Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 16.12.2011, Az.: 2 B 269/11
unbestimmtes Alter; Bestimmung des Alters; forensische Altersbestimmung; Flüchtling; Inobhutnahme; Minderjährigkeit; Glaubhaftmachung; Prozessfähigkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 16.12.2011
- Aktenzeichen
- 2 B 269/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 45152
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 33a Abs 1 S 1 SGB 1
- § 36 Abs 1 S 1 SGB 1
- § 62 SGB 1
- § 42 Abs 1 S 2 SGB 8
- § 123 Abs 1 VwGO
- § 62 Abs 4 VwGO
Tenor:
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller vorläufig in einer Einrichtung der Jugendhilfe unterzubringen und zu versorgen. Diese Anordnung erfolgt unter der Maßgabe, dass sich der Antragsteller zur Altersfeststellung folgenden Untersuchungen unterzieht:
a) Untersuchung und Anamnese durch einen rechtsmedizinisch erfahrenen Arzt im Hinblick auf allgemeine körperliche Reifezeichen sowie Hinweise auf mögliche Entwicklungsverzögerungen;
b) wenn notwendig, zusätzlich eine zahnärztliche Untersuchung zur Feststellung der Wurzelentwicklung der Weisheitszähne;
c) wenn notwendig, zusätzlich eine radiologische Untersuchung des Kiefers (Panoramaschichtaufnahme u.a. zur Feststellung möglicher Gründe einer Entwicklungsverzögerung);
d) wenn notwendig, zusätzlich eine radiologische Untersuchung der Schlüsselbeine.
Die Durchführung dieser Untersuchungskette ist im Ermessen der durchführenden Ärzte zu beenden, sobald für die Erstellung eines Altersgutachtens hinreichend gesicherte Erkenntnisse gewonnen wurden.
2. Die Verpflichtung des Antragsgegners endet mit der Erstellung des Altersgutachtens entsprechend Ziffer 1) dieses Beschlusses, spätestens jedoch mit Ablauf von drei Monaten nach Zustellung dieses Beschlusses (mit Gründen) an die Beteiligten.
3. Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes abgelehnt.
4. Der Antragsteller und der Antragsgegner haben die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
5. Der Antrag des Antragstellers auf Bestellung eines Prozesspflegers wird abgelehnt.
Gründe
Die Anträge des Antragstellers,
1. den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller vorläufig - bis zur Entscheidung über diesen Rechtsstreit, längstens aber bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres - in Obhut zu nehmen, und
2. für den Antragsteller einen Prozesspfleger zu bestellen haben nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Der Antrag auf Bestellung eines Prozesspflegers ist abzulehnen, da der Antragsteller für das vorliegende Verfahren prozessfähig ist.
Die Prozessfähigkeit ist vom Gericht nach § 62 Abs. 4 VwGO i.V.m. § 56 Abs. 1 ZPO in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Dabei kommt es im vorliegenden Verfahren nicht darauf an, ob der Antragsteller nach dem Prozessrecht seines Heimatstaates (Afghanistan) in einem entsprechenden Verfahren vor den Heimatgerichten prozessfähig wäre. Denn nach §§ 62 Abs. 4 VwGO i.v.m. § 55 ZPO ist ein ausländischer Staatsangehöriger für den Inlandsprozess auch dann prozessfähig, wenn zwar das Heimatrecht ihm diesen Status verweigert, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht aber zubilligt. Der nach seinem Heimatrecht Prozessunfähige bedarf also für einen Rechtsstreit im Inland keines gesetzlichen Vertreters, wenn ein Deutscher in derselben Lage prozessfähig wäre.
Hieran gemessen ist der Antragsteller nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I teilweise handlungsfähig und daher nach deutschem Recht für das vorliegende Verfahren prozessfähig nach
§ 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann derjenige Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen, der das 15. Lebensjahr vollendet hat. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt. Der Antragsteller ist nach eigenem Bekunden 16 Jahre alt; der Antragsgegner hält ihn für volljährig; für ein Unterschreiten der Altersgrenze bestehen keine Anhaltspunkte. Dem Antragsteller geht es auch um die Entgegennahme einer Sozialleistung im Sinne von § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Zwar handelt es sich bei der Inobhutnahme selbst nicht um eine Leistung im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB VIII, sondern gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII um eine andere Aufgabe der Jugendhilfe und damit im Kern um eine Aufgabe der Eingriffsverwaltung (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2006, - III ZR 164/05 -, juris, RdNr. 12). Soweit der Staat zur Inobhutnahme des Kindes oder Jugendlichen im Rahmen des staatlichen Wächteramts verpflichtet ist, besteht jedoch zugleich ein korrespondierender Leistungsanspruch des Kindes oder Jugendlichen gemäß § 42 Abs. 1 SGB sowie auf die Gewährung der Hilfen nach § 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII. Insoweit liegt eine Sozialleistung im Sinne des § 11 SGB I vor, und zwar zumindest eine Dienstleistung gemäß § 11 Satz 2 SGB I als persönliche und erzieherische Hilfe (vgl. auch einen begünstigenden Verwaltungsakt annehmend - OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Oktober 2009 - OVG 6 S 33.09 -, juris, RdNr. 5; vgl. hierzu auch insgesamt OVG Hamburg, Beschluss vom 09. Februar 2011 - 4 Bs 9/11 -, juris, RdNr. 21 ff., m.w.N.).
