Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 20.08.1997, Az.: 6 A 8016/94

Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht "Werte und Normen"; Gebot der konfessionellen Neutralität; Staatskirchenrechtliche Entwicklung in Deutschland; Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
20.08.1997
Aktenzeichen
6 A 8016/94
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1997, 24933
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:1997:0820.6A8016.94.0A

Fundstellen

  • DVBl 1998, 405-407 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
  • NVwZ 1998, 316-318 (Volltext mit amtl. LS)
  • NVwZ 1998, 816-819 (Urteilsbesprechung von Dr. Gitta Werner)

Das Verwaltungsgericht Hannover - 6. Kammer Hannover - hat
auf die mündliche Verhandlung vom 20. August 1997
durch
Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Dr. Weidemann,
Richter am Verwaltungsgericht Wagstyl und
Richter am Verwaltungsgericht Goos sowie
Frau Reineking und Frau Meyer als ehrenamtliche Richterinnen
beschlossen:

Tenor:

Das Verfahren wird ausgesetzt, um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob § 128 Abs. 1 Niedersächsisches Schulgesetz mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere mit Art. 3 Abs. 3, vereinbar ist.

Gründe

1

I.

Der ... geborene, konfessionslose Kläger begehrt die Befreiung vom Unterricht im Fach "Werte und Normen". Er besucht im Schuljahr 1997/98 die 11. Klasse bei der Beklagten.

2

Am 5.6.1994 baten die Eltern des Klägers die Beklagte um Bestätigung, daß der Kläger entgegnen § 128 Nds. Schulgesetz (NSchG) im Schuljahr 1994/95 nicht zur Teilnahme am Unterricht im Fach Werte und Normen verpflichtet sei. Mit Bescheid vom 13.6.1994 lehnte die Beklagte eine Freistellung ab und wies darauf hin, daß der Kläger am Unterricht teilnehmen müsse, sobald sie das Fach anbiete. Unter dem 19.6.1994 erhob der Vater des Klägers Widerspruch und rügte, daß die Verpflichtung gegen die Art. 3 Abs. 3, 4 Abs. 1 und 140 GG i.V.m. Art. 136 WRV verstoße. Die Bezirksregierung Hannover wies den Widerspruch mit Bescheid vom 26.9.1994 als unbegründet zurück. Die Teilnahmepflicht am Fach Werte und Normen beruhe auf § 124 ff. NSchG. Diese Normen ständen im Einklang mit dem Grundgesetz.

3

Der Kläger hat am 25.10.1994 Klage erhoben, die er wie folgt begründet: Das Ziel seiner Klage sei die dauerhafte Freistellung vom Unterricht im Fach Werte und Normen. Die ursprüngliche Beschränkung im Antrag vom 5.6.1994 auf das Schuljahr 1994/95 sei noch im Verwaltungsverfahren entfallen. Er sei nicht zur Teilnahme am Unterricht im Fach Werte und Normen verpflichtet, da die in § 128 Abs. 1 NSchG geregelte Verpflichtung gegen dasGrundgesetz verstoße. Bereits die tatsächliche Situation, insbesondere die mangelnde Unterrichtsversorgung in diesem Fach, sei mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Mangels ausreichenden Lehrpersonals erreiche die Pflicht zur Teilnahme am Fach weniger als 40 % des Adressatenkreises, d.h. der Schüler, die nicht am evangelischen oder katholischen Religionsunterricht teilnähmen. An dieser Situation werde sich auch in Zukunft nichts ändern. Angesichts der tatsächlichen Verhältnisse sei eine Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht Werte und Normen willkürlich, da sie eher zufällig eine Minderheit der eigentlichen Teilnahmeverpflichteten treffe. § 128 Abs. 1 NSchG verstoße darüber hinaus sowohl gegen Art. 4 Abs. 1 GG als auch gegen Art. 3 Abs. 3 und Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV. Konfessionslosen Schülern werde wegen der Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft eine besondere Verpflichtung auferlegt, am Unterricht Werte und Normen teilzunehmen. Diese Pflicht hätten Schüler, die am Religionsunterricht teilnahmen, nicht. Ebensowenig seien von der Pflicht glaubensgebundene Schüler betroffen, die nicht evangelisch oder katholisch seien (z. B, Moslems, Buddhisten). Diese unterschiedliche Behandlung sei nicht gerechtfertigt, auch nicht ausArt. 7 Abs. 3 GG. Im übrigen sei das wahre Motiv für die Einführung des Fachs Werte und Normen nicht die ethische Erziehung der Schüler. Man habe vielmehr verhindern wollen, daß den Großkirchen der Nachwuchs aus dem Religionsunterricht davonlaufe. Der Staat sei jedoch daran gehindert, die Auszehrung des Religionsunterrichts durch Begründung einer "Ersatzpflicht" zu verhindern. Er verstoße damit gegen das Gebot der konfessionellen Neutralität. Er, der Kläger, könne daher nur dann zur Teilnahme am Unterricht im Fach Werte und Normen verpflichtet sein, wenn alle Schülerinnen und Schüler daran teilnehmen müßten. Insoweit liege eine Schlechterstellung gegenüber den Schülern vor, für die kein Religionsunterricht angeboten werde und die daher auch nicht am Unterricht in Werte und Normen teilnehmen müßten. Ihn treffe gegenüber den evangelischen und katholischen Mitschülern darüber hinaus eine Zusatzbelastung, da er aufgrund seiner Konfessionslosigkeit nicht verpflichtet sei, am Religionsunterricht teilzunehmen. Wesentlich seien nicht quantitative Mehrbelastungen durch die Teilnahmeverpflichtung, sondern die qualitativen Fragen.

