Verwaltungsgericht Osnabrück
Beschl. v. 01.03.2001, Az.: 3 B 6/01

Anspruch auf Befreiung vom Sportunterricht in der Schule aufgrund eines religiösen Glaubenkonfliktes mit dem koedukativen Sportunterricht; Möglichkeit einer Vorwegnahme der Hauptsache durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung; Zuständigkeit für die Befreiung vom Sportunterricht

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
01.03.2001
Aktenzeichen
3 B 6/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 30838
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOSNAB:2001:0301.3B6.01.0A

Fundstellen

  • SchuR 2004, 69 (Kurzinformation)
  • SchuR 2002, 170-171

Verfahrensgegenstand

Befreiung vom Sportunterricht

In der Verwaltungsrechtssache
...
aus religiösen Gründen (PKH) hat das Verwaltungsgericht Osnabrück - 3. Kammer -
am 01. März 2001
beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Antragstellers, ihm Prozesskostenhilfe zu gewähren, wird abgelehnt.

Gründe

1

I .

Der 1973 geborene Antragsteller besitzt die türkische Staatsangehörigkeit und ist islamischen Glaubens. Seine am 02.11.1993 geborene Tochter Ayse besucht seit Beginn des Schuljahres 2000/2001 die als öffentliche Ganztagsgrundschule für Schülerinnen und Schüler aller Bekenntnisse geführte B. schule in C..

2

Durch Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 31.08.2000 beantragte er bei der B. schule bzw. deren Schulleiterin, seine Tochter Ayse mit sofortiger Wirkung vom Sportunterricht zu befreien. Zur Begründung machte er geltend, es sei aus religiösen Gründen für ihn nicht hinnehmbar, dass seine Tochter am koedukativen Sportunterricht teilnehme.

3

Die Bekleidungsregeln des Korans verböten es, dass sich Gläubige in Gegenwart fremder Personen beiderlei Geschlechts entblößten oder durchsichtige oder hautenge Bekleidung trügen. Das bestätige ein (vom Prozessbevollmächtigten des Antragstellers beigefügtes) Schreiben des Islamrates vom 30.08.2000. Darin werde des Weiteren ausgeführt, dass die Bekleidungsregeln einen verbindlichen Teil der Lehren und Regeln über Moral und Lebensführung nach islamischen Grundsätzen darstellten, nach denen Mosleme ihr Verhalten im Alltag ausrichteten. Müsste Ayse am Sportunterricht teilnehmen, ließe sich nicht vermeiden, dass sie sich anderen Kindern sowie der Lehrkraft gegenüber in Sportkleidung zeigen müsse, und beim Umziehen müsste sie sich sogar teilweise entblößen.

4

Daraufhin entschied die Schulleiterin der B. schule am 04.09.2000, dass Ayse bis zu einer endgültigen Entscheidung über dieses Antragbegehren nicht am aktiven Sportunterricht teilnehmen müsse, sondern dem Sportunterricht ihrer Klasse zuzuschauen habe, da sie nicht unbeaufsichtigt in der Klasse bleiben dürfe.

5

Unter Vorlage einer weiteren Stellungnahme des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland machte der Antragsteller demgegenüber geltend, auch das Anschauen anderer Kinder beim Sportunterricht stehe nicht im Einklang mit den Regeln des Islams, und bat um eine einvernehmliche Lösung dahin, dass seine Tochter während des Sportunterrichts anderweitig in der Schule beaufsichtigt werde oder nach Hause gehen könne.

6

Die Schulleiterin der B. schule legte den Vorgang der Antragsgegnerin vor, die durch Schreiben vom 12.01.2001 gegenüber dem Antragstellers dahin Stellung nahm, dass nach eingehender Prüfung der Sach- und Rechtslage Bedenken gegen eine antragsgemäße Befreiung vom Sportunterricht bestünden, und bat, bis zum 15.02.2001 mitzuteilen, ob an dem Befreiungsantrag vom 31.08.2000 festgehalten werde.

