Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 05.01.1995, Az.: Ss (BZ) 176/94

Pflichtwidrige Handlungsweise durch Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ; Gesetzliche Merkmale einer Ordnungswidrigkeit; Anforderungen an den Sachverstand eines Laien

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
05.01.1995
Aktenzeichen
Ss (BZ) 176/94
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1995, 17972
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:1995:0105.SS.BZ176.94.0A

Fundstelle

  • NZV 1995, 406-407 (Volltext mit amtl. LS)

Verfahrensgegenstand

Ordnungswidriges Verhaltens im Straßenverkehr

Prozessführer

Student ... geb. am 24. Juni 1970 in ... wohnhaft ...

In der Bußgeldsache
hat der Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts ...
am 5. Januar 1995
beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts ... vom 5. Oktober 1994 wird zugelassen.

Das Urteil des Amtsgerichts ... vom 05.10.1994 wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Amtsgericht ... zurückverwiesen.

Gründe

1

I.

Durch das angefochtene Urteil ist der Betroffene wegen fahrlässigen Unterlassens der Sicherung einer Ladung in Tateinheit mit Verursachung eines Verkehrsunfalls zu einer Geldbuße von DM 120,00 verurteilt worden. Das Amtsgericht hat festgestellt: Der Betroffene befuhr am 11. April 1994 um 14.35 Uhr die Bundesautobahn A 7 bei ... in Richtung Süden mit dem Pkw Ford, amtl. Kennzeichen PE-CC 420. Auf dem Dach des Pkw hatte der Betroffene auf einem Fahrradträger ein Fahrrad montiert. Infolge unzureichender Sicherung löste sich das Fahrrad aus der Halterung und fiel auf einen nachfolgenden Pkw, der hierdurch beschädigt wurde. Das Amtsgericht hat nach Beweiserhebung die Auffassung vertreten, daß der Betroffene hätte erkennen können, daß die Sicherungen unzureichend waren.

2

Der Betroffene hat gegen dieses Urteil die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel zu verwerfen, da die Zulassung der Rechtsbeschwerde weder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung noch zur Fortbildung des Rechts erforderlich sei.

3

II.

Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist zulässig. Er hat auch in der Sache Erfolg. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG geboten, um die Nachprüfung des angefochtenen Urteils zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Die danach zulässige Rechtsbeschwerde führt zu einem Zwischenerfolg, nämlich zur Aufhebung und Zurückverweisung. Im einzelnen:

4

1.

Eine Verurteilung nach §§ 1 Abs. 2, 22 Abs. 1 StVO kommt nur bei schuldhaften, hier fahrlässigem Verhalten des Betroffenen in Betracht. Insoweit hatte das Amtsgericht zunächst die (objektive) Pflichtwidrigkeit der Handlungsweise des Betroffenen festzustellen, die in der Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt besteht (vgl. Rengier in KK - OWiG, § 15 Rdnr. 18). Das angefochtene Urteil ist in diesem Punkt indes lückenhaft.

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Der Betroffene hat sich dahin eingelassen, er habe das Fahrrad entsprechend der Bedienungsanleitung für den Fahrradträger montiert; aus der Bedienungsanleitung sei nicht erkennbar gewesen, daß das Fahrrad für den benutzten Dachgepäckträger ungeeignet gewesen sei (womit umgekehrt gemeint ist, daß das Trägersystem für das zu transportierende Rad ungeeignet gewesen sei). Mit dieser Einlassung des Betroffenen hat sich das angefochtene Urteil nicht hinlänglich auseinandergesetzt. Denn es hat es unterlassen, in den Urteilsgründen "die für erwiesen erachteten Tatsachen" (§ 267 Abs. 1 S. 1 StPO) anzugeben, "in denen die gesetzlichen Merkmale" der Ordnungswidrigkeit, hier des Merkmals der Pflichtwidrigkeit, gefunden worden sind. Diese Tatsachen dürfen nicht nur mit den Worten des Gesetzes festgestellt, mit gleichbleibenden Worten umschrieben oder durch allgemeine Redewendungen oder Wertungen ersetzt werden; vielmehr müssen die gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen in einzelne, greifbare, konkrete Tatsachen aufgelöst werden, da andernfalls das Rechtsbeschwerdegericht nicht in der Lage ist, die Subsumtion der Tatsachen unter das Recht auf ihre Richtigkeit zu überprüfen (OLG Hamm, VRS 43, 448 m.w.N.). Daran fehlt es im vorliegenden Fall, wenn das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil lediglich mitteilt, daß "die Befestigungselemente zur Sicherung der beiden Räder allenfalls für eine unsichere Befestigung des Fahrrades sorgen könnten", die Befestigungselemente nur eine "mangelhafte Eignung" aufwiesen, der Verschluß wegen der Stärke der Reifen "nicht zu einer ordnungsgemäßen Sicherung geeignet" und "ein ordnungsgemäßer Transport nicht möglich" gewesen sei. Ausführungen dazu, ob sich aus der Bedienungsanleitung aufgrund konkreter Beschreibung ergeben hat, ob das System für das zu transportierende Rad geeignet war oder nicht, enthält das angefochtene Urteil demgegenüber nicht. Es befaßt sich - falls das Trägersystem grundsätzlich geeignet gewesen sein sollte - weiter nicht mit der Frage, inwieweit ggf. schon die Einhaltung der Bedienungsanleitung die Pflichtwidrigkeit ausschließt oder ob darüber hinaus - auch aus der Sicht eines Laien - aufgrund besonderer Umstände noch weitere Vorsichtsmaßnahmen hätten bedacht und/oder getroffen werden müssen.