4

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Bescheid der Beklagten vom 13.06.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Hannover vom 26.09.1994 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn - den Kläger -von der Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht im Fach Werte und Normen freizustellen,

  2. 2.

    hilfsweise

    festzustellen, daß er - der Kläger - für die Dauer seines Schulbesuchs nicht verpflichtet ist, am Unterricht in dem Fach Werte und Normen teilzunehmen,

5

sowie für den Fall seines Unterliegens:

die Sprungrevision zuzulassen.

6

Die Beklagte, die mit Zulassung der Sprungrevision einverstanden ist, beantragt im übrigen,

die Klage abzuweisen.

7

Sie entgegnet: Für den Jahrgang des Klägers finde in der Klasse 11 im Schuljahr 1997/98 kein Unterricht im Fach Werte und Normen statt. In der Kursstufe der Sekundarstufe II (12. und 13. Jahrgang) werde allen Schülern, die zur Teilnahme am Unterricht in Werte und Normen verpflichtet seien, dieses Fach angeboten. Es sei davon auszugehen, daß auch in Zukunft in der Kursstufe dieses Fach sowohl aufgrund der Lehrkapazität als auch im Hinblick auf die Anzahl der teilnahmeverpflichteten Schüler angeboten werden könne. Schüler, die zur Teilnahme nicht verpflichtet seien, müßten rechtlich gesehen dafür keine anderen Fächer belegen, um z.B. auf die notwendige Gesamtbelegungsstundenzahl zu kommen. In der Praxis hätten jedoch bislang sämtliche Schüler freiwillig weitere Fächer im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld belegt, um die Chancen zu erhöhen, die notwendigen Gesamtpunktzahlen für das Abitur zu erreichen und um eventuellen Problemen mit der Anerkennung des niedersächsischen Abiturs in süddeutschen Bundesländern auszuweichen (Mindestbelegungsverpflichtung). Die Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht im Fach Werte und Normen verstoße nicht gegen höherrangiges Recht. Das Land Niedersachsen sei insoweit bemüht, die Unterrichtsversorgung auszuweiten. Ein Verstoß gegen Diskriminierungsverbote liege nicht vor. Die Einführung des Fachs werde von Art. 7 Abs. 1 GG (Gestaltungsfreiheit des Staates bei der Bestimmung des Unterrichtsstoffs) gedeckt. Die Differenzierung zwischen den katholischen und evangelischen Schülern und den Schülern, die einer anderen Religionsgemeinschaft angehörten, beruhe darauf, daß von Schülern, die sich gegen den Religionsunterricht aussprächen, eine Teilnahme am Unterricht im Fach Werte und Normen erwartet werden könne. Von Schülern, die zwar am Unterricht in ihrer Religion teilzunehmen bereit seien, für die aber kein solcher Unterricht eingerichtet sei, könne dies nicht erwartet werden.

8

Im zweiten Halbjahr des Schuljahres 1995/96 nahm der Kläger am Unterricht Werte und Normen teil. Im übrigen hatte ihm die Beklagte Unterricht in diesem Fach nicht angeboten.

9

Wegen der näheren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgang verwiesen.

10

II.

Die Klage ist zulässig (1.). Ihrem Erfolg in der Sache steht niedersächsisches Schulrecht entgegen, dessen Verfassungsmäßigkeit die Kammer verneint (2.). Deshalb sieht sich die Kammer zur Vorlage veranlaßt (3.).