Die Handlungs- und Prozessfähigkeit des Antragstellers erstrecken sich auf den zu entscheidenden Streit einschließlich der Frage, ob und inwieweit der Antragsteller verpflichtet ist, an der Altersfeststellung nach § 62 SGB I mitzuwirken. Denn Kehrseite der Handlungsfähigkeit nach § 36 Abs. 1 SGB I sind neben den Rechten die sich hieraus ergebenden Pflichten, insbesondere die Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff. SGB I (vgl. auch insoweit OVG Hamburg, Beschluss vom 09. Februar 2011 - a.a. O.-, juris, RdNr. 27).
2. Der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber nur zum Teil begründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Dabei sind sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch ein Anordnungsanspruch, d.h. die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg des geltend gemachten Begehrens in der Hauptsache, gemäß § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen.
a. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII nicht glaubhaft gemacht.
Nach dieser Bestimmung kann nur ein Kind oder ein Jugendlicher, nicht jedoch ein junger Volljähriger (vgl. § 7 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 SGB VIII) in Obhut genommen werden. Es muss also feststehen, dass noch Minderjährigkeit gegeben ist, und für den Erlass einer einstweiligen Anordnung muss dies zumindest im Sinne von § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht sein (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 29. August 2005 - 12 B 1312/05 -, NVwZ-RR 2006, 574 Rn. 1, 3). Ein anderes Verständnis, nach dem trotz bestehender Sachverhaltszweifel aufgrund der Eigenangaben des Ausländers die Minderjährigkeit gleichsam fingiert wird und die Inobhutnahme damit letztlich ohne zureichende Tatsachenkenntnis erfolgt, ist rechtlich nicht zulässig. Im Zuge einer solchen Maßnahme müsste das Jugendamt die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers für einen möglicherweise bereits Volljährigen veranlassen. Nach § 42 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII übt das Jugendamt während der Inobhutnahme das Recht der Beaufsichtigung, Erziehung und Aufenthaltsbestimmung aus. Diese Aufgaben kann und darf das Jugendamt nicht wahrnehmen, wenn die Volljährigkeit des Betroffenen ernsthaft in Betracht kommt. Möchte eine Person, deren Minderjährigkeit entsprechenden Zweifeln unterliegt, beispielsweise abends nicht zur Einrichtung zurückkehren, sondern anderswo übernachten, ist der Antragsgegner ersichtlich rechtlich nicht befugt, eine Rückkehr nach Maßgabe von § 42 Abs. 6 SGB VIII zu erzwingen. Dies setzte die Minderjährigkeit voraus (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 14. Februar 2011 - 4 Bs 282/10 -, juris, RdNr. 18).
Zunächst ist der Antragsteller nicht deshalb als minderjährig anzusehen, weil er selbst erklärt, 16 Jahre alt zu sein. Zwar ist nach § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB I in den Fällen, in denen Rechte oder Pflichten davon abhängig sind, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist, das Geburtsdatum maßgebend ist, das sich aus der ersten Angabe des Berechtigten oder Verpflichteten oder seiner Angehörigen gegenüber einem Sozialleistungsträger ergibt. Aus dieser Vorschrift kann der Antragsteller aber letztlich nichts für seine Position herleiten. Das Oberverwaltungsgericht Hamburg (Beschluss vom 09. Februar 2011, a.a.O., juris, RdNr. 60) hat in einem vergleichbaren Fall zur Bindung der Sozialbehörden an das behauptete Geburtsdatum ausgeführt:
„Sind Rechte oder Pflichten davon abhängig, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist, ist nach § 33a Abs. 1 SGB I das Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der „ersten Angabe“ des Berechtigten oder Verpflichteten gegenüber einem Sozialleistungsträger ergibt. Maßgebend ist damit die Erstangabe des Geburtsdatums, das sich als Ergebnis der behördlichen Ermittlungen - grundsätzlich unter den Einschränkungen des Absatzes 2 der Vorschrift - als rechtsverbindlich herausstellt (vgl. LSG Essen, Urt. v. 5.10.2009 – L 3 R 43/09 – juris, Rn. 21, 22, 24). Ob dies zwingend eine Sachverhaltskonstellation voraussetzt, in der es zu einer - hier bisher fehlenden - abweichenden „zweiten Angabe“ kommt, bedarf keiner Entscheidung. Dafür mag die Entstehungsgeschichte von § 33a SGB I sprechen. Es sollte die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen in Fällen vermieden werden, in denen aufgrund einer Änderung von Geburtsdaten ein längerer Bezug von Sozialleistungen (z.B. des Kindergeldes) oder ein früherer Bezug derselben (z.B. einer Rente wegen Alters) beantragt wird. Hintergrund für die Regelung ist, dass ausländische Rechtsordnungen die Möglichkeit vorsehen, das Geburtsdatum nachträglich zu ändern, was im deutschen Sozialrecht zu