6

2.

Weiterhin hatte das Amtsgericht für den Vorwurf der Fahrlässigkeit die Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung zu prüfen (Rengier in KK - OWiG, a.a.O., Rdnr. 30; Dreher/Tröndle, StGB, 46. Aufl., § 15 Rdnr. 17). Insoweit war besonders kritisch zu hinterfragen, ob es - wenn denn schon Pflichtwidrigkeit zu bejahen sein sollte - nicht jedenfalls an der Voraussehbarkeit der mangelnden Ladungssicherung bzw. des Unfalls fehlt, wenn der Betroffene die Bedienungsanleitung für das Trägersystem genau beachtet hat (vgl. Dreher/Tröndle, a.a.O., § 15 Rdnr. 16 und § 222 Rdnr. 8; Schroeder in LK, StGB, 11. Aufl., § 16 Rdnrn. 162 und 166; Cramer in Schönke/Schroeder, StGB, 24. Aufl., § 15 Rdnr. 184). Hierbei spielt eine wesentliche Rolle, ob es sich - auch gerade aus der Sicht des Betroffenen - bei dem Fahrradträgersystem um ein Qualitätsprodukt eines eingeführten Herstellers mit aus der Sicht eines Laien sorgfältig erstellten Unterlagen handelte, die eine gewisse Verläßlichkeit nahelegten, oder ob ggf. konkret festzustellende Tatsachen auch dem Laien Anlaß gaben, an der Zuverlässigkeit von Trägersystem und Unterlagen in dem einen oder anderen Punkt zu zweifeln. Hierbei dürfen die Anforderungen an den Sachverstand des Laien nicht überspannt werden, der sich regelmäßig auf die Angaben eines eingeführten Herstellers verlassen darf, wenn nicht besondere Umstände Anlaß dazu geben, an der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieser Angaben zu zweifeln (vgl. BayObLG VRS 75, 231). Daß das Amtsgericht die danach erforderliche Prüfung vorgenommen hat, ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil nicht, in dem lediglich mehrfach ausgeführt wird, daß dem Betroffenen die mangelhafte Sicherung bzw. die mangelhafte Eignung der Befestigungselemente hätten auffallen können und müssen, ohne die konkreten Tatsachen hierfür zu benennen und die gezogene Schlußfolgerung nachvollziehbar zu begründen.

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3.

Auf Bedenken stoßen auch die Ausführungen des Amtsgerichts, der Sachverständige habe in seinem Gutachten "festgelegt" und "nachgewiesen", daß der Betroffene die mangelhafte Eignung der Befestigungselemente hätte erkennen können und müssen; es hätte ihm auffallen müssen, daß der Verschluß nicht zu einer ordnungsgemäßen Sicherung geeignet gewesen sei. Denn es ist nicht Sache des Sachverständigen, zu entscheiden, ob der Betroffene fahrlässig gehandelt hat, d.h. ob ihm die Pflichtwidrigkeit seines Handelns nachzuweisen und die Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung vorzuwerfen ist. Die Subsumtion unter beide Rechtsbegriffe erfordert eine rechtliche Wertung, die dem Gericht, nicht aber dem Sachverständigen obliegt. Das Gericht hat in eigener Verantwortung zunächst zu prüfen, ob und in welchem Umfang die von dem Sachverständigen mitgeteilten Tatsachen der Wahrheit entsprechen. Alsdann hat das Gericht in eigener Verantwortung die Frage zu beantworten, ob die festgestellten Tatsachen die rechtlichen Schlußfolgerungen zulassen, daß der Betroffene zum einen pflichtwidrig gehandelt hat und zum anderen für ihn der tatbestandsmäßige Erfolg voraussehbar gewesen ist (vgl. BGH GA 1962, 116).

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4.

In Anbetracht der aufgezeigten Mängel des angefochtenen Urteils ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen. Denn es geht im vorliegenden Fall um die grundsätzliche Frage, inwieweit greifbare, konkrete Tatsachen zur Ausfüllung von Tatbestandsmerkmalen festzustellen sind und was zur Aufklärung und Würdigung der Einlassung des Betroffenen zu veranlassen ist. Daher kann ohne Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts mit weiteren unzulänglichen Entscheidungen in gleich- oder ähnlich gelagerten Fällen gerechnet werden (Göhler, OWiG, 10. Aufl., § 80 Rdnr. 5). Die danach zulässige Rechtsbeschwerde fuhrt aus den Gründen zu 1. bis 3. zur Aufhebung und Zurückverweisung. Für eine eigene Sachentscheidung des Senats (§ 79 Abs. 6 OWiG) ist kein Raum, weil - wie dargelegt - weitere Feststellungen zu treffen sind.

9

III.

Eine Kostenentscheidung ist derzeit nicht veranlaßt, da erst nach erneut durchgeführter Hauptverhandlung der Erfolg des Rechtsmittels beurteilt werden kann.