Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 15.10.1998, Az.: 1 A 1140/97

Genehmigung einer Zweigsprechstunde für eine Facharztpraxis für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO); Sicherstellungserfordernis i.S.d. § 18 Abs. 1 S. 2 der Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen vom 16. Dezember 1997 (BOÄ) ; Beurteilung der örtlichen und regionalen Versorgungslage; Örtliche Umverteilung beim Erbringen ärztlicher Leistungen

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
15.10.1998
Aktenzeichen
1 A 1140/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 17629
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:1998:1015.1A1140.97.0A

Fundstellen

  • FStNds 1999, 692-693
  • NdsVBl 1999, 116-118

Verfahrensgegenstand

Genehmigung einer Zweigsprechstunde

Prozessführer

des Herrn ...

Prozessgegner

die Ärztekammer ...

Redaktioneller Leitsatz

Ist ein Sicherstellungserfordernis i.S.d. § 18 Abs. 1 Satz 2 der Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen vom 16. Dezember 1997 (BOÄ) aufgrund Beurteilung der örtlichen und regionalen Versorgungslage gegeben, so kann die Ärztekammer die Genehmigung für eine Zweigpraxis (Sprechstunde) erteilen.

Die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Göttingen
hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. Oktober 1998
durch
den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Dr. van Nieuwland,
die Richter am Verwaltungsgericht Dr. Möller und Pardey sowie
die ehrenamtliche Richterin Traupe und
den ehrenamtlichen Richter Thies
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 13. März 1996 und deren Widerspruchsbescheid vom 13. März 1997 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, über den vom Kläger gestellten Antrag auf Genehmigung einer Zweigsprechstunde unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Den Kostenschuldnern wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger, der eine Facharztpraxis für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO) in ... betreibt, begehrt die Genehmigung einer Zweigsprechstunde in Clausthal-Zellerfeld.

2

Seit 1974 ist in der Ortschaft ... kein HNO-Arzt mehr tätig. ... liegt 11 km von ... entfernt und ist Teil der Samtgemeinde ... die wiederum zum Landkreis ... gehört. Die Stadt ..., in der drei HNO-Ärzte tätig sind, liegt 19 km von ... entfernt. Im Landkreis ... beträgt der Versorgungsgrad bei den HNO-Ärzten nach dem Bedarfsplan für die Kassenarztzulassung 131,42 %, wobei für 34.822 Einwohner ein HNO-Arzt vorgesehen ist. Im Landkreis ... sind außer dem Kläger noch je ein HNO-Arzt in ... und in ... niedergelassen. Dort ist der Bedarf auf einen HNO-Arzt je 42.129 Einwohner festgelegt, so dass der dortige Versorgungsgrad 144,4 % beträgt.

3

An seinem Niederlassungsort ... hat der Kläger bislang folgende Sprechzeiten: Mo. - Fr. 8.00-12.00 Uhr, Mo. u. Di. zusätzlich 15.00-18.00 Uhr, Do. 15.00-19.00 Uhr und Fr. 15.00-16.00 Uhr. Daneben betreut der Kläger als Belegarzt im 10 km von ... entfernten Kreiskrankenhaus ... 3 Betten in kollegialer Zusammenarbeit mit einem anderen Belagarzt aus Herzberg.

4

Wegen seines Anliegens, ... eine Zweigsprechstunde errichten zu wollen, wandte sich der Kläger mit Schreiben vom 12. Februar 1996 an die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen, Bezirksstelle Braunschweig (KV). Der Kläger führte aus, die Sprechstundenzeit ... solle 12 Stunden betragen. Auch könne er im Wechsel mit seiner ... HNO-Praxis eine HNO-Notfallsprechstunde am Samstagvormittag anbieten. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten richte er sich gern nach den Vorstellungen und Wünschen der KV und seiner Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Die Notwendigkeit einer HNO-fachspezifischen Versorgung ergebe sich aus der Tatsache, dass, wenn man einmal von seiner Praxis in ... absehe, die nächste HNO-Praxis 24 km von ... entfernt sei; besonders für die ältere Bevölkerung sei ein solcher Anfahrweg beschwerlich und kaum zumutbar. Die Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln seien unzureichend.