Vorteilen führen kann, die in der jeweiligen ausländischen Rechtsordnung nicht damit verbunden sind (vgl. BT-Drs 13/8994, S. 67). Hierauf kommt es aber im Ergebnis nicht an. Aus der Entstehungsgeschichte der Norm ergibt sich nämlich ebenfalls, dass sie nicht als einseitiges Altersbestimmungsrecht des Berechtigten oder Verpflichteten (miss-)verstanden werden darf. Die Behörde ist auch dann, wenn kein Fall des Absatzes 2 vorliegt, nicht zwangsläufig an das behauptete Geburtsdatum gebunden. Nur wenn besondere Umstände, die eine Aufklärung nahelegen, fehlen, wird die Behörde das genannte Datum regelhaft als rechtlich verbindlich anzusehen haben (vgl. BT-Drs 13/8994, a.a.O.). Die (Erst-)Angaben müssen nach § 33a Abs. 1 SGB I also nicht ungeprüft angenommen und dokumentiert werden (vgl. Seewald in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht 67. Ergänzungslieferung 2010, § 33a SGB I, Rn. 4, 11-13).“
Diesen überzeugenden Ausführungen folgt das beschließende Gericht für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. Daher hätte der Antragsteller aufgrund der durch den Antragsgegner dargelegten Zweifel an dem behaupteten Alter von 16 Jahren seine Minderjährigkeit glaubhaft machen müssen. Dies ist ihm jedoch nicht gelungen. Der Antragsteller hat insbesondere keine beweiskräftigen Urkunden vorgelegt, aus denen sich seine Minderjährigkeit mit der für eine Glaubhaftmachung hinreichenden Wahrscheinlichkeit ergibt. Die von ihm in das Verfahren eingebrachte Geburtsurkunde liegt nicht im Original vor. Zudem ergibt sich aus ihr ein von dem Vortrag des Antragstellers abweichendes Alter von (erst) 15 Jahren. Zwar hat der Antragsteller in der nicht öffentlichen Sitzung des Amtsgerichts D. vom 22. November 2011 (E.) hierzu erklärt, im Hinblick auf den von ihm abzuleistenden Militärdienst sei auf Veranlassung seiner Eltern ein unzutreffendes Geburtsjahr in die Urkunde eingetragen worden. Hiermit räumt der Antragsteller aber letztlich selbst ein, dass der Geburtsurkunde in Bezug auf die Richtigkeit der in ihr enthaltenen Angaben ein Beweiswert nicht zukommt. Die von dem Antragsteller unter dem 13. Dezember 2011 erstellte eidesstattliche Versicherung ist ebenfalls nicht geeignet, die von ihm behauptete Minderjährigkeit glaubhaft zu machen. Er hat hierin keine schlüssigen und hinreichend substantiierten Angaben zu seiner Biographie gemacht, die einen Rückschluss auf das behauptete Lebensalter zulassen könnten. Vielmehr wäre der Antragsteller - wenn der an Eides statt versicherte Sachverhalt, „tatsächlich im Jahre 1996 geboren worden“ zu sein, zutreffen würde - derzeit erst (maximal) 15 Jahre alt. Im gerichtlichen Verfahren hat er jedoch im Übrigen behauptet, (schon) 16 Jahre alt zu sein. Sein Vorbringen ist daher in sich widersprüchlich und nicht geeignet, eine Minderjährigkeit glaubhaft zu machen. Die Diplom-Sozialarbeiterin/ Sozialpädagogin F. gibt in ihrer undatierten schriftlichen Stellungnahme lediglich ihren subjektiven Eindruck in Hinblick auf das Alter des Antragstellers wieder; die von ihr dargestellten Verhaltensweisen des Antragstellers können nach Auffassung des Gerichts jedoch durchaus auch einem jungen Volljährigen zugeschrieben werden. Aus dem gleichen Grund sind nach Einschätzung des Gerichts auch die Aussagen der in der nicht öffentlichen Sitzung des Amtsgerichts D. vom 22. November 2011 zugunsten des Antragstellers gehörten Personen nicht hinreichend beweiskräftig.
b. Der Antragsgegner ist jedoch im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller bis zur Klärung seines Lebensalters, längstens jedoch für die Dauer von drei Monaten, vorläufig in einer Einrichtung der Jugendhilfe unterzubringen und zu versorgen. Diese Verpflichtung ist als „Minus“ in dem Antrag des Antragstellers auf vorläufige Inobhutnahme enthalten. Denn mit seinem Begehren auf Inobhutnahme geht es ihm auch darum, in eine Einrichtung der Jugendhilfe aufgenommen zu werden (vgl. auch OVG Hamburg, Beschluss vom 14. Februar 2011 - a.a.O. -, juris, RdNr. 20 f.).
aa. Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus einer analogen Anwendung von § 42 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 3 SGB VIII. Hiernach hat das Jugendamt im Falle einer Inobhutnahme das Kind oder den Jugendlichen vorläufig bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen (§ 42 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz SGB VIII), und es hat während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen (§ 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII). Die analoge Anwendung dieser Vorschriften ist gerechtfertigt, weil der Antragsteller die behauptete Minderjährigkeit zwar nicht glaubhaft gemacht hat; sie kommt nach den Gesamtumständen jedoch in Betracht und kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.