7

Daraufhin hat der Antragsteller am 26.01.2001 bei der erkennenden Kammer um die Gewährung von Prozesskostenhilfe nachgesucht.

8

Er beantragt,

ihm Prozesskostenhilfe zu gewähren und ihm Herrn Rechtsanwalt Stefan F..., XXXXX Osnabrück, beizuordnen.

9

Für den Fall der Bewilligung der Prozesskostenhilfe kündigte er an zu beantragen,

die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, seine Tochter Ayse vom koedukativen Sportunterricht zu befreien und für die Dauer des gewöhnlichen Sportunterrichts am Montag und Donnerstag an einem anderen Schulunterricht in einer anderen Klasse in der Schule teilnehmen zu lassen.

10

Zur Begründung führt er aus: Sein Anspruch auf Befreiung seiner Tochter vom Sportunterricht und auf Befreiung von einer passiven Teilnahme am Sportunterricht basiere auf dem elterlichen Erziehungsrecht aus Art. 6 GG i.V.m. der Glaubens- und Religionsfreiheit nach Art. 4 GG. Diesen Grundrechten sei im Wege der praktischen Konkordanz der Vorrang vor dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates der Vorzug zu geben. Im Wege dieser Abwägung habe der Staat besondere Toleranz zu üben. Er, der Antragsteller, habe berechtigte Sorge, dass seine Tochter durch eventuelle Berührungen aber auch allein schon durch den Anblick der dürftig bekleideten Körper beim Sportunterricht unsittlich bzw. in sonstiger Art und Weise unerwünscht beeinflusst werde. In der Privatsphäre könnten er und seine Tochter weitgehend dafür sorgen, dass der Anblick von dürftig bekleideten Körpern vermieden werde. Genau das sei jedoch beim obligatorischen Zusehenmüssen im Sportunterricht gerade nicht der Fall und daher nicht zumutbar. Seine Tochter werde bei einer passiven Teilnahme am Sportunterricht geradezu gezwungen, die Körper der (männlichen) Mitschüler eingehend zu betrachten. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin sei diese hier auch unzweifelhaft passiv legitimiert, da die Schulleiterin der B. schule alle Kompetenzen in die Hand der Bezirksregierung gegeben habe.

11

Der Antragsteller legt eine weitere - vom 13.02.2001 datierende - Stellungnahme des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland vor. Darin wird unter anderem ausgeführt:

12

Der Islam begrüße den Sport- und Schwimmunterricht und fördere den Sport. Allerdings achte er auch darauf, dass die Vorraussetzungen für solche Aktivitäten gegeben seien.

13

Dazu gehörten die Einhaltung der Bekleidungsregeln, die geschlechtsgetrennte Ausübung des Sports einschließlich separater Umkleideräume, Duschkabinen usw.. Die Bekleidungsregeln des Korans stellten auch keineswegs reine Äußerlichkeiten dar, sondern seien ein verbindlicher Teil der Lehren und Regeln über Moral und Lebensführung nach islamischen Grundsätzen, nach denen die Religionsangehörigen ihr Verhalten im Alltag ausrichteten. Das Tragen des Kopftuches sowie die geschlechtsgetrennte Ausübung des Sportunterrichts seien essenzielle Glaubensgrundsätze des Islams, auf die sich die Fetwa von Al-Azhar nicht beziehe.

14

Die Antragsgegnerin hält die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Voraussetzungen nicht für gegeben. Sie macht geltend, nicht passiv legitimiert zu sein, da die Schule für die Befreiung vom Sportunterricht zuständig sei. Zur Sache führt sie aus:

15

Ayse sei es zuzumuten, bis zu einer Entscheidung über die Befreiung vom Sportunterricht passiv am Sportunterricht teilzunehmen. Wer sich auf seine Glaubens- und Gewissensfreiheit berufe, müsse ernstlich einsehbare Erwägungen - also wenigstens ansatzweise objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte - für seine Glaubens- und Gewissensnot vortragen.