5

Die KV vertrat den Standpunkt, dass es für eine HNO-Zweigpraxis in ... kein Sicherstellungsbedürfnis gebe. Im Landkreis Goslar seien genügend HNO-Ärzte niedergelassen. Da der Versorgungsgrad über 100 % betrage, bestehe bereits eine Zulassungssperre für HNO-Ärzte. Die öffentlichen Verkehrsverhältnisse von ... nach ... und ... seien gut genug, um die HNO-Ärzte in ... und ... während der Sprechstundenzeiten mit einem vertretbaren Zeitaufwand aufsuchen zu können.

6

Hinsichtlich der Versagung der kassenärztlichen Zulassung schwebt derzeit ein sozialgerichtliches Verfahren, das unter dem Aktenzeichen § 5 Ka 205/97 beim Sozialgericht in Hannover anhängig ist.

7

Da der Kläger für die Errichtung einer Zweigsprechstunde nicht nur die von ihm gewünschte kassenärztliche Zulassung, sondern auch eine Genehmigung nach der Berufsordnung der Ärztekammer benötigt, leitete die KV den Antrag des Klägers an die Beklagte weiter. Die Beklagte schloss sich der Einschätzung der KV an und lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 13. März 1996, der eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht enthielt, ab.

8

Hiergegen legte der Kläger am 28. Mai 1996 Widerspruch ein. In seinem Widerspruchsschreiben führte er aus, dass den etwa 21.000 Einwohnern der Samtgemeinde ... bzw. den 25.000 Einwohnern im Einzugsgebiet von ... kein einziger HNO-Facharzt zur Verfügung stehe. Deshalb hätten ihn die Samtgemeinde ... und der dortige Ärzteverein gebeten, eine HNO-Sprechstunde einzurichten. Die vorhandenen Praxen seien zu weit entfernt und schwer erreichbar. Der öffentliche Nahverkehr sei vor allem auf die berufstätige Bevölkerung zugeschnitten und nicht auf Patienten, die außerhalb der Hauptverkehrszeiten fahren müßten. Zudem ergäben sich aufgrund des erheblichen Höhenunterschieds von 300 bis 400 Metern zu den Städten des Harzvorlandes für zahlreiche Patienten Herz-, Kreislauf- und Atemwegsbelastungen. Angesichts der großen Anzahl der Patienten aus dem ... sei es auch sinnvoller und kostengünstiger, wenn die ärztlichen Leistungen dort erbracht würden, wo sie benötigt werden, zumal dadurch die Zahl der behandelnden Ärzte nicht vergrößert werden.

9

Nachdem sich der für Widerspruchssachen zuständige Landesvorstand der Beklagten mit dem Widerspruch des Klägers befasst hatte, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13. März 1997 - zugestellt am 14. März 1997 - zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung erfordere das Abhalten von Sprechstunden in ... nicht. Der Versorgungsgrad im Landkreis ... sei mehr als ausreichend. Zwar sei es richtig, dass der Anteil der älteren Bevölkerung in ... ansteige; nach den hinzugezogenen Fahrplänen seien die Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln aber durchaus hinreichend, um in angemessener Zeit einen HNO-Arzt in ... oder ... aufsuchen zu können. Demgegenüber müsse berücksichtigt werden, dass die ärztliche Versorgung an seinem Niederlassungsort ... gefährdet wäre, wenn der Kläger 12 Stunden pro Woche Sprechstunden in ... abhalten würde. Aufgrund der hohen Scheinzahl (ca. 2400 pro Quartal) und der Tatsache, dass der Kläger eine Einzelpraxis betreibe und zugleich 3 Belegbetten zu betreuen habe, werde hinreichend deutlich, dass der Kläger im Vergleich zu anderen HNO-Ärzten schon jetzt übermäßig stark frequentiert werde, so dass die Bevölkerung in ... durch die Eröffnung einer Zweigpraxis ... zwangsläufig deutlich beeinträchtigt werde.

10

In der dem Widerspruchsbescheid vom 13. März 1997 beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung heißt es, dass eine eventuelle Klage beim Verwaltungsgericht in Braunscheig zu erheben sei.