Insbesondere erlauben die von dem Antragsgegner getroffenen Feststellungen nicht den hinreichend sicheren Schluss, der Antragsteller sei bereits volljährig. Die auf Grundlage einer Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter des Jugendamtes erfolgte Altersschätzung wurde nicht dokumentiert oder in Form einer für das Gericht nachvollziehbaren sachverständigen Stellungnahme begründet. Die ärztliche Stellungnahme des G. Krankenhauses in D. -H. über die röntgenologische Skellettalterbestimmung vom 16. September 2011 ist ebenfalls nicht hinreichend beweiskräftig. Zwar kommt diese zu dem scheinbar eindeutigen Ergebnis, das Skelettalter des Antragstellers betrage 19 Jahre. Sie genügt jedoch nach Auffassung des Gerichts den inhaltlichen Anforderungen, die an eine verlässliche Altersbestimmung zu stellen sind, nicht. Insoweit wird Bezug genommen auf die durch die Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin erstellten „Empfehlungen für die Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren“. Hierin heißt es zu den inhaltlichen Anforderungen an ein entsprechendes Gutachten:
„Forensische Kernaussage des Gutachtens ist je nach Untersuchungsauftrag die Angabe des wahrscheinlichsten Alters des Betroffenen und/oder der Wahrscheinlichkeit dafür, dass das vom Betroffenen angegebene Alter tatsächlich zutrifft bzw. die jeweils strafrechtlich relevante Altersgrenze überschritten ist.
Die für die Altersdiagnose verwendeten Referenzstudien sind im Gutachten aufzuführen. Für jedes untersuchte Merkmal ist neben dem wahrscheinlichsten Alter das Streuungsmaß der Referenzpopulation anzugeben (Rösing 2000). Zu beachten ist ferner, dass sich der Toleranzbereich durch einen empirischen Beobachterfehler erhöhen kann.
Die mit der Anwendung der Referenzstudien auf die zu untersuchende Person verbundenen altersrelevanten Variationsmöglichkeiten, wie abweichende genetisch-geographische Herkunft, abweichender sozioökonomischer Status und damit möglicherweise anderer Akzelerationsstand (zum Einfluss des sozioökonomischen Status und der ethnischen Zugehörigkeit auf die Skelettreifung s. Schmeling et al. 2000a), entwicklungsbeeinflussende Erkrankungen des Betroffenen, sind im Gutachten mit ihren Auswirkungen auf die Altersdiagnose zu diskutieren und nach Möglichkeit bezüglich ihrer quantitativen Konsequenzen einzuschätzen.
Das wahrscheinlichste Alter des Betroffenen wird auf der Grundlage der zusammengefassten Einzeldiagnosen und der kritischen Diskussion des konkreten Falls ermittelt. Bei der Zusammenfassung der Altersdiagnosen der eingesetzten Methoden kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich die Streubreite verringert, wobei diese Verringerung bisher nur quantitativ einschätzbar ist. Je nach Untersuchungsauftrag sind die juristisch bedeutsamen und/oder die im richterlichen Beschluss mitgeteilten Altersangaben hinsichtlich ihrer Wahrscheinlichkeit verbal zu bewerten.“
Das Gericht hält es für erforderlich, dass sich ein Gutachten zur Altersbestimmung auch außerhalb des Strafverfahrens an diesen Maßstäben ausrichtet. Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. In der Stellungnahme vom 16. September 2011 fehlen insbesondere Aussagen darüber, wie hoch im konkreten Fall die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass Skelettalter und chronologisches Alter übereinstimmen und in welchem Umfang - möglicherweise aufgrund der genetisch-geographische Herkunft oder wegen einer entwicklungsbeeinflussenden Erkrankung - Abweichungen möglich sind.
bb. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Er hat geltend gemacht, in der Unterkunft für Erwachsene, in der er derzeit lebe, überfordert zu sein und aufgrund seiner Unselbständigkeit regelmäßiger Unterstützung und Zuwendung zu bedürfen. Dem Antragsteller ist nicht zuzumuten, diese Nachteile bis zur hinreichend sicheren Klärung seines Alters hinzunehmen.
cc. Die Verpflichtung des Antragsgegners, den Antragsteller vorläufig in einer Einrichtung der Jugendhilfe unterzubringen und zu versorgen, ist nur unter der Maßgabe gerechtfertigt, dass der Antragsteller sich den im Tenor bezeichneten Untersuchungen zur Altersfeststellung unterzieht. Denn den Antragsteller trifft insoweit die in § 62 SGB I normierte Mitwirkungspflicht. Hiernach soll sich derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind.
