Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 20.11.1989, Az.: 1 VAs 10/89
Gewährung von Akteneinsicht in beschlagnahmte Unterlagen; Akteneinsicht als Maßnahme der Justizverwaltung; Pflicht der Finanzbehörde zur Wahrung des Steuergeheimnisses im Besteuerungsverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 20.11.1989
- Aktenzeichen
- 1 VAs 10/89
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1989, 18278
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1989:1120.1VAS10.89.0A
Rechtsgrundlagen
- § 23 Abs. 1 EGGVG
- § 386 Abs. 2 AO
- § 399 Abs. 1 AO
Fundstellen
- MDR 1990, 360 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1990, 1802-1803 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Einsicht in beschlagnahmte Unterlagen
Auf den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff. EGGVG
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
nach Anhörung der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht
am 20. November 1989
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...
den Richter am Oberlandesgericht ... und den Richter am Oberlandesgericht ...
beschlossen:
Tenor:
Die Verfügung des Antragsgegners vom 10. August 1989 wird aufgehoben.
Der Antragsgegner ist verpflichtet, dem Antragsteller Einsicht zu gewähren in die in dem von ihm geführten steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen den Bauamtmann Dipl.-Ing. ... aus ... beschlagnahmten Unterlagen des Beschuldigten.
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Antragstellers fallen der Landeskasse zur Last.
Der Geschäftswert beträgt 5.000 DM.
Gründe
I.
Der Antragsgegner führt ein Ermittlungsverfahren gegen den Bauamtmann Dipl.-Ing. ... aus ... wegen Verdachts der Steuerhinterziehung. In diesem Verfahren sind Unterlagen des Beschuldigten beschlagnahmt worden. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.
Der Antragsteller ist der Dienstherr des Bauamtmanns ... Er hat disziplinarrechtliche Vorermittlungen gegen ihn wegen Verdachts ungenehmigter Nebentätigkeit und nicht unvoreingenommener Amtsführung eingeleitet. Dieser Verdacht richtet sich auf dieselben Handlungen, die auch Gegenstand der steuerstrafrechtlichen Ermittlungen sind.
Durch Ersuchen vom 20.7.1989 hat der Antragsteller beim Antragsgegner beantragt, ihm Einsicht in die bei ... beschlagnahmten Unterlagen zu gewähren. Durch Verfügung vom 10.8.1989 hat der Antragsgegner das abgelehnt.
Der hiergegen gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung (Verpflichtungsantrag) hat Erfolg.
II.
Der Antrag ist zulässig.
1.
Der beschrittene Rechtsweg ist gegeben. Die begehrte Gewährung von Akteneinsicht ist eine Maßnahme der Justizverwaltung i.S.d. § 23 Abs. 1 EGGVG. Der Antragsgegner ist zwar eine Finanzbehörde. Maßgeblich ist aber, daß er im Steuerstrafverfahren nach §§ 386 Abs. 2, 399 Abs. 1 AO funktionell als Justizbehörde tätig wird, weil er hier die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrnimmt.
2.