11

Am 15. April 1997 (Dienstag) hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Braunschweig Klage erhoben. Nach Anhörung der Beteiligten hat sich das Verwaltungsgericht Braunschweig durch Beschluss vom 14. Juli 1997 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Göttingen verwiesen.

12

Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft. Ergänzend führt er aus: Etwa 10 % seiner Patienten kämen aus ... und Umgebung. Darunter seien viele ältere Leute. Dass ein Sicherstellungsbedürfnis für ... tatsächlich bestehe, zeige sich auch daran, dass bis zum Jahre 1974 ein HNO-Facharzt dort niedergelassen gewesen sei. Auch der Bürgermeister der Samtgemeinde habe sich für die Genehmigung der Zweigsprechstunde ausgesprochen. Der Hinweis der Beklagten auf den hohen Versorgungsgrad im Landkreis ... bedeute keineswegs, dass an allen Orten dieses Landkreises eine ausreichende Versorgung vorhanden sei. Es sei auch nicht richtig, dass eine Gefährdung der ärztlichen Versorgung seiner Patienten in ... bei Eröffnung einer Zweigsprechstunde zu befürchten sei. Zum einen sei die Sprechstunde in ... zeitlich ausserhalb der bestehenden Sprechstundenzeiten in ... geplant. Zum anderen werde seine ... Sprechstunde dadurch entlastet, dass die bisher aus der Samtgemeinde ... anreisenden Patienten dann die Sprechstunde in ... aufsuchen würden. Allerdings wolle er - entgegen seinen ursprünglichen Plänen - die Anzahl der Sprechstunden auf 9 pro Woche beschränken, damit keine unnötigen Probleme für den Praxisbetrieb in ... entstünden. Auch seine belegärztliche Tätigkeit bewirke eine Gefährdung seiner Patienten nicht. Mit Ausnahme der Entfernung von Gaumenmandeln würden sämtliche von ihm durchgeführten Operationen ambulant ausgeführt. Stationäre Aufenthalte seiner Patienten und die damit einhergehende Betreuung seien immer nur kurzzeitig erforderlich.

13

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide vom 13. März 1996 und 13. März 1997 zu verpflichten, ihm die beantragte Genehmigung einer Zweigsprechstunde in ... zu erteilen,

14

hilfsweise,

die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verpflichten, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

15

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

16

Sie bezieht sich im wesentlichen auf die Begründung des Widerspruchsbescheides. Weiter führt sie aus, dass Vertragsärzte zur Behandlung von Kassenpatienten verpflichtet seien. Ein Vertragsarzt dürfe seine Tätigkeit deshalb nur dann einschränken, wenn andere zugelassene Vertragsärzte in der Nähe ausreichend zur Verfügung stünden. Da der Kläger aber in ... besonders stark in Anspruch genommen werde, sei die vertragsärztliche Versorgung der Bevölkerung dort akut und nachhaltig gefährdet. Das Zeitbudget des Klägers sei auch wegen seiner Spezialisierung zum Umweltmediziner und seiner Tätigkeit als Belegarzt weiter eingeschränkt, so dass die vom Gesetzgeber gewünschte zeitaufwendige Patientenbetreuung in ... im Falle der Eröffnung einer Zweigpraxis in ... nicht mehr gewährleistet sei. Bei der heutigen Arztdichte und der verbesserten Verkehrsinfrastruktur dürfe eine Zweigpraxis ohnehin nur in wenigen Ausnahmefällen ausgesprochen werden. Soweit sich der Kläger darauf berufen habe, sein Anliegen werde von der Politik und insbesondere von dem Samtgemeindebürgermeister stark unterstützt, so müsse darauf hingewiesen werden, dass ein Bürgermeister zur Einschätzung einer ärztlichen Versorgungssituation nicht im Stände sei. Es könne nicht überraschen, dass ... als Kurort ein eigenes Interesse an einer umfassenden fachärztlichen Versorgung und damit auch an der Genehmigung der Zweigsprechstunde des Klägers habe. Dieser Gesichtspunkt könne für die hier zu treffende Entscheidung aber keine massgebliche Bedeutung haben.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen. Die Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

18

Die vom Kläger erhobene Klage ist zulässig und - soweit es den Hilfsantrag anbelangt - auch begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist ein Sicherstellungserfordernis i.S.d. § 18 Abs. 1 Satz 2 der Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen vom 16. Dezember 1997 (BOÄ) im vorliegenden Fall gegeben. Die Beklagte ist daher verpflichtet, ihr Ermessen zu betätigen und den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Das mit dem Hauptantrag gestellte Verpflichtungsbegehren ist dagegen unbegründet und deshalb zurückzuweisen.