16

Anderenfalls werde den Beweisanforderungen nicht genügt. Ein pauschaler Hinweis auf die Suren des Koran reiche deshalb nicht aus. Es fehle an einer Darlegung eines Gewissenskonfliktes der 7jährigen Schülerin. Insbesondere hätte für die völlige oder teilweise Befreiung vom Sportunterricht die Existenz einer verbindlichen Religionsvorschrift nachgewiesen werden müssen, die es einer 7-jährigen Schülerin unzumutbar mache, am Sportunterricht teilzunehmen.

17

Durch Bescheid vom 27.02.2001 hat die Schulleiterin der B. schule die Tochter des Antragstellers (weiterhin) von der aktiven Teilnahme am Sportunterricht befreit. Die Befreiung auch von der passiven Teilnahme am Unterricht hat sie abgelehnt und verlangt die weitere passive Teilnahme am Sportunterricht.

18

Wegen der Einzelheiten im Vorbringen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen auf die von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgänge verwiesen.

19

II .

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

20

Gem. § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

21

Hier ist der Antrag abzulehnen, weil das angekündigte Rechtsschutzbegehren keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind nicht glaubhaft gemacht worden.

22

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht - bei Vorliegen eines streitigen Rechtsverhältnisses - eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung).

23

Nach Satz 2 sind einstweilige Anordnungen - vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen - auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn die Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile, Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Für den Erlass der einstweiligen Anordnung gelten die §§ 920, 921, 923, 926, 928 - 932, 939, 941 und 945 ZPO entsprechend (Abs. 3). In Anwendung der Regelung des § 929 Abs. 2 ZPO sind im Anordnungsverfahren nach § 123 VwGO das Vorliegen der Voraussetzungen des Anordnungsgrundes und des Anordnungsanspruchs glaubhaft zu machen, also durch Beweismittel oder auch durch eine Versicherung an Eides Statt ist eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür zu begründen, dass die Anordnung zur Vermeidung einer Vereitelung oder wesentlichen Erschwerung der Rechtsverfolgung eilbedürftig ist und dass die Voraussetzungen des zu sichernden Rechts oder des geltend gemachten Anspruchs tatsächlich bestehen bzw. bestehen können.

24

Will eine Schülerin oder wollen deren Eltern in Ausübung des ihnen zustehenden Personensorgerechts erreichen, dass sie bzw. ihr Kind durch Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens nicht am Sportunterricht teilnehmen muss, erstreben sie im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Rechtstellung, die der im Hauptsacheverfahren zu verfolgenden zumindest teilweise entspricht. Da einstweiliger Rechtsschutz grundsätzlich nur vorläufig sein soll, kommt in einem Eilverfahren in der Regel eine solche "Vorwegnahme der Hauptsache" nicht in Betracht. Ausnahmsweise kann die Hauptsache nur dann vorweggenommen werden, wenn die ohne die einstweilige Anordnung eintretenden Nachteile für den jeweiligen Antragsteller unzumutbar wären und eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Bestehen des Anspruchs glaubhaft gemacht wird.

25

Hier würde das für den Fall der Gewährung von Prozesskostenhilfe angekündigte Anordnungsbegehren scheitern, weil der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht hat, gegen die Antragsgegnerin ein Anspruch auf Erlass der erstrebten einstweiligen Anordnung zu haben.

26

Dem Rechtsschutzbegehren steht hier schon der Umstand entgegen, dass die Antragsgegnerin nicht für die erstrebte Befreiung zuständig ist.

