Sozialgericht Oldenburg
Beschl. v. 20.02.2020, Az.: S 25 AY 3/20 ER

Gewährung von ungekürzten Leistungen für einen Asylbewerber hinsichtlich Anordnung der Abschiebung bei Ausreisepflicht

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
20.02.2020
Aktenzeichen
S 25 AY 3/20 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 13101
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 22.1.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15.1.2020 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Der Antragsteller begehrt ungekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz- AsylbLG - von dem Antragsgegner.

Der am C. 1988 geborene Antragsteller ist am 12.11.2019 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat einen Asylantrag gestellt. Er ist kolumbianischer Staatsangehöriger. Zuvor hatte er in der Schweiz ein Asylverfahren betrieben.

Mit Bescheid vom 5.12.2019 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - BAMF - den Asylantrag als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - nicht vorliegen und ordnete die Abschiebung in die Schweiz an. Zur Begründung stellte es fest, dass nach der Dublin III-Verordnung die Schweiz zuständig für die Bearbeitung des Asylantrags sei. Diese habe ihre Zuständigkeit mit Schreiben vom 4.12.2019 erklärt. Eine hiergegen gerichtete Klage vor dem Verwaltungsgericht D. ist noch nicht beendet. Den gegen die Abschiebungsanordnung gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO lehnte das Verwaltungsgericht D. mit Beschluss vom 14.1.2020 ab.

Seit dem 11.12.2019 ist der Antragsteller bei dem Antragsgegner in der Außenstelle D. untergebracht. Mit Bescheid vom 25.11.2019 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller für die Zeit vom 15.11.2019 bis zum 31.12.2019 Leistungen nach den §§ 3, 3a i. V. m. § 1 AsylbLG. Mit Schreiben vom 20.12.2019, dem Antragsteller am 30.12.2019 zugegangen, hörte der Antragsgegner den Antragsteller zu einer beabsichtigten Einschränkung seines Anspruchs gemäß § 1a Abs. 7 AsylbLG an. Mit Bescheid vom 2.1.2020 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller ab dem 1.1.2020 Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG AsylbLG für den Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung und Gesundheitspflege in Form von Sachleistungen und daneben eine Bargeldleistung in Höhe von 139 EUR monatlich sowie einen Wertgutschein in Höhe von 33,93 EUR monatlich.

Mit Bescheid vom 15.1.2020 hob der Antragsgegner den Bescheid vom 25.11.2019 und vom 2.1.2020 auf und gewährte dem Antragsteller ab dem 15.1.2020 bis zu seiner Ausreise oder Abschiebung, längstens bis zum 14.7.2020 (sechs Monate) lediglich eingeschränkte Leistung in Höhe des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung sowie Gesundheit und Körperpflege als Sachleistung sowie Leistungen bei Krankheit, bei vorliegender Notwendigkeit nach § 4 AsylbLG.

Mit Schreiben vom 22.1.2020 erhob der Antragsteller hiergegen Widerspruch. Er machte die Verfassungswidrigkeit der Anspruchseinschränkung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG geltend. Die Vorschrift sei migrationspolitisch motiviert, was nach den Urteilen vom 18.07.2012 zu den Az.: 1 BvL10/10, 1 BvL 2/11 nicht hinnehmbar sei. Zudem meldete er an, dass er keine Leistungen zur Deckung seines Bedarfs an körperlicher Pflege und Hygiene erhalte. Es fehle ihm an Waschmitteln für den Körper, Zahnpasta und Zahnbürste sowie Artikeln zur Rasur. Insoweit stellte er gleichzeitig Antrag die Gegenstände zu bewilligen.

Über den Widerspruch hat der Antragsgegner - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden.

Unter dem 24.1.2020 hat der Antragsteller das Sozialgericht Oldenburg um Eilrechtsschutz nachgesucht. Er macht geltend, dass die Einschränkung seines soziokulturellen Existenzminimums verfassungswidrig sei. Er verweist auch auf das Urteil des BVerfG vom 5.11.2019 zu dem Az. 1 BvL 7/16, wonach zu dem menschenwürdigen Existenzminimum die physische und soziokulturelle Existenz gleichermaßen zähle. Im Übrigen sei nach der Rspr. des EuGH ein menschenwürdiger Lebensstandard zu gewährleisten (Rechtssache Haqbin C- 233/18).

Er beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 22.1.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15.1.2020 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners sowie des BAMF verwiesen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Der Eilantrag war sinngemäß als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 22.1.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15.1.2020 auszulegen.