19

Der Verwaltungsrechtweg ist für das vorliegende Verfahren eröffnet, da es sich hier um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art handelt (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Eine besondere Zuweisung - etwa zu den Sozialgerichten - ist nicht gegeben. Die Sozialgerichte haben gemäß § 51 Abs. 2 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzesüber Zweigstellengenehmigungen nur insoweit zu befinden, als es um die Genehmigung einer vertragsärztlichen Tätigkeit seitens der Kassentärztlichen Vereinigung für eine Zweigsprechstunde geht (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 20.12.1995 - 6 Rka 55/94 -, MedR 1996, 473). Ein solches Begehren verfolgt der Kläger in dem hier anhängigen Verfahren nicht.

20

Das Vorverfahren ist ordnungsgemäß durchgeführt worden. Der Widerspruch des Klägers vom 28. Mai 1996 gegen den Bescheid der Beklagten vom 13. März 1996 ist nicht verfristet gewesen. Da der Ausgangsbescheid keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt, galt für die Einlegung des Widerspruchs nicht die sonst übliche Monatsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO, sondern es galt die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO. Auch die Erhebung der Klage war noch rechtzeitig. Zwar hat der Kläger die auch für die Erhebung einer Klage geltende Monatsfrist nicht beachtet (§ 74 Abs. 1 und 2 VwGO); dieser Mangel bleibt hier für ihn aber deshalb ohne nachteilige Auswirkungen, weil die dem Widerspruchsbescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft war. Der in der Rechtsbehelfsbelehrung enthaltene Hinweis, die Klage sei beim Verwaltungsgericht Braunschweig zu erheben, entsprach nicht der Rechtslage. Die erteilte Rechtsbehelfsbelehrung hat daher die Monatsfrist des § 74 VwGO nicht in Gang gesetzt (§ 58 Abs. 2 VwGO).

21

Die Klage hat in der Sache teilweise Erfolg.

22

Nach § 18 Abs. 1 Satz 2 BOÄ kann die Ärztkammer, soweit es die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung erfordert, die Genehmigung für eine Zweigpraxis (Sprechstunde) erteilen. Bei dieser Vorschrift handelt es sich um eine Ausnahmeregelung zu dem in § 18 Abs. 1 Satz 1 BOÄ für Ärzte geregelten Verbot, eine Sprechstunde an mehreren Stellen abzuhalten. Das in § 18 Abs. 1 BOÄ normierte Regel-/Ausnahmeverhältnis findet seine gesetzliche Grundlage in § 32 des Kammergesetzes für die Heilberufe (HKG). In Absatz 1 dieser Vorschrift heißt es, dass die ärztliche Tätigkeit grundsätzlich an die Niederlassung in eigener Praxis gebunden ist. In Absatz 2 von § 32 HKG wird den Ärztekammern allerdings die Möglichkeit eröffnet, in besonderen Einzelfällen Ausnahmen von Absatz 1 zuzulassen, wenn berufsrechtliche Belange nicht beeinträchtigt werden.

23

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung sind im vorliegenden Fall erfüllt. Bei dem Tatbestandsmerkmal "Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung und Anwendung seitens der Beklagten durch das Verwaltungsgericht im vollem Umfang überprüfbar ist (vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.05.1969 - IV 239/68 -, ESVGH 20, 106; Schiller, NZS 1997, 103, 107 unter Hinweis auf VG Minden, Urteil vom 14.11.1990 - 4 K 992/90 -; ähnlich Narr, Ärztliches Berufsrecht, Stand: Januar 1997, Rdnr. B 393; ebenso Uhlenbruck in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 1992, § 18 Rndr. 18 m.w.N.; für die anwaltliche Zweigstellengenehmigung vgl. Feuerich/Braun, BRAO, 3. Auflage 1995, § 2 8 Rdnr. 5; Kleine/Cosack, BRAO, 3. Auflage 1997, § 28 Rdnr. 5;, a.A. Bundessozialgericht, Urteil vom 20.12.1995, a.a.O., das für die entsprechende Vorschrift im SGB V einen Beurteilungsspielraum der Verwaltung annimmt).