Der rechtlichen Einordnung der begehrten Akteneinsicht als Maßnahme der Justizverwaltung und ihrer Ablehnung als Justizverwaltungsakt steht nicht entgegen, daß das Begehren des Antragstellers vom 20.7.1989 sich als Ersuchen um Amtshilfe darstellt, so daß anstelle einer gerichtlichen Überprüfung die Regelung der §§ 5 Abs. 5 VwVfG, 1 S. 1 NdsVwVfG eingreifen könnte. Diese Bestimmung über die Amtshilfe gilt weder für das Verfahren der Justizverwaltungs- noch der Finanzbehörden (§ 2 NdsVwVfG). Außerdem schließt sie den Rechtsweg nicht aus, sondern erfordert nur die vorherige Anrufung der Aufsichtsbehörde. Der Umstand, daß der Antragsteller eine Behörde ist, nimmt der Ablehnung nicht den Charakter eines Justizverwaltungsakts. Da Antragsteller und Antragsgegner verschiedenen Rechtsträgern angehören - hier handelt es sich um die Weigerung einer Landesbehörde gegenüber einer kommunalen Gebietskörperschaft - kann der Ablehnung nicht der für das Vorliegen eines Verwaltungsakts maßgebliche hoheitliche Regelungscharakter abgesprochen werden. Die Behördeneigenschaft des Antragstellers steht deshalb der Antragsbefugnis nicht entgegen (vgl. Kopp, VwVfG, § 5 Rdz. 39 a; Obermayer, VwVfG § 5 Rdz. 57; Meyer/Borgs, VwVfG, § 5 Rdz. 35; Finkelnburg/Lässig, VwVfG, § 5 Rdz. 43 f; Knack-Schwarze, VwVfG, § 5 Rdz. 5.5; Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 3. Auflage, S. 91). Die dem entgegenstehende Auffassung, die Eigenschaft der Ablehnung als Justizverwaltungsakt und damit die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung sei zu verneinen (Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, § 5 Rdz. 30; KK-Kissel, StPO, § 23 EGGVG Rdz. 25; LR-Schäfer, StPO, 23. Auflage, § 23 EGGVG, Rdz. 28) vermag den Senat nicht zu überzeugen.
3.
Nach anderen Vorschriften als nach §§ 23 ff. EGGVG können die ordentlichen Gerichte nicht angerufen werden, insbesondere scheidet ein strafprozeßrechtlicher Rechtsbehelf aus. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen einem am Strafverfahren unbeteiligten Dritten Einsicht in die Akten oder in Teile der Akten gewährt werden kann oder muß, ist durch die Strafprozeßordnung nicht geregelt (vgl. KK-Laufhütte, StPO, 2. Aufl., § 147 Rdz. 21). Eine Entscheidung durch das Strafgericht kommt erst in Betracht, wenn das Strafverfahren bei Gericht anhängig geworden ist. Während des Ermittlungsverfahrens ist über die Einsicht deshalb im Verfahren nach §§ 23 EGGVG zu befinden.
4.
Der Antrag ist auch nicht unzulässig, weil der Antragsgegner die begehrte Einsicht bereits früher am 19.4.1988 - Oberfinanzdirektion ...: 10.10.1988 - bestandskräftig abgelehnt hatte. Mit seiner Verfügung vom 10.8.1989 hat der Antragsgegner auf einen neuen Antrag "nach erneuter Prüfung" entschieden. Hierbei handelt es sich um einen sog. Zweitbescheid, der die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung wieder eröffnet.
5.
Einer vorherigen aufsichtsbehördlichen Entscheidung i.S. des § 24 Abs. 2 EGGVG bedarf es nicht. Sie ist gesetzlich nicht vorgesehen, weil § 5 Abs. 5 VwVfG, wie bereits erörtert, für das Verfahren des Antragsgegners als einer Justizbehörde nicht gilt (§ 2 Abs. 3 Nr. 1 NdsVwVfG).
III.
Der Antrag ist begründet.
1.
Der Antragsgegner kann sich nicht mit Erfolg auf eine Pflicht zur Wahrung des Steuergeheimnisses des Bauamtmanns ... nach § 30 AO berufen. Diese. Pflicht trifft die Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren. § 30 AO gilt demgegenüber nicht im (Steuer-)Strafverfahren. Wechselt die Finanzbehörde ihre Rolle und tritt sie in die Funktion der Staatsanwaltschaft ein, so richten sich ihre Pflichten nach dem Recht des Strafprozesses (§ 393 Abs. 1 Satz 1 AO). Tatsachen, die der Finanzbehörde in ihrer Funktion als steuerstrafrechtlicher Ermittlungsbehörde bekannt geworden sind, unterliegen deshalb nicht dem Steuergeheimnis. Das im Strafprozeßrecht für die Hauptverhandlung geltende Öffentlichkeitsprinzip (§ 169 GVG) - das es, falls es zu einer Hauptverhandlung kommt, dem Antragsteller ermöglichen würde, die gewünschten Erkenntnisse durch einen Prozeßbeobachter zu erlangen - erfordert andersartige prozeßrechtliche Vorkehrungen zum Schutz des in dem Strafverfahren Beschuldigten. Die besonderen Regelungen des § 393 AO zum Schutz des Beschuldigten hinsichtlich der von ihm im Besteuerungsverfahren offenbarten Tatsachen bedürfen hier keiner näheren Erörterung.
