Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 25.01.1995, Az.: Ws 8/95

Abstrakte Erwartung einer Freiheitsstrafe von nicht unter einem Jahr als Haftgrund der Fluchtgefahr; Haftgrund der Fluchtgefahr im Fall der Einordnung der Tat als minder schweren Fall; Begründung des Haftgrundes der Fluchtgefahr bei noch nicht konkret geklärtem Wirkstoffgehalt eingeführten Cannabisharzes; Kriterien des Bundesgerichtshofs (BGH) für die Einordnung eines Betäubungsmittles als weiche Droge; Wahrscheinlichkeit der Flucht bei Suchtproblemen

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
25.01.1995
Aktenzeichen
Ws 8/95
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1995, 19633
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:1995:0125.WS8.95.0A

Verfahrensgang

vorgehend
GenStA ... - AZ: 1 AR (Ws) 2/95
LG ... - AZ: 31 Qs 58/94
StA ... - AZ: 801 Js 46759/94
AG ... - 17.11.1994 - AZ: 12 Gs 286/94

Fundstelle

  • StV 1995, 257-258

Verfahrensgegenstand

Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz

Prozessgegner

... geboren am 16. Juli 1968 in ... wohnhaft ... z Zt in der Justizvollzugsanstalt ...

In dem Ermittlungsverfahren
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts ...
am 25. Januar 1995
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die weitere Beschwerde des Beschuldigten wird der Haftbefehl des Amtsgerichts ... vom 17.11.1994 (12 Gs 286/94) aufgehoben.

  2. 2.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Beschuldigten im Beschwerdeverfahren werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

1

Die weitere Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft (§ 310 Abs. 1 StPO) und auch im übrigen zulässig, sie hat auch in der Sache Erfolg.

2

Der Haftbefehl des Amtsgerichts ... vom 17.11.1994 ist aufzuheben, da gegen den Beschuldigten der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht besteht. Unter Würdigung aller Umstände des Falles erscheint es nicht wahrscheinlicher, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen, als daß er sich ihm zur Verfügung halten wird.

3

Zwar besteht gegen den Beschuldigten der dringende Tatverdacht eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), wobei die Tat, je nachdem, ob von einer nicht geringen Menge des Betäubungsmittels auszugehen ist, mit einer Freiheitsstrafe von nicht unter einem Jahr (§ 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) oder nicht unter zwei Jahren (§ 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG) bedroht ist. Diese abstrakte Straferwartung allein vermag jedoch keine Fluchtgefahr zu begründen (vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO, 41 Aufl., § 112 Rdziff. 24), zumal der tatsächlich zu erwartende Freiheitsentzug noch von verschiedenen zu prüfenden Umständen abhängt, die insbesondere aus der Sicht des Beschuldigten die Verurteilung zu einer längeren Freiheitsstrafe ohne Bewährung nicht zwingend erscheinen lassen müssen. So steht bisher der konkrete Wirkstoffgehalt des eingeführten Canabisharzes noch nicht fest, so daß bei schlechter Qualität der vom Bundesgerichtshof angenommene Grenzwert von mindestens 7,5 g Tetrahydrocannabinol (THC) (vgl.: Strafverteidiger 1984, 466 f.) nicht erreicht sein könnte. Insoweit wird weiter zu überprüfen sein, ob an der vom BGH in dieser Entscheidung festgelegten Grenze nicht geringer Mengen bei Canabisprodukten in Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.03.1994 (StV 1994, 295, 299 ff.) festzuhalten sein wird. Aber auch unter Zugrundelegung eines mittleren THC-Gehaltes von 6 bis 11 Gewichtsprozenten (vgl.: Körner, BtMG, 4. Aufl., § 29 a BtMG, Rdziff 48 f.) kann bei der noch vorzunehmenden gebotenen Gesamtbetrachtung im jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, daß ein minderschwerer Fall gemäß § 29 a Abs. 2 bzw. § 30 Abs. 2 BtMG gegeben sein könnte, da neben der eingeführten Gesamtmenge (unter dem Vierfachen des Grenzwertes der nicht geringen Menge) auch die Erwägung Berücksichtigung finden kann, daß es sich bei dem eingeführten Cannabisprodukt um ein aus heutiger wissenschaftlicher Sicht weniger gefährliches Betäubungsmittel (sog. weiche Droge) handelt (vgl.: BVerfG, a.a.O., S. 295-298, Körner, a.a.O., § 29 a Rdziff. 111, § 30 Rdziff. 101). Angesichts der weiteren Tatsache, daß dem anwaltlich vertretenen Beschuldigten bekannt sein dürfte, daß in die Überprüfung der Voraussetzungen für einen minderschweren Fall auch die Täterpersönlichkeit und seine Resozialisierungschancen einfließen (vgl.: Körner, a.a.O., § 30 Rdziff. 99), ist der Fluchtanreiz nicht so erheblich, daß die Annahme gerechtfertigt ist, der Beschuldigte werde ihm nachgeben und flüchtig werden. Gegen die Annahme der Fluchtgefahr spricht weiterhin, daß der Beschuldigte sich in Kenntnis des gegen ihn erlassenen Haftbefehles dem Rat seines Verteidigers folgend zur Fortsetzung der Untersuchungshaft gestellt hat. Der Beschuldigte hat auch einen festen Wohnsitz bei seinen Eltern in ... und auch seine Freundin lebt in ... Angesichts dessen können auch die von dem Beschuldigten selbst eingeräumten noch bestehenden Suchtprobleme keine genügende Wahrscheinlichkeit der Flucht begründen, da keine hinreichend konkreten Tatsachen dafür bekannt sind, inwieweit diese Suchtprobleme ihn zu einer stabilen Lebensführung insoweit unfähig machen, daß die Gefahr begründet ist, daß sich der Beschuldigte zumindest zeitweilig dem laufenden Strafverfahren entziehen könnte.

4

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung der §§ 473 Abs. 3, 464 Abs. 1 StPO.