24

Die Beantwortung der Frage, ob ein Sicherstellungserfordernis i.S.d. § 18 Abs. 1 Satz 2 BOÄ vorliegt, erfordert eine Beurteilung der örtlichen und regionalen Versorgungslage und wird von zahlreichen Umständen beeinflusst, die weitgehend nicht exakt ermittelt, sondern nur - jeder für sich und im Zusammenhang - wertend gewürdigt werden können, etwa die Anzahl der Ärzte, das Vorhandensein von Krankenhäusern, die Bevölkerungsdichte, die Bevölkerungsstruktur, die zu bewältigenden Entfernungen und die Verkehrsverhältnisse (vgl. Schiller, a.a.O., S. 107). Hinsichtlich der vorzunehmenden Abwägungsentscheidung hat der VGH Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 20. Mai 1969 (a.a.O.) zutreffend darauf hingewiesen, dass sowohl das Sicherstellungserfordernis der Bevölkerung am Ort der bestehenden Hauptniederlassung als auch dasjenige der Bevölkerung am Ort der Zweigpraxis zu berücksichtigen ist.

25

Fraglich ist, ob für die Beurteilung eines Sicherstellungserfordernisses die Vorschriften über die vertragsärztlichen Zulassungsbeschränkungen (vgl. §§ 101 ff. SGB V) und die danach für die verschiedenen Landkreise festgestellten Versorgungsgrade zu Grunde zu legen sind. Anders als die Beklagte ist die Kammer der Auffassung, dass den insoweit bestehenden Maßzahlen allenfalls eine Indizwirkung zukommen kann. Immerhin ist zu berücksichtigen, dass die genannten Vorschriften lediglich die kassenärztliche Zulassung betreffen; das Niederlassungsrecht nach der ärztlichen Berufsordnung ist hiervon streng zu trennen. Noch wesentlicher dürfte aber sein, dass für die Einrichtung einer Zweigsprechstunde kein zusätzlicher Arzt zugelassen wird, sondern lediglich eine örtliche Umverteilung beim Erbringen ärztlicher Leistungen bewirkt wird. Auf das Ziel einer Steuerung der Zahl der vertragsärztlich tätigen Ärzte im Interesse einer Kostendämpfung ist das Niederlassungsrecht nach der BOÄ nicht zugeschnitten.

26

Bei Anwendung der zuvor genannten Kriterien auf den vorliegenden Fall kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass ein Sicherstellungserfordernis für die vom Kläger gewünschte Zweigsprechstunde in ... gegeben ist. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde:

