Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 02.07.1963, Az.: I A 57/63

Anordnung zur Fortsetzung der Fürsorgeerziehung in der eigenen Familie ; Entscheidung über eine Beurlaubung

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
02.07.1963
Aktenzeichen
I A 57/63
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1963, 14635
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:1963:0702.I.A57.63.0A

Fundstellen

  • DVBl 1963, 682 (Volltext mit amtl. LS)
  • DÖV 1964, 501 (amtl. Leitsatz)
  • NJW 1963, 1892-1893 (Volltext mit amtl. LS)

Verfahrensgegenstand

Beurlaubung aus der Fürsorgeerziehung

In der Verwaltungsrechtssache
...
hat die I. Kammer Braunschweig des Verwaltungsgerichts Braunschweig
am 2. Juli 1963
beschlossen:

Tenor:

Das Verwaltungsgericht Braunschweig erklärt sich für sachlich unzuständig und verweist den Rechtsstreit an das Amtsgericht Salzgitter-Bad.

Gründe

1

I.

Der Sohn der Kläger, der Maurerlehrling ... geboren 10. März 1945, ist durch Urteil des Jugendschöffengerichts Salzgitter-Salder vom 18. Januar 1962 der Fürsorgeerziehung überwiesen worden, weil er im Sommer 1961 zwei Mädchen aus sexuellen Motiven überfallen hatte. Während dieses Strafverfahrens war er von August 1961 bis Januar 1962 in Untersuchungshaft gewesen. Die Fürsorgeerziehung wird in Heimen der Inneren Mission bei Bielefeld ausgeführt. Zwei Anträge der Kläger, die Fürsorgeerziehung aufzuheben, lehnte der Beklagte ab; auch das Vormundschaftsgericht Salzgitter-Bad bestätigte diese Entscheidungen, zuletzt durch Beschluß vom 27. Mai 1963.

2

Am 21. Dezember 1962 beantragten die Kläger, den Sohn aus der Fürsorgeerziehung zu beurlauben. Sie begründeten ihren Antrag damit, daß der Junge unter der Trennung vom Elternhause sehr leide und daß er in seinem Heimatort seine Lehre wieder aufnehmen könne und auch durch den Geistlichen und in Jugendgruppen erzieherische Hilfe finden werde. Da seit seinen Taten zwei Jahre verstrichen seien, könne man annehmen, daß die Entwicklungsschwierigkeiten abgeklungen seien, die die Ursache seiner Entgleisungen gewesen seien. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 4. Januar 1963 ab; er wies auch den Widerspruch mit Bescheid vom 14. Mai 1963 zurück und erteilte die Rechtsmittelbelehrung dahin, daß nunmehr Klage vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig erhoben werden könne.

3

In der am 31. Mai 1963 bei Gericht eingegangenen Klage wiederholen die Kläger ihr bisheriges Vorbringen.

4

Sie beantragen,

  1. a)

    die Bescheide des Beklagten vom 4. Januar 1963 und vom 14. Mai 1963 aufzugeben.

  2. b)

    den minderjährigen ... zu beurlauben.

5

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

6

Er hält die Klage für unzulässig, mindestens aber für unbegründet, da die Entscheidungen über die Durchführung der Fürsorgeerziehung nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen seien; dazu gehöre auch die Entscheidung darüber, ob die Fürsorgeerziehung in der eigenen Familie des Minderjährigen fortgesetzt werden soll. Ein Anspruch auf Arbeitsurlaub bestehe nicht.

7

Die Kläger haben auf Anregung des Gerichts die Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Salzgitter-Bad beantragt; der Beklagte hat sich mit der Verweisung einverstanden erklärt.

8

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf ihre Schriftsätze Bezug genommen, desgleichen auf die Akten des Beklagten (Landesjugendamtes Braunschweig, betreffend ... -), die dem Gericht vorgelegen haben. Auch die Akten des Amtsgericht Salzgitter-Bad über die Fürsorgeerziehung über den am 10. März 1945 geborenen ... haben dem Gericht vorgelegen.

9

II.