Diese Mitwirkungspflicht entfällt auch nicht deshalb, weil dem Antragsteller ihre Erfüllung aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden könnte (vgl. § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I). Insbesondere ist ihm auch die möglicherweise erforderlich werdende radiologische Untersuchung des Kiefers und der Schlüsselbeine zuzumuten. Dem steht auch § 25 Abs. 1 Satz 1 RöV nicht entgegen. Hiernach darf Röntgenstrahlung am Menschen nur in Ausübung der Heilkunde oder Zahnheilkunde, in der medizinischen Forschung, in sonstigen durch Gesetz vorgesehenen oder zugelassenen Fällen oder zur Untersuchung nach Vorschriften des allgemeinen Arbeitsschutzes angewendet werden. Röntgenstrahlung am Antragsteller zur Altersbestimmung ist durch Gesetz im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 RöV zugelassen. Das OVG Hamburg hat in seinem bereits genannten Beschluss vom 09. Februar 2011 (a.a.O., juris, RdNr. 77 ff.) in einem vergleichbaren Fall ausgeführt:
„Der Einsatz von Röntgenstrahlung wird jedoch durch § 62 SGB I gesetzlich zugelassen. Die Entstehungsgeschichte der Röntgenverordnung unter Einschluss gesetzessystematischer Erwägungen führt zu diesem Verständnis der in ihrem Wortlaut nicht eindeutigen Norm. Verfassungs- und Europarecht stehen einer solchen Auslegung nicht entgegen.
Was unter „zugelassen“ zu verstehen ist, muss ebenfalls durch Auslegung ermittelt werden. Zulassen meint, etwas zu erlauben oder zu gestatten (Duden - Das Synonymwörterbuch, aktuelle Online-Ausgabe). Damit erweist sich der Wortlaut nicht als eindeutig. Man kann das Wort „zugelassen“ ohne weiteres dahin verstehen, die Anfertigung von Röntgenaufnahmen müsse – in Abgrenzung zu den vorgesehenen Fällen – nicht die ins Auge gefasste, wohl aber als eine von mehreren denkbaren Handlungsmöglichkeiten in Betracht kommen, und – ebenso wie bei den vorgesehenen Fällen – im Gesetz genannt sein. Die Anfertigung von Röntgenaufnahmen kann aber auch bereits dann als erlaubt und damit als zugelassen anzusehen sein, wenn das Gesetz die körperliche Untersuchung durch einen Arzt gestattet. Denn die Röntgenuntersuchung gehört zu den anerkannten ärztlichen Untersuchungsmethoden.
Nur das zuletzt angeführte Verständnis des Wortes „zugelassen“ (2. Alternative), das die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung des Körpers ausreichen lässt, vermag zu erklären, weshalb es bei der Abfassung der Verordnung der Erwähnung der durch Gesetz vorgesehenen Fälle (1. Alternative) überhaupt bedurfte. Verlangte man für die 2. Alternative ebenfalls eine ausdrückliche Nennung der Röntgenuntersuchung im Gesetz, wäre die 1. Alternative überflüssig gewesen. Sie stellte dann lediglich einen Spezialfall der 2. Alternative dar.
Die Entstehungsgeschichte der Röntgenverordnung spricht ebenfalls für eine Auslegung des Begriffs dahin, dass die gesetzliche Gestattung der körperlichen Untersuchung durch einen Arzt genügt. Die Anwendung von Röntgenstrahlen auf den Menschen war bis zum Inkrafttreten der Röntgenverordnung von 1973 (BGBl. I S. 173) rechtlich nicht geregelt (BR-Drs 550/72, S. 1). Die Röntgenverordnung vom 7. Februar 1941 (RGBI. I S. 88) bezog sich allein auf die Untersuchung, Prüfung, und Behandlung von Roh- und Werkstoffen sowie Fertigerzeugnissen. Weder für vorkonstitutionelles Recht noch für bis 1973 geschaffenes nachkonstitutionelles Recht bestand daher regelhaft eine Notwendigkeit, die Röntgenuntersuchung gesondert zu erwähnen, da ihre Zulässigkeit unbestritten war. Von einem solchen Bestand an Normen ausgehend hätte der Verordnungsgeber, wenn er dennoch künftig alle Fälle, in denen Röntgenstrahlung auf den Menschen angewendet werden darf, ausdrücklich hätte benannt wissen wollen, dies mit der erforderlichen Deutlichkeit angeordnet. Der Verordnungsgeber hat sich aber darauf beschränkt, in der Begründung zur Verordnung beispielhaft von ihm als gesetzlich zugelassen betrachtete Anwendungsfälle zu benennen (BR 550/72, S. 24). Unter den durch Gesetz zugelassenen Fällen verstand der Verordnungsgeber danach zwar auch Untersuchungen nach dem Wehrpflichtgesetz, das Röntgenuntersuchungen ausdrücklich nannte (§ 17 Abs. 7 WehrPflG 1965, BGBl. I S. 390, 396). Allerdings wurde und wird auch die Anwendung von Röntgenstrahlung „im Rahmen von Strafverfahren“ als gesetzlich zugelassener Fall angeführt (BR 550/72, a.a.O und BR-Drs. 230/02, S. 93), obwohl die Strafprozessordnung weder damals noch heute die Röntgenuntersuchung als zulässige Untersuchungsmaßnahme ausdrücklich nennt. Vielmehr wird § 81a StPO, der die körperliche Untersuchung gestattet, als zureichende Rechtsgrundlage für einen entsprechenden Eingriff in die Rechte des Beschuldigten angesehen (Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 81a Rn. 20 m.w.N.). Hätte der Verordnungsgeber gleichwohl eine ausdrückliche Zulassung im Gesetz gefordert, so hätte er insofern die Grenzen seiner Rechtssetzungsbefugnis wohl erreicht. Denn damit hätte er im Ergebnis die durch förmliches Parlamentsgesetz eröffneten strafprozessualen Ermittlungsmöglichkeiten, die das Anfertigen von Röntgenaufnahme nach hergebrachtem Verständnis umfassen (vgl. Meyer- Goßner a.a.O.), beschnitten. Dass der Verordnungsgeber dies in Kauf nehmen wollte, ist nicht anzunehmen.