27

Ein anerkennenswertes Versorgungsinteresse am Standort ... ergibt sich daraus, dass trotz der nicht unbedeutenden Einwohnerzahl der Samtgemeinde ... von 21.000 dort kein HNO-Arzt niedergelassen ist. Schon die Bevölkerungszahl macht den hohen Bedarf am Standort ... deutlich. Gemessen an den Richtwerten der KV (34.822 Einwohner pro HNO-Arzt im Landkreis Goslar) werden allein durch den Standort ... fast 2/3 der Kapazitäten eines HNO-Facharztesausgefüllt. Das gilt um so mehr dann, wenn man das nähere Einzugsgebiet von ... in die Betrachtungen mit einbezieht. Ein zweites wesentliches Kriterium - nämlich die besondere Verkehrssituation im ... - kommt hinzu. Die im Harzvorland vorhandenen HNO-Praxen sind allesamt von ... mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur unter hohem Zeitaufwand zu erreichen. Zwischen ... und dem nächstgelegenen Ort ... fahren - sieht man einmal von den Bussen in den frühen Morgenstunden für den Berufsverkehr ab - vormittags lediglich drei Busse, nämlich um 07.28 Uhr, um 08.15 Uhr und um 10.39 Uhr (so die Angaben in dem bei den Akten befindlichen Fahrplan 1995/96). Bei einer solchen Fahrplangestaltung sind die Möglichkeiten, Arzttermine zu vereinbaren, von vornherein sehr eingeschränkt. In der Gegenrichtung fahren die Busse vormittags auch nur dreimal, zwischen 8.52 Uhr und 12.18 Uhr gar nicht. In Richtung ... bestehen zwar stündliche Verbindungen; allerdings beträgt die Fahrtzeit von ... nach ... durchschnittlich 45 Minuten. Gerade für ältere Menschen sind Fahrten dieser Länge sehr beschwerlich, zumal die sehr unterschiedliche Höhenlage zwischen dem Harzvorland und ... nach den glaubhaften Angaben des Klägers für viele Patienten eine große Belastung darstellt. In den Wintermonaten ist die Erreichbarkeit durch die Witterung zusätzlich erschwert. Die unzureichenden Verbindungen bei den öffentlichen Verkehrsmitteln treffen insbesondere die Personengruppen, die in besonderer Weise ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen, nämlich Kinder und ältere Menschen.

28

Dass es in der Bevölkerung von ... ein ernsthaftes Versorgungsinteresse gibt, wird durch die Stellungnahmen der Vertreter der dortigen Gebietskörperschaften bestätigt. So hat der Samtgemeindebürgermeister in einem Schreiben an die KV vom 31. Januar 1997 ausgeführt, es sei seit langem der Wunsch der Samtgemeinde ... und der dortigen Bevölkerung, dass wieder - wie früher - ein HNO-Facharzt in ... praktiziere. Die Bemühungen der Samtgemeinde ... und auch der Ärzteschaft in Clausthal-Zellerfeld seien bislang leider vergeblich gewesen. Dies liege auch daran, dass die Samtgemeinde ... mit ihrem Einzugsgebiet von 25.000 Einwohnern keine ausreichende wirtschaftliche Basis für eine eigenständige HNO-Praxis liefern könne. Um so mehr werde es nun unterstützt, dass sich der Kläger bereit erklärt habe, in ... eine Zweigsprechstunde zu errichten. Die bisherige Ablehnung der Initiative des Klägers stoße bei den Menschen in der Samtgemeinde ... auf Unverständnis.

29

Die öffentliche Unterstützung, die der Antrag des Klägers auf diese Weise erfährt, ist durchaus ein Hinweis darauf, dass ein Sicherstellungserfordernis in ... tatsächlich besteht.

30

Die Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, dass im Landkreis ... bei der kassenärztlichen Versorgung ein Versorgungsgrad von 131,43 % besteht. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass dieser für das kassenärztliche Zulassungswesen maßgebliche Aspekt für die berufsrechtliche Beurteilung keine entscheidende Rolle spielen kann. Im übrigen wird bei dem Hinweis auf den allgemeinen Versorgungsgrad übersehen, dass es sich bei dieser Maßzahl um einen Durchschnittswert bezogen auf das gesamte Kreisgebiet handelt. Gerade bei Landkreisen mit einer großen Fläche, einer inhomogenen Struktur oder schlechten Verkehrswegen und -verbindungen ist daher bei einer Entscheidung nach § 18 Abs. 1 Satz 2 BOÄ auf die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und nicht so sehr auf die Gesamtbilanz einer Region abzustellen. Das Vorliegen einer Überversorgung im Gebiet eines Landkreises schließt Versorgungsdefizite an einzelnen Orten keineswegs aus. Dies gilt zur Überzeugung der Kammer auch für den Bereich ....