27

Die Zuständigkeit für die Befreiung vom Sportunterricht ist in der Anlage zum Erlass vom 15.05.1998 (SVBl. S. 157) geregelt. Nach Nr. 2.1 Abs. 1 der Anlage kann die den Sportunterricht erteilende Lehrkraft Schülerinnen und Schüler bis zur Dauer eines Monats von der Teilnahme am Sportunterricht oder von bestimmten Teilbereichen befreien. Eine über einen Monat hinausgehende Befreiung spricht (auf schriftlich begründeten Antrag der Erziehungsberechtigten bzw. der volljährigen Schülerin oder des volljährigen Schülers) nach Nr. 2.2 Satz 1 der Anlage die Schulleitung aus. Für die Befreiung vom Sportunterricht ist damit die Antragsgegnerin nicht zuständig. Der Erlass vom 15.05.1998 modifiziert insoweit die im Runderlass des MK vom 29.08.1995 (Nds. MBl. S. 1142 - zuletzt geändert durch Erlass vom 16.03.1999 [Nds. MBl. S. 181] -) niedergelegten "Ergänzenden Bestimmungen zur Schulpflicht und zum Rechtsverhältnis zur Schule". Eine Kompetenzübertragung auf die Bezirksregierung Weser-Ems ist nicht vorgesehen. Auch wenn die Bezirksregierung als Aufsichtsbehörde gegenüber der Schule tätig werden oder als Widerspruchsbehörde entscheiden kann, resultiert daraus keine Zuständigkeit für die der Schule zugewiesene Entscheidung über einen Befreiungsantrag.

28

Allerdings mag die Antragsgegnerin dem Antragsteller durch ihren Schriftsatz vom 12.01.2001 erst die Veranlassung zu der Annahme gegeben haben, sie, die Bezirksregierung, und nicht die Schule werde nunmehr über den Befreiungsantrag entscheiden. Im gerichtlichen Verfahren hat die Antragsgegnerin dies aber durch ihren Schriftsatz vom 06.02.2001 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Erlass vom 15.05.1998 richtig gestellt.

29

Es wäre Sache des Antragstellers gewesen, sein Antragsbegehren nunmehr gegen die B. schule zu richten. Stattdessen nimmt er weiterhin den Standpunkt ein, den geltend gemachten Anspruch gegen die Antragsgegnerin zu haben.

30

Bei der gegenwärtigen Sachlage wäre ihm Prozesskostenhilfe aber auch dann nicht zu gewähren, wenn er sein Antragsbegehren gegen die B. schule gerichtet bzw. dahin umgestellt hätte. Bei der gegenwärtigen Sachlage kann bei summarischer Beurteilung nicht festgestellt werden, dass der Antragsteller hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht hat, dass es die Glaubensfreiheit seiner Tochter und sein Erziehungsrecht in Verbindung mit dem Recht auf Glaubensfreiheit verletzen kann, wenn seine 7jährige Tochter weiterhin passiv an dem koedukativ erteilten Sportunterricht teilzunehmen hat.

31

Dass Gegenstand einer einstweiligen Anordnung nicht mehr die Verpflichtung zur vorläufigen Befreiung vom aktiven koedukativen Sportunterricht sein kann, folgt aus dem Umstand, dass die Schulleitung der B. schule der Tochter des Antragstellers die weitere Befreiung vom aktiven Sportunterricht gewährt. Von daher bedarf es hier keiner abschließenden Beurteilung, ob dazu auch eine Rechtspflicht der B. schule besteht.

32

In Bezug auf die passive Teilnahme am Sportunterricht erscheint es nicht etwa von vornherein als ausgeschlossen, dass das bloße Zusehen beim Sportgeschehen einen Glaubens- und Gewissenskonflikt auslösen kann. Denn die aktiv am Sportunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler tragen in der Regel bzw. des öfteren leichte Sportkleidung.

33

Dazu und zum Glaubenskonflikt beim koedukativen Sportunterricht hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem zum Verfahren 6 C 8.91 ergangenen Urteil vom 25.08.1993 (BVerwGE 94, 82 [BVerwG 25.08.1993 - 6 C 8/91]) unter anderem folgendes ausgeführt:

"Nach Art. 7 Abs. 1 GG steht von Verfassung wegen "das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates" und somit in seiner Verantwortung. Dies entspricht der herausragenden Bedeutung des Schul- und Bildungswesens für die Gesellschaft sowie insbesondere für die Verwirklichung der vom Grundgesetz allen Bürgern gleichermaßen eingeräumten Grundrechte, hier vor allem Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG; die dem Staat vorbehaltene Aufsicht über das gesamte Schulwesen gibt ihm die Möglichkeit, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Dabei umfasst die in Art. 7 Abs. 1 GG statuierte staatliche Schulaufsicht die Befugnis zur Planung und Organisation des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Damit der Staat seinen Bildungs- und Erziehungsauftrag - auch unabhängig von den Vorstellungen der betroffenen Eltern - wirksam und umfassend wahrnehmen kann, darf er eine allgemeine Schulpflicht einführen und die Möglichkeit einer Befreiung auf besonders begründete Ausnahmefälle beschränken (vgl. dazu BVerfGE 34, 165, 181 ff., 186 ff. und BVerwG, Beschluss vom 9. April 1975 - BVerwG 7 B 68.74 - Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr.42 = DVBl 1975, 429, mit Nachweisen).

Zu dem staatlichen Gestaltungsbereich gehört nicht nur die organisatorische Gliederung der Schule, sondern auch die inhaltliche Festlegung der Ausbildungsgänge und der Unterrichtsziele;"....

"Das Berufungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die staatliche Befugnis, die Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele festzulegen, auch für den Sportunterricht gilt; dem Staat steht es daher frei, als Inhalt und Ziel des Sportunterrichts nicht allein die Förderung der Gesundheit der Schüler sowie die Entwicklung von sportlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten, sondern zusätzlich z.B. die Einübung sozialen Verhaltens anzustreben und derart den Sportunterricht inhaltlich anzureichern und aufzuwerten.".....

"Bei der Wahrnehmung des mit Verfassungsrang ausgestatteten Bildungs- und Erziehungsauftrags sowie speziell bei der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht zu diesem Zweck muss der Staat die - gleichrangigen - Grundrechte von Eltern und Schülern beachten; dies sind vor allem Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind, sowie Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, der die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses schützt und die ungestörte Religionsausübung gewährleistet. Der hohe Rang der Religionsfreiheit im Rahmen der Organisation von Bildung und Erziehung seitens des Staates aufgrund seiner Verantwortung für das gesamte Schulwesen kommt außerdem zum Ausdruck in der detaillierten Regelung des Religionsunterrichts im Rahmen der staatlichen Schule, Art. 7 Abs. 2 und 3 GG, sowie in der Privatschulgarantie unter besonderer Hervorhebung der privaten Bekenntnisschulen und ihrer Privilegierung hinsichtlich der Zulassung privater Volksschulen, Art. 7 Abs. 4 i.V.m. Abs. 5 GG (vgl. dazu Urteil des Senats vom 19. Februar 1992 - BVerwG 6 C 3.91 - BVerwGE 90, 1 ff. ).

Die Klägerin hat sich zur Begründung ihres geltend gemachten Anspruchs auf vollständige Befreiung vom koedukativen Sportunterricht auf ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, berufen; entsprechend haben ihre Eltern, gestützt auf ihr Erziehungsrecht, Art. 6 Abs. 2 GG, argumentiert. Insoweit hat das Berufungsgericht zutreffend angenommen, dass auch Anhänger des Islam sich auf dieses Grundrecht berufen können, dass der Schutz der aus dem Koran gewonnenen Überzeugung nicht davon abhängt, ob sie im islamischen Raum allgemein oder nur von Strenggläubigen geteilt wird, und dass zu der geschützten Religionsausübung auch Äußerungen der religiösen Überzeugung wie die Beachtung von religiös begründeten Bekleidungsvorschriften gehören, solange sich derartige Äußerungen "im Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker halten" (BVerfGE 24, 236, 246) [BVerfG 16.10.1968 - 1 BvR 241/66].

