetzen. Nach § 74 FGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreit ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen sei.
Der erkennende Senat hält eine Aussetzung des Klageverfahrens im Hinblick auf die beim BFH unter den Aktenzeichen VI B 99/12 und VI B 101/12 anhängigen Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht für geboten. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, darf ein Rechtsstreit nicht allein deshalb nach § 74 FGO ausgesetzt werden, weil beim BFH ein Revisionsverfahren anhängig ist, dass eine vergleichbare Rechtsfrage betrifft oder als Musterverfahren geführt wird (vgl. BFH-Beschluss vom 24. September 2012 VI B 79/12, [...], m.w.N.). Diese gilt erst recht, wenn beim BFH lediglich Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren anhängig sind.
In solchen Fällen können beim FG anhängige Verfahren nur gem. § 251 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 155 FGO zum Ruhen gebracht werden. Hierzu bedarf es der Zustimmung beider Beteiligten. Diese liegt hier nicht vor.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.