Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 18.06.1965, Az.: III A 102/64

Einbeziehung der Grundrente in das Einkommen bei der Berechnung der Hilfe zur Pflege; Notwendigkeit der Anrechnung des die Höchstgrenzen überschreitenden Einkommens; Anspruch auf Gewährung eines Pflegegeldes

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
18.06.1965
Aktenzeichen
III A 102/64
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1965, 15441
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:1965:0618.III.A102.64.0A

Verfahrensgegenstand

Gewährung eines höheren Pflegegeldes gemäß § 69 BSHG

Die III. Kammer des Verwaltungsgerichts Braunschweig hat
auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juni 1965
durch
Verwaltungsgerichtsrat Dr. Schreuer,
Verwaltungsgerichtsrat Dr. Waldeck,
Gerichtsassessor Dr. König sowie
die ehrenamtlichen Verwaltungsrichter Mackensen und Wendler
fürRecht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Der Beklagte wird verpflichtet, bei der Berechnung der Sozialhilfe (Pflegegeld) die dem Kläger nach dem BVG gewährte Grundrente nicht als Einkommen anzurechnen. Insoweit werden die Bescheide vom 14. März 1963 und 26. April 1963 und der Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 1964 aufgehoben.

  2. 2.

    Die Kosten trägt der Kläger zur Hälfte und der beklagte Landkreis zur Hälfte.

Gründe

1

I.

Der Kläger ist im Jahre 1897 geboren; er ist geschieden und alleinstehend. Er hat eine chronische Bronchitis mit Lungenerweiterung und Neigung zu Asthma-Anfällen. Diese Leiden sind nach dem im Rechtsstreit vorgelegten Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 27. Mai 1964 teils schicksalsbedingt, teils - nur im Sinne einer einmaligen Verschlimmerung - Kriegsfolgen. Er bezieht eine Grundrente nach § 31 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 %; eine Pflegezulage nach den BVG erhält er nicht. Außerdem bezieht er eine Invalidenrente von der Landesversicherungsanstalt, die zur Zeit 216,20 DM beträgt.

2

Der Kläger beantragte am 19. Dezember 1962/11. Januar 1963, ihm ein Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) zu gewähren. Ursprünglich hatte er auf einem Pflegegeld nach§ 69 Abs. 3 BSHG im Pauschsatz von 100,- DM bestanden, dieses Begehren aber in der mündlichen Verhandlung vom 18. Juni 1965 aufgegeben. Der Amtsarzt stellte am 11. Januar 1963 fest, daß der Kläger noch selbst koche und einkaufe, sich aber verkommen lasse; er befürwortete daher eine Pflegezulage von 30,- DM im Monat. Seit dem 21. Februar 1963 wird der Kläger von Frau Schaab, Vorsfelde, versorgt, die zwei- bis dreimal in der Woche zu ihm nach Danndorf kommt und seinen Haushalt betreut. Der Kläger zahlt ihr dafür nach den Ermittlungen der Stadt Vorsfelde im Monat 25,- bis 35,- DM.

3

Der Beklagte hat eine Pflegezulage (Hilfe zur Pflege) nach §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG in Höhe von 30,- DM für angemessen erachtet, darauf jedoch jeweils die Einkommensbeträge angerechnet, die die Einkommensgrenze des § 79 BSHGüberschritten. Bei der Berechnung des Einkommens ist der Beklagte vor allem davon ausgegangen, daß die Grundrente des Klägers nach dem BVG dem Einkommen hinzuzurechnen sei. Auf diese Weise ist zunächst mit Bescheid vom 14. März 1963 das Pflegegeld (in Höhe von 30,- DM) nur mit 23,60 DM bewilligt worden. Auf den Widerspruch des Klägers hat der Beklagte am 26. April 1963 den Bescheid vom 14. März 1963 aufgehoben. Dabei wurde infolge Erhöhung der Invalidenrente aber bei gleichbleibender Grundrente die Pflegezulage auf nunmehr 11,20 DM festgelegt.

4

Der Kläger führte zur Begründung des Widerspruchs aus, die Grundrente sei nicht anzurechnen; er machte Rechtsausführungen, die er später wiederholt hat. Der Beklagte wies durch Bescheid vom 8. Mai 1964 den Widerspruch zurück mit der Begründung, die gewährte Hilfe nach § 69 Abs. 2 BSHG sei mit 30,- DM angemessen. Sinngemäß hielt er daran fest, daß die Grundrente in das Einkommen des Klägers einzubeziehen sei.