Der Rechtsweg zu den allgemeinen Verwaltungsgerichten ist nicht zulässig.

10

Es handelt sich zwar um eine Streitigkeit des öffentlichen Rechts. Die von den Klägern begehrte Beurlaubung ihres Sohnes oder die Anordnung zur Fortsetzung der Fürsorgeerziehung in der eigenen Familie (§69 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes für Jugendwohlfahrt - JWG - vom 11. August 1961, BGBl I 1206) wären auch Verwaltungsakte; für Streitigkeiten darüber steht der Rechtsweg offen (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes). Die Anrufung eines Gerichts ist also nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Landesjugendamt bei der Durchführung der Fürsorgeerziehung Ermessensentscheidungen zu treffen hat oder weil ein Rechtsanspruch auf Arbeitsurlaub nicht besteht; gerade das wäre Gegenstand der gerichtlichen Sachentscheidung, für die der Rechtsweg offenstehen muß.

11

Das Verwaltungsgericht ist aber deshalb nicht zuständig, weil ein anderer Rechtsweg gegeben ist (§40 VwGO). Nach §64 JWG wird Fürsorgeerziehung vom Vormundschaftsgericht angeordnet; nach §75 Abs. 6 JWG in Verbindung mit §20 Abs. 1 Satz 2 des Nieders. Ausführungsgesetzes zum Jugendwohlfahrtsgesetz vom 13. Dezember 1962 (Nds.GVBl. S. 246) entscheidet das Vormundschaftsgericht über die Aufhebung der Fürsorgeerziehung, wenn das Landesjugendamt einen dahingehenden Antrag abgelehnt hat. Das Gesetz hat also die wesentlichen gerichtlichen Entscheidungen hinsichtlich der Fürsorgeerziehung dem Vormundschaftsgericht übertragen. Es hat darüber hinaus durch Mitteilungspflichten für die laufende Unterrichtung des Vormundschaftsgerichts über die Fürsorgeerziehung gesorgt (§71 Abs. 5 JWG, §20 Abs. 3 Nds.AusfGes.). Daraus muß geschlossen werden, daß der Gesetzgeber dem Vormundschaftsgericht die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung in bezug auf die Fürsorgeerziehung in vollem Umfang übertragen wollte. Wenn dieser Wille nicht in einer Generalklausel zum Ausdruck gekommen ist, so hat das seinen Grund darin, daß nach dem früheren Recht eine gerichtliche Kontrolle der Maßnahmen des Landesjugendamtes auf die genannten Fälle beschränkt und im übrigen nur im Rahmen des inzwischen aufgehobenen §18 RJWG, also nach Maßgabe landesrechtlicher Vorschriften ermöglicht, d.h. soweit die Landesgesetze - wie in Braunschweig - nur die Verwaltungsbeschwerde vorsahen, praktisch ausgeschlossen war. Weiter mag dafür maßgebend gewesen sein, daß die Ausführung der Fürsorgeerziehung dem Landesjugendamt nach seinem pflichtgemäßen Ermessen überlassen ist und eine gerichtliche Kontrolle mangels näherer rechtlicher Bindungen kaum Anhaltspunkte finden kann. Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG hat inzwischen die Beschränkung des Zugangs zur gerichtlichen Kontrolle aufgehoben. Die Neufassung des JWG hat daraus außer der Aufhebung des alten §18 RJWG bisher keine Folgerung gezogen. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß der Rechtsweg in Angelegenheiten der Fürsorgeerziehung nunmehr "gespalten" sein soll in die vom Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Zuständigkeiten des Vormundschaftsgerichts einerseits und in eine Zuständigkeit der allgemeinen Verwaltungsgerichte in allen übrigen Fällen bei der Ausführung der Fürsorgeerziehung andererseits. Vielmehr erfordert eine sinnvolle Ordnung, daß für alle Entscheidungen des Landesjugendamts bei der Fürsorgeerziehung ein einheitlicher Rechtsweg gegeben ist, derselbe, den das Gesetz für die wichtigsten Fälle dieses Rechtsgebiets ausdrücklich bestimmt hat, nämlich der zum Vormundschaftsgericht.