Maßgebend für die Bestimmung der statthaften Antragsart ist der im Hauptsacheverfahren statthafte Rechtsbehelf. Ist in der Hauptsache eine Anfechtungsklage statthaft, richtet sich das Eilverfahren nach § 86b Abs. 1 SGG. Vorliegend wäre in der Hauptsache eine Anfechtungsklage zu erheben, ohne dass es einer weiteren Leistungsklage zur Verwirklichung des Begehrens des Antragstellers auf uneingeschränkte Grundleistungen bedarf. Bei gerichtlicher Aufhebung der in dem Bescheid vom 15.1.2020 verfügten Aufhebungsentscheidung würde der Bescheid vom 2.1.2020 wiederaufleben und sich daraus ein unmittelbarer Leistungsanspruch des Antragstellers auf Leistungen nach Maßgabe der §§ 3, 3a AsylbLG ergeben.

Mit Bescheid vom 2.1.2020 sind dem Antragsteller Grundleistungen monatlich ab dem 1.1.2020 durch Sachleistungen für seinen Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung und Gesundheitspflege sowie darüber hinaus Leistungen in Höhe von 139 EUR zur Deckung seines soziokulturellen Bedarfs in bar und Wertgutscheine in Höhe von 33,93 EUR bewilligt worden. Es handelt sich um eine Dauerbewilligung von Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG.

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen - wie hier wegen § 11 Abs. 4 Nr. 1 und 2 AsylbLG - Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Bei der im vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich gebotenen summarischen Prüfung ist im Grundsatz die gesetzgeberische Entscheidung für das Entfallen der aufschiebenden Wirkung zu beachten und damit dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug zunächst Vorrang einzuräumen (vgl. Binder in: Lüdtke Sozialgerichtsgesetz 4. Aufl. 2012 § 86b Rn. 18). Insoweit ist im Rahmen des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in einem ersten Schritt zu prüfen, ob der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist.

Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit nach der derzeit gültigen Gesetzeslage kann weder im Hinblick auf die Aufhebungsentscheidung noch im Hinblick auf die eingeschränkte Leistungsbewilligung bejaht werden. Zunächst erachtet das Gericht bei der gebotenen zurückhaltenden Gesetzesanwendung des § 1 a Abs. 7 AsylbLG es für richtig, bei bereits gestelltem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, eine solche eingeschränkte Leistungsbewilligung erst nach der ablehnenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu verfügen. Insoweit ist abzuwarten, ob sich der Ausnahmetatbestand des § 1a Abs. 7 Satz 2 AsylbLG realisiert. Daher dürften die Voraussetzungen des Tatbestands gem. § 1a Abs. 7 AsylbLG, erst nachdem das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung abgelehnt hat, vorgelegen haben. Dies stellt eine rechtliche Änderung i.S.d. § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 48 SGB X dar.

Dennoch war die aufschiebende Wirkung aufgrund der bestehenden erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken an der Regelung des § 1a Abs. 7 AsylbLG anzuordnen (vgl. hierzu die kontrovers geführte Diskussion in der Rspr.: SG Landshut S 11 AY 79/19 ER; SG Osnabrück Beschluss - 27.01.2020 - S 44 AY 76/19 ER).

Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung scheidet nicht immer schon dann aus, wenn keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Art. 19 Abs. 4 GG sichert den Rechtsschutz im konkreten Einzelfall. Um einen ausreichenden Grundrechtsschutz zu gewähren, kann es notwendig werden, allein aufgrund einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung zu entscheiden (Binder a.a.O. Rn. 18). Dies gilt insbesondere beim Entzug existenzsichernder Leistungen. Zwar ist zweifelhaft, ob in der Konstellation der einstweiligen Regelungsanordnung es mit der Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG) vereinbar ist, wenn ein Gericht die Auffassung vertritt, entgegen einer in Kraft getretenen Neuregelung wegen Zweifeln an deren Verfassungsmäßigkeit dem von der Neuregelung erfassten und hierdurch von (höheren) Leistungen ausgeschlossenen Personenkreis im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gleichwohl Leistungen zusprechen zu dürfen vgl. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 86b SGG (Stand: 03.02.2020), Rn. 78). Dies braucht vorliegend jedoch nicht entschieden zu werden.

Im Falle der Anfechtungskonstellation (also der Abwendung eines Eingriffs in grundrechtlich geschützte Positionen) kann die aufschiebende Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG angeordnet werden, wenn das Gericht ernstliche Zweifel hat, ob die von der Behörde für ihren Verwaltungsakt beanspruchte Ermächtigungsgrundlage verfassungsgemäß ist (Burkiczak a.a.O. Rn. 79).