Ebenfalls zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass denjenigen, der unter Berufung auf sein Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die Befreiung von einer vom Staat durch Gesetz allen auferlegten Pflicht - hier von der allgemeinen Schulpflicht hinsichtlich des Sportunterrichts - begehrt, die Darlegungslast dafür trifft, dass er durch verbindliche Ge- oder Verbote seines Glaubens gehindert ist, der gesetzlichen Pflicht zu genügen, und dass er in einen Gewissenskonflikt gestürzt würde, wenn er entgegen den Ge- oder Verboten seines Glaubens die gesetzliche Pflicht erfüllen müsste. Es hat sich nämlich nicht darauf beschränkt, entsprechende verbale Behauptungen der Klägerin entgegenzunehmen, sondern es hat zusätzlich tatsächliche Feststellungen darüber getroffen, dass die Klägerin regelmäßig den Gottesdienst in der Moschee besucht, dass sie an religiösen Veranstaltungen der islamischen Mädchengruppe teilnimmt und insbesondere auch die von ihr als für sie verbindlich bezeichneten Bekleidungsvorschriften des Korans, wie sie sie versteht, in ihrem täglichen Leben konsequent beachtet und zum Beispiel in der Öffentlichkeit sowie auch im Schulunterricht ein Kopftuch sowie weite Kleider trägt. In diesem Zusammenhang hat es mit dem konkreten Inhalt der in der Bescheinigung des Islamischen Zentrums Aachen vom 13. August 1990 beschriebenen Bekleidungsregeln, auf die die Klägerin - unter Hinweis auf die zugrundeliegende Sure 24, Vers 31, des Korans - sich berufen hatte, auseinandergesetzt und das Vorbringen der Klägerin im Sinne einer Ernsthaftigkeitskontrolle an diesen Bekleidungsregeln gemessen. Auf diese Weise hat es ausreichend sichergestellt, dass nicht schon die bloße - nicht ernsthafte, möglicherweise aus anderen Gründen vorgeschobene - Berufung auf behauptete Glaubensinhalte und Glaubensgebote, sondern erst die konkrete, substantiierte und objektiv nachvollziehbare Darlegung eines Gewissenskonfliktes als Konsequenz aus dem Zwang, der eigenen Glaubensüberzeugung zuwiderzuhandeln, geeignet ist, einen möglichen Anspruch auf Befreiung von einer konkret entgegenstehenden grundsätzlich für alle geltenden Pflicht unter der Voraussetzung zu begründen, dass der Zwang zur Befolgung dieser Pflicht die Glaubensfreiheit verletzen würde.

Nach dem Text der bezeichneten Sure sollen gläubige Frauen ihre Blicke niederschlagen, ihre Scham hüten und ihre Reize nicht zur Schau tragen, es sei denn, was außen ist, und sie sollen ihren Schleier über ihren Busen schlagen und ihre Reize nur ihren Ehegatten, Vätern, Brüdern, Söhnen und anderen nahen männlichen Verwandten sowie Frauen und auch Kindern, welche die Blöße der Frau nicht beachten, zeigen. Insoweit hat die Klägerin nachvollziehbar dargelegt, dass sie dieses Glaubensgebot in dem Sinne verstehe, dass es Mädchen ihres Alters eine entsprechende Verhüllung ihres Körpers auch im Sportunterricht vorschreibe, wenn dieser in Gegenwart von Jungen stattfinde; dabei müsse sie immer befürchten, auch bei weit geschnittener Kleidung die Konturen ihres Körpers zu zeigen oder ihr Kopftuch zu verlieren und derart die Gebote ihres Glaubens zu verletzen; das mache ihr die Teilnahme am Sportunterricht zusammen mit Jungen unzumutbar. Auch dürfe sie Jungen mit zweckentsprechend knapp geschnittener oder enganliegender Sportkleidung bei ihren Übungen nicht zusehen und müsse körperliche Berührungen mit Jungen vermeiden, was ihr jedoch in einem gemeinsamen Sportunterricht mit Jungen nicht möglich sei. Da die Klägerin diese für sie verbindlichen Vorschriften aus ihrem Glauben herleitet, genießt sie insoweit den Schutz des Art. 4 Abs. 1 2 GG.