12

Die Rechtsprechung hat auch in anderen Fällen eine ausdrückliche Zuständigkeitsregelung im Sinne des §40 VwGO dort angenommen, wo der Wille, eine bestimmte Rechtsmaterie in ihrer Gesamtheit einem Gerichtszweig zuzuweisen, aus der gesetzlichen Regelung zu erkennen ist, ohne daß es auch für alle einzelnen diesem Rechtsgebiet zuzurechnenden Streitigkeiten gesagt sein müßte (so für das Steuerrecht BFH Gutachten vom 7. April 1951, JZ 1951, 596 [BGH 26.06.1951 - 1 StR 238/51], dazu Bachof JZ 1951, 739, weiter BGH 18. Februar 1955 - V ZR 48/53 - NJW 1955, 501 und BVerwG 30. Oktober 1953 - E 1, 21; für Bußgeldverfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten BVerwG vom 27. September 1962 - IC 51.61 - DVBl. 1963, 62; vgl. Boerner: Gespaltene Rechtswege? DVBl. 1961, 846; Güldenpfennig: Der Sachzusammenhang bei Rechtswegentscheidungen NJW 1961, 1444). - Die von Riedel, Kommental zum JWG, 3. Auflage 1963, in Anmerkung 4 zu §69, von Potrykus, Kommentar zum JWG 1953, Anmerkung 3 zu §70, und Bayr.VGH in NDV 1955, 334 vertretene gegenteilige Meinung berücksichtigt diese Rechtsprechung über den Sachzusammenhang als ausdrückliche Rechtswegregelung nicht; sie scheint auch von dem das frühere Recht beherrschenden Enumerationsprinzip beeinflußt zu sein, wie einige der bei Riedel zitierten Entscheidungen aus der Zeit vor Einführung der Rechtsweggarantie zeigen (BayObLG in JFG 5, 89 und OLG München in JFG 22, 14; beide Entscheidungen sagen nur ohne Begründung, daßüber die Beurlaubung das Landesjugendamt allein zu entscheiden habe).

13

Um Mißverständnisse zu vermeiden, bemerkt das Gericht ausdrücklich, daß diese Entscheidung sich nur auf die gerichtliche Kontrolle von Maßnahmen des Landesjugendamts bei der Ausführung der Fürsorgeerziehung bezieht und nicht auf andere Entscheidungen zur Ausführung des Jugendwohlfahrtsgesetzes, auch nicht auf Streitigkeiten bei der freiwilligen Erziehungshilfe oder über die Kosten der Fürsorgeerziehung.

14

Das Amtsgericht Salzgitter-Bad hat im letzten Satz seines Beschlusses vom 27. Mai 1963 ausgeführt, daß die Entscheidung über eine Beurlaubung allein dem Landesjugendamt obliege. Damit hat es nicht in einer nach §41 Abs. 3 VwGO das Verwaltungsgericht bindenden Weise den Rechtsweg zum Vormundschaftsgericht für unzulässig erklärt, denn einmal war die Beurlaubung des Minderjährigen nicht Gegenstand des Beschlusses, zum anderen bedeutete dieser Satz nur einen Hinweis auf die Verwaltungszuständigkeit des Landesjugendamts. Über den Rechtsweg ist darin nichts gesagt.

15

Entsprechend dem Antrag der Kläger, mit dem sich der Beklagte einverstanden erklärt hat, war daher die Sache durch Beschluß an das Amtsgericht Salzgitter-Bad zu verweisen (§41 Abs. 4 VwGO). Dieses Gericht wird nach §155 Abs. 4 VwGO auch über die vor dem Verwaltungsgericht entstandenen Kosten entscheiden.

16

Ein Rechtsmittel gegen diesen Beschluß ist nicht gegeben, da er den Anträgen beider Parteien entspricht (OVG Münster NJW 1963, 172 [OVG Nordrhein-Westfalen 21.09.1962 - III B 525/62]).

Groß
Groschupf
Verwaltungsgerichtsrat Schilling ist durch Urlaub verhindert, die Unterschrift zu leisten. gez. Groß