Schon daraus wird deutlich, dass der Verordnungsgeber keine ausdrückliche Zulassung von Röntgenstrahlung als Voraussetzung für deren Anwendung auf den menschlichen Körper verlangen wollte. Ziel der Röntgenverordnung von 1973 war es vielmehr zum einen, die Vorschriften der Verordnung aus dem Jahr 1941 den gewonnenen Erkenntnissen über die zulässige Strahlenbelastung der Beschäftigten und dem Stand der Röntgentechnik anzupassen (BR-Drs 550/72 a.a.O.). Zum anderen ging es dem Verordnungsgeber darum, einer internationalen Verpflichtung der Bundesrepublik aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) vom 25. März 1957 (BGBl. II S. 1014 m. sp. Änd.) nachzukommen. Nach Art. 33 des EURATOM-Vertrages war jeder Mitgliedsstaat verpflichtet, die geeigneten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um die Beachtung der EURATOM- Grundnormen sicherzustellen. Diese beiden Beweggründe rechtfertigen nicht die Annahme, der Verordnungsgeber habe die in sonstigen durch Gesetz zugelassenen Fälle auf solche Bestimmungen beschränken wollen, die eine Röntgenuntersuchung ausdrücklich als Untersuchungsmethode benennen. Soweit die Röntgenverordnung von 1973 den Regelungsgehalt der Röntgenverordnung von 1941 aufgreift, liegt dies auf der Hand: Dem Verordnungsgeber ging es insoweit schon im Ansatz nicht um den Schutz vor übermäßiger Anwendung von Röntgenstrahlung auf den Menschen, sondern allein um den Schutz der Beschäftigten beim Bestrahlen von Material (vgl. § 1 Satz 2 RöV 41). Die Beachtung der angeführten EURATOM-Grundnormen verlangte ebenfalls nicht die ausdrückliche Benennung aller Anwendungsszenarien. Bei diesen Grundnormen geht es allein um die zulässigen Höchstdosen, die Höchstgrenzen für die Aussetzung gegenüber schädlichen Einflüssen und für schädlichen Befall sowie die Grundsätze für die ärztliche Überwachung der Arbeitskräfte im Sinne Art. 30 Buchst. a bis c EURATOM-Vertrag. Seit 1973 hat sich am Wortlaut der Röntgenverordnung im hier entscheidenden Punkt substantiell nichts geändert. Die heute in § 25 Abs. 1 Satz 1 RöV verwandte Formulierung ist im Kern mit § 21 Abs. 1 RöV 73 identisch. Danach durften Röntgenstrahlen auf den Menschen nur in Ausübung der Heilkunde, der Zahnheilkunde oder in sonstigen durch Gesetz vorgesehenen oder zugelassenen Fällen angewendet werden.
Die nach vorstehenden Ausführungen (weiterhin) zugrunde zu legende Auslegung des § 25 Abs. 1 Satz 1 RöV dahingehend, dass ein sonstiger durch Gesetz zugelassener Fall auch dann vorliegen kann, wenn dort die Röntgenuntersuchung nicht ausdrücklich genannt wird, hat der Verordnungsgeber auch bei der letzten Novellierung der Röntgenverordnung vorausgesetzt. Eine ausdrückliche Regelung dazu, dass das Röntgen eine zulässige Untersuchungsmethode darstellt, findet sich im Sozialgesetzbuch nur im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, nämlich im Zusammenhang mit zahnärztlichen Leistungen. § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V bestimmt, dass die zahnärztliche Behandlung auch Röntgenleistungen umfasst. Diese Bestimmung betrifft, weil sie im Titel „Krankenbehandlung“ (§ 27 bis § 43b SGB V) steht, die Zahnheilkunde, die jedoch von § 25 Abs. 1 Satz 1 RöV bereits gesondert genannt wird, so dass es keines Rückgriffs auf die sonstigen durch Gesetz zugelassenen Fälle bedarf. Die vom Verordnungsgeber gleichwohl angeführten Vorschriften des Sozialrechts, die Röntgenaufnahmen bei einer entsprechenden Indikation zuließen, weil es sich um gesetzlich zugelassene Fälle handle, gäbe es damit jedenfalls innerhalb des Sozialgesetzbuchs nicht, wenn man eine ausdrückliche Erwähnung dieser Untersuchungsmethode im Gesetz forderte. Auch dies rechtfertigt den Schluss, dass § 62 SGB I als eine der zentralen Normen zur Sachverhaltsaufklärung im Sozialrecht nicht in der Weise beschränkt werden soll, dass Röntgenuntersuchungen auf dieser Grundlage nicht vorgenommen werden dürfen.