2.
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Bauamtmanns ... erfordert es, zwischen seinen Interessen an der Geheimhaltung der Ermittlungsergebnisse und dem Interesse des Antragstellers im Hinblick auf die Erfüllung der ihm übertragenen gesetzlichen Aufgaben abzuwägen.
Der Bauamtmann Dipl.-Ing. ... hat ein verständliches und nachvollziehbares Interesse daran, daß der gegen ihn gerichtete Verdacht einer Straftat samt den in dem Ermittlungsverfahren zutage getretenen Einzelheiten geheim bleibt. Dieses Verfahren kann immer noch ohne Hauptverhandlung beendet werden, sei es durch Einstellung, durch Nichtzulassung der Anklage oder durch Erledigung durch Strafbefehl. Sein Interesse liegt besonders nahe, soweit einzelne Ermittlungsergebnisse bei seinem Dienstherrn den Verdacht von Dienstvergehen bestätigen und ihn insoweit bloßstellen würden. Eine derartige Bloßstellung berührt sein allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG; vgl. BVerfGE 35, 202, 220 f [BVerfG 05.06.1973 - 1 BvR 536/72] - Lebach -; 27, 344 ff; 34, 205 ff - Scheidungsakten -).
Dem Interesse des Bauamtmanns 1 ... steht das Interesse seines Dienstherrn, des Antragstellers, gegenüber. Er hat für die Integrität seines Personals und vor allem seiner Beamten zu sorgen. Eine Straftat kann zugleich wegen Verletzung der außerdienstlichen Pflichten des Beamten ein Dienstvergehen sein. Bei Steuerhinterziehung liegt das nahe, weil dieses Delikt Rückschlüsse auf die Einstellung des Beamten gegenüber Allgemeinheit und Staat ermöglicht. Außerdem kommt hier in Betracht, daß der ... auch gegen im engeren Sinne dienstliche Pflichten verstoßen hat, etwa, indem er unerlaubt Nebentätigkeit ausgeübt hat, oder indem er als Beamter Verwaltungsvorgänge bearbeitet hat, die durch Anträge seiner privaten Auftraggeber veranlaßt waren, so daß er in dem jeweiligen Verwaltungsverfahren nach §§ 1 Abs. 1 NdsVwVfG, 20 Abs. 1 Nr. 6 VwVfG von der dienstlichen Tätigkeit ausgeschlossen war.
Die Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen ergibt, daß dasjenige des Antragstellers wegen des Erfordernisses der Aufrechterhaltung einer integren Verwaltung das private Interesse des ... überwiegt. Der Antragsteller hat deshalb Anspruch auf Einsicht in die von ihm bezeichneten Unterlagen.
3.
Die Art und Weise, wie die erforderliche Einsicht gewährt wird, insbesondere die Frage, für welche Zeit die Unterlagen dem Antragsteller überlassen werden, unterliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Antragsgegners. Der Senat hält es nicht für erforderlich, hierüber besondere Anordnungen zu treffen.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 30 Abs. 1 EGGVG, 2 KostO.
Streitwertbeschluss:
Der Geschäftswert beträgt 5.000 DM.
Der Geschäftswert ist nach §§ 30 Abs. 3 EGGVG, 30 Abs. 2 KostO festgesetzt worden.