Der Tatbestand des § 1a Abs. 7 AsylbLG ist ausschließlich auf die Durchsetzung des asyl- bzw. ausländerrechtlichen Konzepts ausgerichtet und nicht an leistungsrechtlichen Bedarfslagen orientiert (vgl. Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1a AsylbLG (Stand: 01.02.2020), Rn. 145). Dies wirft im Hinblick auf das Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 - erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit auf. Kernaussage der dortigen Entscheidung war, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht relativierbar ist. Dies hat das BVerfG in seinem aktuellen Urteil zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Einschränkungen von Leistungen nach dem SGB II nochmals aufgegriffen (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 - 1 BvL 7/16 -, Rn. 120, juris). Es hat deutlich gemacht, dass der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet ist, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zur Verfügung stehen und der entsprechende Anspruch allen zusteht und dem Grunde nach unverfügbar ist und selbst durch vermeintlich "unwürdiges" Verhalten nicht verloren geht (BVerfG a.a.O).

Das BVerfG hat die bereits zuvor getroffenen Erwägungen, dass diese Verpflichtung durch Erreichung migrationspolitischer Erwägungen nicht zu relativieren ist, neuerlich bekräftigt und auf seine dortige Entscheidung verwiesen, indem es ausführt: "Das Sozialstaatsprinzip verlangt staatliche Vor- und Fürsorge auch für jene, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind (vgl. BVerfGE 35, 202 [BVerfG 05.06.1973 - 1 BvR 536/72] (236)). Diese Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren (vgl. BVerfGE 132, 134 (173 Rn. 95))" (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 - 1 BvL 7/16 -, Rn. 120, juris).

Insoweit ist fraglich, ob der hinter der Regelung stehende Gesetzeszweck der Durchsetzung der Ausreisepflicht sowie der Begrenzung der Sekundärmigration und das Interesse an Einsparungen von Ausgaben (vgl. BT-Drucksache 19/10047) ein legitimes Ziel zur Einschränkung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist.

Die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit bestehen umso mehr als im Rahmen des § 1a Abs. 7 AsylbLG unerheblich ist, ob der Leistungsbezieher durch Korrektur seines Verhaltens (durch ggf. Ausreise) die Einschränkung seines Existenzminimums abwenden kann. Eine Ausreisepflicht wird i.R.d. der Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 31 Abs. 6 AsylG nicht statuiert. Der Asylbewerber wird nicht zur Ausreise aufgefordert und die Abschiebung angedroht, sondern direkt eine Abschiebung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 2. Alt. AsylG angeordnet. Eine Ausreisepflicht und -möglichkeit ist auch i.R.d. § 1a Abs. 7 AsylbLG nicht zu prüfen. Der Absatz 7 erfasst gerade auch Personen die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz besitzen. Es erscheint sehr zweifelhaft, ob unter diesen Umständen eine Leistungsminderung verhältnismäßig sein kann. Insbesondere fragt sich wie das dahinterstehende Ziel, die Ausreisepflicht besser oder schneller durchzusetzen erreicht werden soll, wenn eben nicht feststeht, dass der Einzelne zur Ausreise verpflichtet ist oder sogar ob ihm die Ausreise möglich ist. Vielmehr erscheint in vielen Fällen ein Abwarten auf die Abschiebung nötig, ohne dass der Einzelne ausreisen kann, oder in dieser Zeit für ihn eine (legale) Möglichkeit besteht seinen Bedarf an soziokulturellen Existenzminimum anderweitig zu decken.

Zwar mag das mit dem Gesetz verfolgte generalpräventive Ziel der Verhinderung von Sekundärmigration aus anderen EU-Mitgliedstaaten der Schweiz, Island, Norwegen (nach einer gewissen Anlaufzeit) erreicht werden. Im Einzelfall dürfte sich jedoch der Zweck der früheren Ausreise nicht realisieren.

Auch die Bundesregierung prüft derzeit, ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 (- 1 BvL 7/16 -) zu den Sanktionen im SGB II Auswirkungen auf die grundlegende Frage der Vereinbarkeit der Anspruchseinschränkungen nach § 1a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG) hat und sich daraus Handlungsbedarf ergeben könnte. (- BT-Drucksache 19/16264, Nr. 73 vom 3.1.2020, S. 49).

Wegen des grundrechtlichen Gewichts der Leistungen, die die Menschenwürde des Empfängers sichern soll, muss hier im Rahmen der Abwägungsentscheidung die gesetzgeberische Wertung für die sofortige Vollziehbarkeit zurücktreten.

Ein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines auf einem verfassungsrechtlich bedenklichen Gesetz beruhenden Verwaltungsaktes ist nicht erkennbar.

Durch die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den aufhebenden und beschränkt gewährenden Bescheid vom 28.1.2020 sind dem Antragsteller die bewilligten Leistungen aus dem Bescheid vom 2.1.2020 auszuzahlen, ohne dass es eines weiteren Ausspruches bedarf.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.