31

Entgegen der Ansicht der Beklagten würde es bei Errichtung einer Zweigsprechstunde in ... nicht zwangsläufig zu einem Versorgungsdefizit am Ort der Hauptniederlassung des Klägers in ... kommen. Dabei ist zunächst einmal zu berücksichtigen, dass durch die Errichtung der Zweigsprechstunde ein Entlastungseffekt für die Hauptniederlassung eintreten wird. Nach den unbestrittenen Angaben des Klägers kommen ca. 10 % seiner Patienten aus dem Raum .... Hinzu kommt, dass die Entfernung zwischen Osterode und ... nicht so groß ist, dass der Kläger bei entsprechendem Bedarf nicht in kurzer Zeit von ... nach ... oder umgekehrt fahren kann. Auch jetzt ist es schon so, dass die Präsenz des Klägers in ... dadurch eingeschränkt ist, dass er auch seine Patienten im Krankenhaus H. zu betreuen hat. Noch ein weiterer wichtiger Punkt läßt die Besorgnis eines entstehenden Versorgungsdefizits in ... eher gering erscheinen. Der Kläger hat dargelegt, dass die Zweigsprechstunde in ... außerhalb der in seiner Hauptniederlassung bestehenden Sprechstundenzeiten stattfinden soll und eine Verkürzung der Sprechstundenzeiten in ... auch nicht geplant sei. Auf diese Weise bleibt gewährleistet, dass der Kläger für seine Patienten in ... in dem gleichen zeitlichen Umfang zur Verfügung steht wie bisher. Dieses Ziel kann die Beklagte auch ohne weiteres durch den Erlaß von an die Genehmigung der Zweigsprechstunde geknüpften Auflagen sicherstellen. Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass der Versorgungsgrad bei den vertragsärztlichen HNO-Ärzten nach den Zahlen der Beklagten im Landkreis ... immerhin 144,4 % beträgt. Diese Zahl macht deutlich, dass es bei den anderen HNO-Fachärzten im Landkreis ... durchaus noch Spielraum bei der Wahrnehmung zusätzlicher Aufgaben gibt.

32

Nach alledem ist festzustellen, dass dem bestehenden Sicherstellungserfordernis für die Versorgung der Patienten in ... ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Gewährleistung der Versorgungssituation in ... nicht entgegenstehen. Letztlich ist nach Ansicht der Kammer alles eine Frage der Organisation. Dem kann die Beklagte - wie bereits ausgeführt - durch Auflagen und Nebenbestimmungen Rechnung tragen.

33

Auch wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Genehmigung einer Zweigsprechstunde im vorliegenden Fall zu bejahen sind, so hat dies doch nicht zur Folge, dass dem Kläger automatisch ein Rechtsanspruch auf eine solche Genehmigung zustünde. Vielmehr steht die Entscheidung über die Genehmigung einer Zweigsprechstunde gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 BOÄ im Ermessen der Genehmigungsbehörde. Dieser der Genehmigungsbehörde verbleibende Entscheidungsspielraum ist grundsätzlich auch von den Verwaltungsgerichten zu respektieren (vgl. § 114 VwGO).

34

Es ist bereits erwähnt worden, dass die Beklagte zu prüfen haben wird, welche Regelungen und Auflagen notwendig sind, damit die Versorgungssituation an beiden Standorten bestmöglich gewährleistet ist. Ebenso wäre es denkbar, auch andere Ärzte in einen zu erstellenden Vertretungsplan einzubeziehen, damit eventuelle Nachteile besser aufgefangen werden können. Schließlich hat die Beklagte in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens auch darüber zu befinden, ob einer möglichen Genehmigung eine Befristung oder ein Widerrufsvorbehalt beizufügen ist (vgl. Schiller a.a.O.; S. 107; Ratzel/Lippert, a.a.O., § 13 Rdnr. 15; VGH Baden-Württemberg, a.a.O.).

35

Aus alledem folgt, dass hier kein Verpflichtungs-, sondern nur ein Bescheidungsurteil ergehen kann. Spruchreife i.S.d. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist nicht gegeben. Zwar ist die Beklagte in ihrem Ermessen hier relativ eingeschränkt, eine Ermessensreduzierung auf Null liegt aber eindeutig nicht vor. Die Klage kann daher nur mit dem Hilfsantrag, nicht aber mit dem Hauptantrag Erfolg haben. Der weitergehende Klageantrag ist mithin zurückzuweisen.

36

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 154 Abs. 1 VwGO.

37

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO

Dr. van Nieuwland
Dr. Möller
Pardey