Diesem Grundrecht der Klägerin auf Respektierung ihres Glaubens steht zwar der dem Beklagten obliegende staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag, Art. 7 Abs. 1 GG, kraft dessen er an der von der Klägerin besuchten öffentlichen Schule im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht einen gemeinsamen Sportunterricht für Mädchen und Jungen eingerichtet hat, prinzipiell gleichgeordnet gegenüber. Dieser Konflikt kann bei einer Abwägung aller zu berücksichtigenden Gesichtspunkte aber in der Weise zu einem schonenden Ausgleich (vgl. dazu BVerfGE 41, 65, 78 [BVerfG 17.12.1975 - 1 BvR 428/69] und 52, 223, 251 f.) gebracht werden, dass der Klägerin ein Anspruch auf Befreiung vom Sportunterricht (nur) für den Fall zugestanden wird, dass der Sportunterricht vom Beklagten für Mädchen ihres Alters ausschließlich in der Form eines gemeinsamen (koedukativen) Unterrichts für Mädchen und Jungen angeboten wird. Das ergibt sich im einzelnen aus folgenden Erwägungen:

Der aus Art. 7 Abs. 1 GG folgende Erziehungsauftrag des Staates wird in bezug auf den hier allein interessierenden Sportunterricht dann nicht durch die gebotene Rücksichtnahme auf die Glaubensfreiheit der Klägerin in Frage gestellt, wenn der Staat ihrem Anliegen schon mit den ihm zu Gebote stehenden organisatorischen Mitteln in vertretbarer Weise Rechnung tragen kann. Das ist ihm in der Weise möglich, dass er anstelle eines koedukativ erteilten Sportunterrichts, der den von der Klägerin dargelegten Glaubenskonflikt zur Folge hat, einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht anbietet. Dadurch wird die Erfüllung des ihm obliegenden Erziehungsauftrags weder insgesamt noch auch nur in bezug auf die Erteilung von Sportunterricht ernsthaft gefährdet. Das hat dann allerdings zur Folge, dass dann, wenn er von dieser organisatorischen Möglichkeit keinen Gebrauch macht, er sich gegenüber dem Verlangen der Klägerin nach Befreiung allein vom koedukativ erteilten Sportunterricht nicht auf den Vorrang seines Erziehungsauftrags berufen kann.

Deshalb hat im Hinblick darauf, dass der Beklagte an der von der Klägerin besuchten Schule einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht jedenfalls für Schülerinnen und Schüler ab der Altersstufe der (12-jährigen) Klägerin einführen könnte und dies im wesentlichen wegen organisatorischer Schwierigkeiten nicht tut, bei Abwägung aller Aspekte mit dem Ziel der Herbeiführung eines schonenden Ausgleichs die Glaubensfreiheit der Klägerin den Vorrang."........

"Ein Anspruch der Klägerin auf vollständige Befreiung vom koedukativen Sportunterricht, d.h. vom Sportunterricht, solange der Beklagte diesen nicht nach Geschlechtern getrennt anbietet, wäre nach alledem nur dann nicht gegeben, wenn ihr Glaubenskonflikt, dessentwegen sie ihre Befreiung begehrt, mit weniger weitreichenden Maßnahmen vermieden werden könnte; das ist indessen nicht der Fall. Das OVG ist zwar der Auffassung, es reiche aus, dass der Beklagte der Klägerin angeboten habe, mit entsprechend weitgeschnittener Kleidung , die ihren Körper ausreichend verhülle, sowie mit einem Kopftuch am Sportunterricht teilzunehmen und sie erforderlichenfalls von solchen Übungen zu befreien, bei denen diese Kleidung eine Verletzungsgefahr begründen könnte. Mit dieser Auffassung har das OVG der Klägerin indessen eine nicht nur unerhebliche und ihr nicht ohne weiteres zumutbare Beschränkung ihrer Glaubensfreiheit abverlangt und damit ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1und 2 GG nicht hinreichend Rechnung getragen. Die Klägerin weist nämlich mit Recht darauf hin, dass auch eine weitgeschnittene Kleidung sie nicht ausreichend vor dem Konflikt mit den für sie verbindlichen Glaubensätzen schütze; denn sie müsse immer befürchten, dass auch bei einer solchen Bekleidung die Konturen ihres Körpers sichtbar würden und sie möglicherweise ihr Kopftuch verliere, was ihr die Teilnahme am Sportunterricht zur Qual mache; außerdem würden dadurch ihr verbotene körperliche Berührungen mit Jungen nicht ausgeschlossen, und schließlich sei sie gezwungen, den entweder mit zweckentsprechend knapp geschnittener oder enganliegender Sportkleidung bekleideten Jungen bei ihren Übungen zuzusehen, was ihr ebenfalls verboten sei."