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Dagegen richtet sich die am 3. Juni 1964 erhobene Klage. Nachdem der Kläger die Höhe der ihm erstatteten Aufwendungen für seine Pflegeperson (30,- DM) nicht mehr bemängelt, greift er nur noch den Rechtsstandpunkt der Beklagten an, daß bei Berechnung der Hilfe zur Pflege nach §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG die Grundrente in sein Einkommen einzubeziehen sei. Zur Begründung seiner Rechtsansicht trägt er vor: Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 15. Juni 1962 - DÖV 63, 49 - diene die Grundrente nach dem BVG nicht dem Lebensunterhalt, sondern der Mehrbedarfsdeckung. Das sei bei in dem weiteren Erkenntnis vom 26. August 1964 - DVBl. 65, 207 [BVerwG 26.08.1964 - BVerwG V C 99.63] - bestätigt worden, wonach bei Berechnung von Leistungen nach dem BSHG die Grundrente nach dem BVG nicht angerechnet werde. Auch das Verwaltungsgericht Hannover sei im Urteil vom 19. Juli 1963 - Az. III A 74/63 - zu dem Schluß gekommen, daß, wenn man den Mehrbedarf nicht anerkenne, der betroffene Kläger die Mehraufwendungen als Folge der Kriegsverletzung nicht decken könne. Denn die Grundrente sei nach § 77 BSHG nicht anrechnungsfrei, die Behörde könne ihren vollen Einsatz verlangen. - Es sei allerdings richtig, daß die bisher bekannten Urteile bei (allgemeiner) "Hilfe zum Lebensunterhalt" die Grundrente anrechnungsfrei ließen, während es sich beim Kläger um "Hilfe in besonderen Lebenslagen" handele. Das könne aber keinen Unterschied machen; denn beide Leistungen seien solche aus dem BSHG. Wenn man keinen Mehrbedarf in Höhe der Grundrente einräume, führe das zu Leistungsverzerrungen. Schließlich sei die Grundrente nach BVG keine dem Pflegegeld nach§§ 68, 69 BSHG gleichwertige Leistung, könne also auch aus dem Gesichtspunkt des § 77 BSHG nicht als demselben Zweck dienend angesehen werden und müsse daher als Einkommen unberücksichtigt bleiben.

6

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, bei der Sozialhilfe (Pflegegeld) die dem Kläger nach dem BVG gewährte Grundrente nicht als Einkommen anzurechnen und die Bescheide vom 14. März 1963 und vom 26. April 1963 und den Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 1964 insoweit aufzuheben.

7

Der beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Er vertritt die Auffassung, die Grundrente sei als Einkommen zu behandeln, weil nach § 76 Abs. 1 BSHG alle Einkünfte in Geld Einkommen seien, mithin auch die Grundrente nach dem BVG. Eine sondergesetzliche Ausnahmeregelung bestehe nicht. Die vom Kläger angeführten Beispiele der Rechtsprechung könnten nicht herangezogen werden. Sie behandelten Fälle der (allgemeinen) "Hilfe zum Lebensunterhalt"; im Falle des Klägers handele es sich aber um "Hilfe in besonderen Lebenslagen". Sinn der "Hilfe zum Lebensunterhalt" sei es, den notwendigsten Unterhalt des Bedürftigen sicherzustellen. Deshalb werde nur eine Mindestleistung gewährt und für den Bedarf der einfache Regelsatz zu Grunde gelegt. Bei der "Hilfe in besonderen Lebenslagen" dagegen werde für die Festlegung der Einkommensgrenze von einem zweifachen Bedarfsregelsatz ausgegangen. Das bedeute eine großzügigere Regelung. Sie erlaube es nicht, die Grundrente nach BVG noch zusätzlich als Mehrbedarf anzuerkennen.

9

Wegen des übrigen Vorbringens wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Vorgänge des Beklagten - Az. 40-A-11-5 - verwiesen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

10

II.

Die zulässige Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch begründet,

11

Der Kläger kann verlangen, daß seine Grundrente nach dem BVG vom Beklagten bei Berechnung der Pflegezulage nach §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG nicht in sein Einkommen miteinbezogen wird. Der Kläger hat nach den tatsächlichen unbestrittenen Verhältnissen einen Anspruch auf Zahlung einer Pflegezulage gemäß §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG, deren Höhe von 30,- DM nicht mehr beanstandet wird. Bei der Hilfe in besonderen Lebenslagen ist dem Hilfesuchenden allerdings nach § 79 Abs. 1 BSHG das Einkommen anzurechnen, das die dort genannte Höchstgrenze überschreitet. Das Einkommen des Klägersüberschreitet die Grenze jedoch nicht. Zwar zählen nach§ 76 Abs. 1 des BSHG alle Einkünfte zu dem Einkommen im Sinne dieses Gesetzes. Die Grundrente ist jedoch aus dem Gesichtspunkt des § 77 BSHG nicht als Einkommen mitzuzählen; denn§ 77 bestimmt, daß "Leistungen, die zu einem ausdrücklich genannten Zweck gewährt werden, nur insoweit als Einkommen zu berücksichtigen sind, als die Sozialhilfe im Einzelfall demselben Zweck dient". Die Grundrente ist also dann bei der Einkommensermittlung außer Betracht zu lassen, wenn (a) ihre Zweckbestimmung im BVG festgelegt ist und (b) diese eine andere ist als die der Pflegezulage nach § 69 Abs. 2 BSHG.

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Beide Voraussetzungen liegen vor.