11

1.

Die Klage ist zulässig.

12

1.1

Sie scheitert nicht am fehlenden Vorverfahren. Nach den Erklärungen der gesetzlichen Vertreter des Klägers im Erörterungstermin am 18.04.1997 stellten sie nämlich den Befreiungsantrag für den Kläger und legten auch für ihn Widerspruch ein, wobei das Handeln des Vaters kraft ihrer Zustimmung auch für die Mutter galt. Im übrigen hat sich die Beklagte rügelos zur Sache eingelassen.

13

1.2

Der auf Verpflichtung zur Befreiung des Klägers gerichtete Hauptantrag ist statthaft, weil die Freistellung von der Pflicht zur Teilnahme am Unterricht, wäre sie denn möglich, eines Verwaltungsakts bedürfte. Statthaft ist auch der hilfsweise gestellte negative Feststellungsantrag, weil der Kläger insoweit die Ansicht vertritt, dem Unterricht im Fach Werte und Normen auch ohne besondere Befreiung fernbleiben zu dürfen (vgl. die Erwägungen des VGH Baden-Württemberg im Urteil vom 01.07.1997 - 9 S 1126/95 -, Abdruck S. 10).

14

1.3

Das Rechtsschutzbedürfnis besteht ungeachtet des Umstands, daß der Kläger mangels Unterrichtsangebots im laufenden 11. Schuljahrgang am Unterricht im Fach Werte und Normen nicht teilnehmen muß. Die Beklagte wird nämlich in der Kursstufe (12. und 13. Jahrgang) den teilnahmeverpflichteten Schülern und Schülerinnen das Fach anbieten.

15

2.

Der Erfolg der Klage scheitert an § 128 Abs. 1 Nieders. Schulgesetz in der Fassung vom 27.09.1993 (Nds. GVBl. S. 383), zuletzt geändert durch Artikel 6 des Gesetzes vom 13.12.1996 (Nds. GVBl. 494) - künftig: NSchG -, dessen Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 2, Art. 7 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) das Gericht verneint.

16

2.1

Die Pflicht des Klägers zur Teilnahme am Unterricht in Werte und Normen ergibt sich aus § 128 Abs. 1 NSchG, für die Kursstufe im besonderen aus § 12 Abs. 2 i.V.m. Anlage 5 der Verordnung über die gymnasiale Oberstufe und das Fachgymnasium - VO-GOF - vom 26.05.1997 (Nds. GVBl. S. 139). Sie gilt für den Kläger seit Beginn des laufenden Schuljahrs (§ 16 Abs. 1,3 VO-GOF).

17

§ 128 Abs. 1 NSchG lautet:

Wer nicht am Religionsunterricht teilnimmt, ist statt dessen zur Teilnahme am Unterricht Werte und Normen verpflichtet, wenn die Schule diesen Unterricht eingerichtet hat. Dies gilt nicht für diejenigen, für die Religionsunterricht ihrer Religionsgemeinschaft nicht eingerichtet werden kann. Die Schule hat den Unterricht Werte und Normen als ordentliches Lehrfach vom 5. Schuljahrgang an einzurichten, wenn mindestens zwölf Schülerinnen oder Schüler zur Teilnahme verpflichtet sind.

18

Eine Befreiungsmöglichkeit ist danach nicht vorgesehen,

19

2.2

Gegen die Veranstaltung von Ethik-Unterricht - um einen solchen handelt es sich beim streitbefangenen Fach - bestehen grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken (VG Freiburg. Urt. vom 08.03.1995 - 2 K 1125/94 -, NVwZ 1996, 507 [VG Freiburg 08.03.1995 - 2 K 1125/94]<508>; vgl. ferner BayVGH, Beschl. v. 06.07.1995 - 7 CE 95.1686 -, BayVBl, 1996, 405; BayObLG, Beschl. v. 26.10.1995 - 3 ObOWi 98/95 -, BayVBl. 1996, 412; Czermak, NVwZ 1996, 450 [VG Freiburg 08.03.1995 - 2 K 1125/94] <452>). Der Staat darf kraft Art. 7 Abs. 1 GG gleichberechtigt neben dem in Art. 6 Abs. 2 GG geschützten elterlichen Erziehungsrecht Erziehungsziele setzen (VG Freiburg, a.a.O., S. 507; Czermak, a.a.O., S. 451). Eine solche Festlegung enthält auch § 2 Abs. 1 Satz 3 NSchG, nach dem die Schülerinnen und Schüler u.a. fähig werden sollen, "nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten". Gerade in einer Zeit, die durch den Verlust des Konsenses der Rechtsgemeinschaft über die für das Zusammenleben konstitutiven Werte gekennzeichnet ist, kommt einer solchen Unterweisung eine erhebliche Bedeutung zu, mag auch letztlich der Beitrag des Elternhauses zur Ethikerziehung noch wichtiger sein. Verfassungsrechtliche Grenzen können sich im einzelnen bei der Ausgestaltung ergeben. So wäre beispielsweise der Staat gehindert, unter dem Etikett des Ethikunterrichts spezifisch christliche Wertvorstellungen zu vermitteln (vgl. z.B. Maunz in Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 7 RdNr. 52 a, b).