34

Der Antragsteller beruft sich zwar ausdrücklich darauf, dass auch bereits die bloße Betrachtung der in Sportkleidung am Sportunterricht teilnehmenden Mitschüler den Glaubens- und Gewissenskonflikt auslöse, und dazu ist zunächst anzumerken, dass es nach insoweit einhelliger Rechtsprechung dem Staat und auch den Gerichten verwehrt ist, Glaubensüberzeugungen seiner Bürger zu bewerten oder gar als nicht "richtig" oder "falsch" zu bezeichnen, da selbst Außenseitern und Sektierern die ungestörte Entfaltung ihrer Persönlichkeit gemäß ihren subjektiven Glaubensüberzeugungen zu gestatten ist, solange sie nicht im Widerspruch zu anderen Wertentscheidungen der Verfassung geraten oder aus ihrem Verhalten deshalb fühlbare Beeinträchtigungen für das Gemeinwesen oder die Grundrechte anderer entstehen (vgl. BVerwG, U. v. 25.08.1993 - 6 C 7.93 - Buchholz 421 Nr. 108; OVG Lüneburg B. v. 26.04.1991 - 13 M 7618/91 - NVwZ 1992, 79; OVG Münster, U. v. 12.07.1991 - 19 A 1706/90 - NVwZ 1992, 77). Jedoch muss eine mit der Schulpflicht bzw. mit der passiven Teilnahme am Sportunterricht in Konflikt stehende Glaubensüberzeugung als solche hinreichend objektivierbar sein, um eine entsprechende Befreiung zu rechtfertigen. Wer sich auf seine Glaubens- und Gewissensfreiheit beruft, muss ernstliche, einsehbare Erwägungen, d.h. wenigstens ansatzweise objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte für seine Glaubens- und Gewissensnot vortragen. Anderenfalls ist den Beweisanforderungen nicht genügt, die das Gericht berücksichtigen muss, um die Motive einer echten Gewissensnot nachvollziehen zu können (BVerwG, U. v. 25.08.1993 - 6 C 7.93 - a.a.O., m.w.N.). Daran fehlt es hier. Der Antragsteller hat bislang nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass und weshalb es tatsächlich gegen die Glaubensfreiheit seiner Tochter und gegen sein elterliches Erziehungsrecht verstoßen kann, wenn seine erst 7 Jahre alte Tochter das Sportgeschehen Gleichaltriger verfolgt. Dafür geben auch die Stellungnahmen des Islamrates der Bundesrepublik Deutschland nicht Hinreichendes her. Zurecht hat die Schule bereits darauf hingewiesen, dass in der zweiten Stellungnahme des Islamrates keine religiösen, sondern allein pädagogische Gründe gegen die passive Teilnahme angeführt sind. Aber auch die zuletzt vorgelegte Stellungnahme des Islamrates vom 13.02.2000 enthält hierzu keine spezifischen Aussagen.

35

Nach alledem musste der Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt werden. Dabei konnte es dahinstehen, ob der Antragsteller berechtigt ist, das elterliche Sorgerecht allein geltend zu machen oder ob davon auszugehen ist, dass er zugleich in Vollmacht seiner Ehefrau gehandelt hat.

Essig
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