Es bestehen schließlich keine verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Bedenken gegen eine Auslegung von § 62 SGB I dahin, die Vorschrift lasse auch eine radiologische Untersuchung zu.
Von Verfassungs wegen ist weder eine ausdrückliche Regelung durch förmliches Gesetz noch ein Richtervorbehalt entsprechend § 81a Abs. 2 StPO erforderlich.
Ob die Verpflichtung des Einzelnen zur Duldung einer Röntgenuntersuchung gemäß dem verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitsprinzip und Bestimmtheitsgebot eine Regelung durch ein förmliches Gesetz voraussetzt, in welcher eine solche Pflicht ausdrücklich bestimmt wird (so LG Berlin, Beschl. v. 16.6.2009, JAmt 2009, 457, juris Rn. 16), bedarf hier keiner Entscheidung. § 62 SGB I berechtigt weder zum Erlass eines Verwaltungsaktes (Beschl. des Senats v. 23.12.2010, 4 Bs 243/10, juris Rn. 45) noch dazu, eine Röntgenuntersuchung auf andere Weise zu erzwingen. Sie regelt allein eine Mitwirkungslast desjenigen, der Sozialleistungen beantragt oder erhält. Ob der Betreffende eine ihm aufgegebene Röntgenuntersuchung durchführen lässt oder nicht, ist allein von seinem Willen abhängig. Hält er die Maßnahme für unzumutbar und wirkt er deshalb nicht mit, ist dies auf einen nachfolgenden Bescheid nach § 66 SGB I, dessen Erlass in das Ermessen der Behörde gestellt ist, ggf. in einem gesonderten Verwaltungsverfahren zu klären (Beschl. des Senats a.a.O, juris Rn. 49). Einer weitergehenden Verfahrensabsicherung durch einen Richtervorbehalt, wie ihn § 81a StPO kennt, bedarf es bei § 62 SGB I danach schon mangels Eingriffs in die durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte körperlichen Unversehrtheit nicht. Zudem ist die Anordnung bei § 81a StPO regelhaft „in die Hand des Richters gelegt“ (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.6.1963, BVerfGE 16, 194 [BVerfG 10.06.1963 - 1 BvR 790/58] – Liquorentnahme, juris Rn. 18), weil die Gesetzesanwendung gewährleisten muss, dass die mit der Aufklärung der Tat verbundenen Folgen den Beschuldigten als möglichen Täter nicht etwa stärker belasten als die zu erwartende Strafe. Der Richter ist daher verfassungsrechtlich gehalten, im einzelnen Fall eine gesetzlich an sich zulässige Maßnahme auch am Übermaßverbot zu messen (BVerfG a.a.O., Rn. 20). Ähnlich hohe Anforderungen an die Gesetzesanwendung stellen §§ 60 ff. SGB I und die Röntgenverordnung nicht. Sie normieren – anders als die Strafprozessordnung bei § 81a StPO – bereits ein am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichtetes, strukturiertes und damit leichter einzuhaltendes Verfahren, das durch die verwaltungsrechtliche Prüfung einerseits (§§ 62, 65 SGB I) und die Stellung der rechtfertigenden Indikation (§§ 23 bis 25 RöV) andererseits – qualitätssichernd – zudem auf fachlich spezialisierte Entscheidungsträger setzt, und das im Falle einer negativen Entscheidung nach § 66 Abs. 1 SGB I gerichtlich überprüfbar ist.
Die Auffassung, § 62 SGB I lasse den Einsatz von Röntgenstrahlung auf den Menschen zu, ist auch mit Europarecht vereinbar. Sie steht mit der Richtlinie 97/43/EURATOM in Einklang. Die Richtlinie behandelt die Exposition von Personen im Rahmen medizinisch-rechtlicher Verfahren (Art. 1 Abs. 2 Buchst. e), zu denen nach Art. 2 ein Verfahren zu rechtlichen Zwecken ohne medizinische Indikation und damit auch eine Röntgenuntersuchung aufgrund einer Aufforderung nach § 62 SGB I zählt. Die Anforderungen an solche medizinisch-rechtlichen Verfahren ergeben sich aus Art. 3 und 5 der Richtlinie 97/43/EURATOM, die auszugsweise lauten:
Art. 3
(1) Die medizinischen Expositionen gemäß Artikel 1 Absatz 2 müssen insgesamt einen hinreichenden Nutzen erbringen, wobei ihr Gesamtpotential an diagnostischem oder therapeutischem Nutzen, einschließlich des unmittelbaren gesundheitlichen Nutzens für den einzelnen und des Nutzens für die Gesellschaft, abzuwägen ist gegenüber der von der Exposition möglicherweise verursachten Schädigung des einzelnen; zu berücksichtigen sind dabei die Wirksamkeit, der Nutzen und die Risiken verfügbarer alternativer Verfahren, die demselben Zweck dienen, jedoch mit keiner oder einer geringeren Exposition gegenüber ionisierender Strahlung verbunden sind.