20

2.3

Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken ergeben sich indessen aus der Verknüpfung des Faches "Werte und Normen" mit dem Religionsunterricht: Wer am letzteren nicht teilnimmt, hat - soweit eingerichtet - den Unterricht des ersteren zu besuchen (§ 128 Abs. 1 Satz 1 NSchG). Die Kammer meint, daß diese Konstruktion gegen Art. 7 Abs. 2 GG sowie gegen das Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG verstößt, und zwar aus folgenden Gründen:

21

2.3.1

Religionsunterricht, wenngleich "ordentliches Lehrfach" (Art. 7 Abs. 1 Satz 1 GG), läßt sich mit den anderen Unterrichtsgegenständen nicht vergleichen. Er beruht auf einer Ausnahmevorschrift zugunsten der Kirchen. Diese Ausnahme kann nicht zur Regel und Basis von Ersatzunterricht gemacht werden. Das ergibt sich aus der Betrachtung der staatskirchenrechtlichen Entwicklung in Deutschland.

22

Nach Art. 140 GG i.V.m. dem "inkorporierten" Art. 137 Abs. 1 der Deutschen Verfassung vom 11.08.1919 (Weimarer Reichsverfassung, künftig: WRV) besteht keine Staatskirche. Das von derWRV etablierte, vom GGübernommene staatskirchenrechtliche System wird seit Ulrich Stütz treffender Prägung als "hinkende Trennung" bezeichnet (zitiert nach v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl. München 1996, S. 40; vgl. auch Korte/Rebe, Verfassung und Verwaltung des Landes Niedersachsen, 2. Aufl. Göttingen 1986, S. 708). Sein Befund wird in der staatskirchenrechtlichen Literatur kontrovers diskutiert, und gerade der Religionsunterricht spielt dabei eine bedeutsame Rolle. Er ist kraft Art. 7 Abs. 1 Satz 1 GG in den öffentlichen (außer den bekenntnisfreien) Schulen ordentliches Lehrfach. Frhr. v, Campenhausen, Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, sieht ihn als Beleg für eine unvollständige Trennung von Staat und Kirche (Staatskirchenrecht, S. 247). Ähnlich, aber noch weitergehend, argumentiert Friedrich (Einführung in das Kirchenrecht, 2, Aufl. Göttingen 1978, S. 496 ff). Er wendet sich allerdings vehement gegen die Vorstellung einer Trennung von Staat und Kirche, die er für eine "reine Utopie" hält (S. 499). Dieser Standpunkt mag sich theologisch rechtfertigen lassen, mit dem geltenden Staatskirchenrecht dürfte er unvereinbar sein. Demgegenüber sieht z.B. Fischer (Trennung von Staat und Kirche, 3. Aufl. Frankfurt/Main 1984) den Religionsunterricht als Verstoß gegen das Trennungsprinzip (S. 291) und Ausnahme (S. 494; ebenso v. Drygalski, Die Einwirkung der Kirchen auf den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Göttingen 1967 S. 98 ff; Czermak, NVwZ 1996, 450 [VG Freiburg 08.03.1995 - 2 K 1125/94]<453>). Mahrenholz (Die Kirchen in der Gesellschaft der Bundesrepublik, 2. Aufl. Hannover 1972, S. 132) nennt den Religionsunterricht eine "wichtige Abschwächung" des Trennungsprinzips, einen "Fremdkörper" und ein "Fossil alter Zeiten der Nähe von Staat und Kirche", Auch Jarass (in Jarass/Pieroth, GG, 2, Aufl. München 1992, Art. 4 RdNr. 33 und Art. 7 RdNr. 7) will das Trennungsprinzip strikt und den Religionsunterricht als "Durchbrechung" verstanden sehen. Seinen Ansatz teilt H. Weber, der aus dem Grundgesetz ein "reines Trennungsprinzip" abliest (Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, Berlin 1966, S. 32 m. zahlr. Nachweisen).