13

a)

Zwar spricht das BVG in den Bestimmungen über die Grundrente nicht von deren "Zweck". Aus der ausdrücklichen Bestimmung des§ 1 BVG, daß das Gesetz Versorgung "wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung" gewährt, ergibt sich jedoch eine Zweckbestimmung. Das reicht aus, um von einem ausdrücklich genannten Zweck im Sinne des § 77 BSHG zu sprechen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht bedenkenfrei in seinem Urteil vom 26. August 1964 - BVerwGE 19, 118 [BVerwG 09.07.1964 - BVerwG VIII C 49.62] = DVBl 1965 S. 207 ff [BVerwG 26.08.1964 - V C 99.63] - festgestellt.

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b)

Der Zweck der Grundrente ist ferner ein anderer als der der Pflegezulage nach §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG. Aus§ 1 BVG ergibt sich nämlich, daß der Zweck aller Leistungen nach diesem Gesetz in erster Linie "Schadensausgleich" ist (BVG aaO). Mit der Grundrente soll die Schädigung an sich ausgeglichen werden; sie ist eine (geldliche) Anerkennung für den Nachteil der körperlichen Versehrtheit als solcher gegenüber Gesunden und damit für die Minderung der Erwerbsfähigkeit, für etwaige durch die Schädigung verursachten Mehraufwendungen, nicht zuletzt auch für die nichtwirtschaftlichen gesundheitlichen Schäden. Daraus, daß das BVG in § 1 die gesundheitlichen Schäden neben den wirtschaftlichen erwähnt, ergibt sich, daß die Grundrente nach dem BVG auch die nichtwirtschaftlichen, d.h. die ideellen Schäden wie z.B. Schmerzen, entschädigen soll. Sie ist - wie das OVG Lüneburg in seinem Urteil IV OVG A 60/63 vom 17. März 1965 zutreffend ausgeführt hat - als gewisser Ausgleich für die Beeinträchtigung dergesamten Lebensführung gedacht, wie sie aus der körperlichen Beschädigung als solcher mit dem sich häufig hieraus ergebenden seelischen Begleiterscheinungen entsteht. Die Grundrente dient allen diesen Zwecken, jedoch der Deckung des Mehrbedarfs nur in sehr geringfügigem Umfang. Das ergibt sich insbesondere daraus, daß die Höhe der Grundrente ausschließlich von dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit abhängt, nicht von der Höhe des Mehrbedarfs. Es kommt hinzu, daß der wesentliche Mehrbedarf durch besondere Leistungen nach dem BVG gedeckt wird, wie etwa durch das besondere Pflegegeld nach § 35 Abs. 1 oder die besonderen Leistungen nach § 10 ff BVG.

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Dagegen soll die Pflegezulage nach §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG ausschließlich einen Mehrbedarf decken, der durch Pflegebedürftigkeit - nicht durch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit - entsteht; diesem Zweck soll sie dienen, unabhängig davon, wodurch die Pflegebedürftigkeit entstanden ist. Etwa anderes wäre es, wenn der Kläger eine - von ihm ursprünglich erstrebte - Pflegezulage nach§ 69 Abs. 3 BSHG neben einer Pflegezulage nach§ 35 BVG begehren oder erhalten würde. Dies ist jedoch nicht der Fall.

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Demnach dienen die Grundrente nach BVG und die Pflegezulage nach§§ 68, 69 Abs. 2 BSGHG nichtdemselben Zweck. Das Wort "derselbe" drückt völlige Identität aus, im Gegensatz etwa zu Worten wie "dergleiche" oder "ein entsprechender". Die Zwecke mögen sich zwar in einem sehr kleinen Bereich insofern überschneiden, als die Grundrente wie gesagt je nach der Lage des Betroffenen auch einen gewissen verbleibenden Mehrbedarf decken könnte; jedoch ist dieser Teilzweck im Verhältnis zu dem sehr komplexen Zweck der Grundrente geringfügig und vor allem rechnerisch nicht zu erfassen.

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Abschließend ergibt sich, daß die Grundrente nach BVG und die Pflegehilfe nach §§ 68, 69 Abs. 2 BSHG so verschieden sind, daß bei der Einkommensermittlung die Grundrente außer Betracht zu lassen ist.

18

Über die rein rechnerische Ermittlung des Einkommens besteht kein Streit. (Das Einkommen des Klägers ohne die Grundrenteüberschreitet den Einkommenshöchstbetrag des § 79 BSHG allenfalls um 0,20 DM in der Zeit von der Rentenerhöhung am 1. Januar 1964 bis zur Erhöhung der Regelsätze am 1. Oktober 1964; diese 0,20 DM kann der Beklagte wegen§ 84 BSHG nach seinem Ermessen unberücksichtigt lassen).

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Die Kosten waren nach § 155 VwGO zu teilen, weil der Kläger seinen Antrag auf Zahlung eines Pflegegeldes von 100,- DM erst nach Klageerhebung zurückgenommen hat. Gerichtskosten werden nach§ 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.

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III.

Gegen dieses Urteil ist die Berufung an das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg statthaft. Sie ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils beim Verwaltungsgericht in Braunschweig schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb dieser Frist beim Oberverwaltungsgericht eingeht.