Insbesondere .
d) muss die Rechtfertigung für diejenigen medizinischen Expositionen besonders beachtet werden, die für die Person, die sich ihnen unterzieht, nicht zu einem unmittelbaren gesundheitlichen Nutzen führen; hierzu zählen insbesondere Expositionen aus medizinisch-rechtlichen Gründen.
Art. 5 .
(4) Die Mitgliedstaaten sorgen für die Festlegung der Verfahren, die im Falle von medizinisch- rechtlichen Untersuchungen einzuhalten sind.
Diesen Anforderungen genügt das innerstaatliche Recht, soweit von demjenigen, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, nach Maßgabe der §§ 62, 65 SGB I die Mitwirkung an einer radiologischen Untersuchung verlangt wird.
Das Verfahren im Sinne von Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 97/43/EURATOM wird durch die spezialgesetzliche Regelung im SGB I und die Röntgenverordnung festgelegt. Das Verfahren wird zunächst durch das SGB I geregelt. Wie bereits ausgeführt, verlangt § 62 SGB eine mehrstufige Erforderlichkeitsprüfung, die die Notwendigkeit der Untersuchung selbst und der einzelnen Untersuchungsmaßnahmen zum Gegenstand hat. Hieran schließt sich eine wiederum differenzierte Untersuchung der Zumutbarkeit der Maßnahme an, § 65 Abs. 1 und 2 SGB I. Ist ein Mitwirkungsverlangen danach rechtlich zulässig, führt dies nicht gleichsam automatisch zur Anfertigung der gewünschten Röntgenbilder. Vielmehr hat die nach § 24 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RöV berechtigte Person, die in der Heilkunde oder Zahnheilkunde Röntgenstrahlung am Menschen anwenden darf, weil sie die erforderliche Fachkunde im Strahlenschutz besitzt, eine besondere Abwägung zu treffen. Sie muss – ebenso wie im Bereich der Heilkunde oder Zahnheilkunde – eine rechtfertigende Indikation stellen. Dies folgt aus § 25 Abs. 1 Satz 3 Hs. 2 RöV. Danach gelten für die Anwendung von Röntgenstrahlung am Menschen außerhalb der Heilkunde oder Zahnheilkunde die §§ 23 und 24 RöV entsprechend. § 23 RöV hat auszugsweise folgenden Wortlaut:
(1) Röntgenstrahlung darf unmittelbar am Menschen in Ausübung der Heilkunde oder Zahnheilkunde nur angewendet werden, wenn eine Person nach § 24 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 hierfür die rechtfertigende Indikation gestellt hat. Die rechtfertigende Indikation erfordert die Feststellung, dass der gesundheitliche Nutzen der Anwendung am Menschen gegenüber dem Strahlenrisiko überwiegt. Andere Verfahren mit vergleichbarem gesundheitlichen Nutzen, die mit keiner oder einer geringeren Strahlenexposition verbunden sind, sind bei der Abwägung zu berücksichtigen. Eine rechtfertigende Indikation nach Satz 1 ist auch dann zu stellen, wenn die Anforderung eines überweisenden Arztes vorliegt. Die rechtfertigende Indikation darf nur gestellt werden, wenn der die rechtfertigende Indikation stellende Arzt den Patienten vor Ort persönlich untersuchen kann, es sei denn, es liegt ein Anwendungsfall des § 3 Abs. 4 vor. § 28a bleibt unberührt.
(2) Der die rechtfertigende Indikation stellende Arzt hat vor der Anwendung, erforderlichenfalls in Zusammenarbeit mit dem überweisenden Arzt, die verfügbaren Informationen über bisherige medizinische Erkenntnisse heranzuziehen, um jede unnötige Strahlenexposition zu vermeiden. Patienten sind über frühere medizinische Anwendungen von ionisierender Strahlung, die für die vorgesehene Anwendung von Bedeutung sind, zu befragen. .
Die nach § 24 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RöV berechtigte Person, regelhaft ein Arzt oder Zahnarzt, muss also unter Beachtung aller weiteren Vorgaben von § 23 RöV die Feststellung treffen, dass (mangels gesundheitlichen Nutzens für den Einzelnen) der gesellschaftliche Nutzen gegenüber dem Strahlenrisiko überwiegt. Hierzu hat der die rechtfertigende Indikation stellende Arzt oder Zahnarzt sich erforderlichenfalls entsprechend § 23 Abs. 2 RöV die notwendigen Informationen zum Sachverhalt – hier der Altersfeststellung bei einem vorgeblich minderjährigen Ausländer, der sich nicht ausweist, und eine Einrichtung des Kinder- und Jugendnotdienstes nicht verlassen mag – bei der „überweisenden“ Behörde zu beschaffen.
Dem entspricht auch tatsächlich das von der Antragsgegnerin vorgesehene Verfahren zur Altersfeststellung. Das wird im Übrigen auch von dem Antragsteller nicht in Zweifel gezogen.“
Diesen ausführlichen Ausführungen schließt sich das Gericht an.
dd. Das Gericht ist zudem der Auffassung, dass ein Zeitraum von drei Monaten ausreichend ist, um die erforderlichen Untersuchungen beim Antragsteller durchführen zu lassen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 188 Satz 2 VwGO.