23

Die Kammer tritt der Ansicht bei, daß die verfassungskräftige Verbürgung des Religionsunterrichts dem Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche zuwiderläuft. Das benimmt im Sinne gebotener Konkordanz Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG nicht seine Wirkkraft, aber es charakterisiert ihn als Ausnahmevorschrift und Erbstück des Staatskirchentums. Der religiös neutrale Staat gestattet den Kirchen, religiöse Unterweisung in den Schulen zu veranstalten in einer Weise, die sie den anderen Lehrfächern gleichstellt, und zwar in seiner Trägerschaft und unter seiner Aufsicht (BVerfG, Beschl. v. 25.02.1987 - 1 BvR 47/84 -, BVerfGE 74, 244 [BVerfG 25.02.1987 - 1 BvR 47/84] <251>); nur das ist die Bedeutung des Wortes "ordentliches" Lehrfach. Den grundlegenden Unterschied des Faches zu anderen Lehrgegenständen macht aber der Umstand aus, daß die Teilnahme freiwillig ist; denn die Erziehungsberechtigten (Art. 7 Abs. 2 GG) bzw. das mit 14 Jahren religionsmündig gewordene Kind (§ 124 Abs. 2 Satz 1 NSchG) bestimmen selbst darüber.

24

2.3.2

Eben dieser Umstand begründet nach Ansicht der Kammer die Verfassungswidrigkeit des § 128 Abs. 1 NSchG.

25

Man kann bereits mit Renck (BayVBl. 1992, 519 <520>) und Czermak (NVwZ 1996, 450 [VG Freiburg 08.03.1995 - 2 K 1125/94]<452 f>) die Meinung vertreten, daß die Wahrnehmung des Grundrechts aus Art. 7 Abs. 2 GG keinen Schranken unterliegt. Seinem Wortlaut nach ist er unbeschränkt, und für Erwägungen, die die Schrankensetzung gegenüber unbeschränkten Grundrechten rechtfertigen sollen (vgl. etwa zur Kunstfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG: BVerfGE 83, 130 [BVerfG 27.11.1990 - 1 BvR 402/87]; zu den damit verbundenen Fragen Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, München 1994, hier insbesondere S. 147 ff), ist ein Anlaß nicht ersichtlich. Schon dieser Befund dürfte § 128 Abs. 1 NSchG den Boden entziehen. Renck (BayVBl. 1992, 519 <521>) formuliert das pointiert so: "Religionsunterrichtsverweigerer brauchen keinen Ersatzdienst in Ethik zu leisten" (zustimmend Czermak, NVwZ 1996, 450 [VG Freiburg 08.03.1995 - 2 K 1125/94]<452>; ähnlich bereits Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 304).

26

Zum gleichen Ergebnis kommt man bei Beachtung des in Art. 3 Abs. 3 GG statuierten Differenzierungsverbots. Daß der dort genannte "Glauben" auch areligiöse Auffassungen einschließt, ist seit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 08.11.1960 (-1 BvR 59/56 -, BVerfGE 12, 1 <3>) allgemein anerkannt (vgl. etwa Gubelt in v. Münch, GG, Band 1, 3. Aufl. München 1985, Art. 3 Rdnr. 94). Seinetwegen, in sicherstellen müssen, daß es alle Schüler und Schülerinnen, mindestens aber eine möglichst große Anzahl von ihnen, tatsächlich erreicht. Davon kann nicht die Rede sein.

27

3.

Angesichts der vorstehend geschilderten Rechtslage sieht sich die Kammer an der von ihr für richtig gehaltenen stattgebenden Entscheidung gehindert, weil § 128 Abs. 1 NSchG dem entgegensteht; auch eine verfassungskonforme Auslegung kommt offenkundig nicht in Betracht. Die Vorschrift enthält keine Tatbestandsmerkmale oder Ausnahmefälle, die bei verfassungsentsprechender Exegese die vom Kläger gewünschte Entscheidung ermöglichen würden. Ein derartiger Versuch des Gerichts würde der klaren Entscheidung des niedersächsischen Gesetzgebers Gewalt antun. Deshalb ist die Sache dem Bundesverfassungsgericht mit der in der Beschlußformel bezeichneten Frage zur Entscheidung vorzulegen.

28

Dieser Beschluß ist unanfechtbar.

Dr. Weidemann
Wagstyl
Goos