Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 31.01.1997, Az.: 3 A 3278/96

Asylanspruch bei politischer Verfolgung im Heimatland; Begründung eines Abschiebungshindernisses wegen einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit; Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung bei einer Inhaftierung in Rußland

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
31.01.1997
Aktenzeichen
3 A 3278/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 25056
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:1997:0131.3A3278.96.0A

Fundstelle

  • NVwZ (Beilage) 1997, 62-64 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Asyl, Abschiebungsschutz nach § 51 AuslG, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung

Die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Braunschweig hat
durch
den Richter Dr. Struß als Einzelrichter
auf die mündliche Verhandlung vom 31.01.1997
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, daß für die Kläger ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 4 AuslG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegt.

Der Bescheid der Beklagten vom 01.07.1996 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger und die Beklagte je zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Hinsichtlich der Kostenentscheidung ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Beteiligte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der jeweilige andere Beteiligte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1

I.

Die Kläger sind ehemalige sowjetische Staatsangehörige. Der Kläger zu 1) war als Soldat der sowjetischen/russischen Streitkräfte in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern stationiert. Am 22.02.1992 verließ er mit dem Kläger zu 3) seine Einheit. Beide begaben sich ca. einen Monat später nach Braunschweig. Dort beantragte der Kläger zu 1) für sich und seinen Sohn am 08.04.1992 die Anerkennung als Asylberechtigte. Die Kläger zu 2) und 4) folgten ihnen nach und stellten am 09.11.1992 einen Asylantrag.

2

Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 21.12.1993 erklärte der Kläger zu 1), er habe seinen Dienst am 20.08.1989 in der Militärgarnison Krakow als Obergefreiter angetreten. Von 1989 bis 1990 sei er Musiker im Orchester in Magdeburg gewesen. Im letzten Halbjahr 1990 habe er eine Weiterbildung in Bernau an der Militärschule als Musiker gemacht. Dann sei er zum Unteroffizier befördert worden. Im Mai 1991 sei er von Magdeburg nach Mahlwinkel bei Stendal versetzt worden. Dort habe sein kleiner Sohn mit ihm in der Kaserne gelebt. Mit diesem habe er am 22.02.1992 die Kaserne verlassen. Er sei nach Magdeburg gefahren und habe bei der Familie ... ca. einen Monat gewohnt. Danach sei er mit seinem kleinen Sohn nach Braunschweig gefahren. Seine Frau sei dann mit dem älteren Sohn im Juni oder Juli 1992 nachgekommen als er schon in ... gewesen sei. Er habe politisches Asyl beantragt, weil er zuviel über die Aktivitäten der militärischen Mafia gewußt habe. Obwohl es nicht seine Aufgabe gewesen sei, habe er von seinem Vorgesetzten den Befehl erhalten, Blockhäuser und Saunen zu bauen. Er habe auch Möbel bauen müssen. Wenn die Obersten ein Fest hatten, habe er Musik machen müssen. Zuletzt habe er sich geweigert, für einen Oberst eine Wohnzimmereinrichtung herzustellen. Dieses sei Anfang Februar 1992 gewesen. Als am 22.02.1992 jemand gekommen sei, um nach den Möbeln zu sehen, hatte er noch nicht mit dem Bau begonnen. Der Vorgesetzte habe ihm daraufhin gesagt, er müsse innerhalb von 24 Stunden nach Rußland zurück. Als Grund sollte angegeben werden, daß er Kontakte zu Deutschen gehabt habe. Ein Freund habe ihm erzählt, daß er die Papiere für seine Versetzung nach Rußland habe fertig machen müssen. Er habe ihm gesagt, es werde auf jeden Fall nicht gut für ihn enden. Auf Nachfrage erläuterte der Kläger die Aktivitäten einer Mafiaorganisation, die er mit dem Namen ... bezeichnet. Der Vorsitzende sei eine Person aus der Garnison gewesen, bei den anderen Personen habe es sich um Privatleute gehandelt. Er habe mitbekommen, daß viele Dinge an die Deutschen verkauft worden seien, so z.B. Zigaretten, Wodka, Dieselkraftstoff, Videogeräte und Radiogeräte.

3

Die Klägerin zu 2) erklärte bei derselben Anhörung, sie stütze ihren Asylantrag auf das Vorbringen ihres Mannes.

4

Mit Bescheid vom 01.07.1996 lehnte die Beklagte die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte ab. Sie stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Die Kläger wurden zur Ausreise aufgefordert. Ihnen wurde die Abschiebung in die Russische Föderation oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht.

5

Am 18.07.1996 haben die Kläger Klage erhoben.

6

Sie tragen ergänzend zu ihrem Vorbringen im Verwaltungsverfahren vor, der Kläger zu 1) habe erfahren, daß Oberst Belikow, der ehemalige Kommandant der Garnison in Mahlwinkel, Beziehungen zu dem Militärkommissariat seiner Heimatstadt ... unterhalte. Er habe auch erfahren, daß seine Eltern mehrfach von diesem Militärkommissariat vorgeladen und nach ihm befragt worden seien. Bei seiner Rückkehr nach Rußland erwarte ihn als längerdienende Militärperson eine Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren nach Art. 247 des russischen Strafgesetzbuches, die er in einem Straflager zu verbüßen habe. Allein die Untersuchungshaft sei schon als menschenrechtswidrige Behandlung zu qualifizieren. In dem Militärgerichtsprozeß habe er nach einer Auskunft der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) kein Recht auf Zulassung eines zivilen Verteidigers. Aus diesen Umständen ergäben sich Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 und 6 EMRK. Der Kläger zu 1) trägt weiterhin vor, er werde als äußerst sensible und sich gekehrte Person, die auch in der Armee nie Dienst an der Waffe geleistet habe, die Haft und den Prozeß weder physisch noch psychisch verkraften. Außerdem drohe ihm Gefahr wegen seiner Kenntnis über die illegalen mafiosen Machenschaften seiner damaligen Vorgesetzten. Die illegalen Strukturen seien auch nach dem Abzug der Westgruppe intakt. In einer von ihm selbst verfaßten Erklärung vom 12.08.1996 schildert der Kläger zu 1) detailliert seine Erlebnisse. Auf den Inhalt der Erklärung wird verwiesen, um ihr Vorbringen glaubhaft zu machen, haben die Kläger außerdem einen Brief der Eltern des Klägers zu 1) nebst Briefumschlägen sowie eine von dem Kläger zu 1) gefertigte Zeichnung der von ihm gebauten Sommerhäuser vorgelegt. Schließlich haben die Kläger einen an sie gerichteten Brief aus Rußland zu den Akten gereicht, der nach ihren Angaben von russischen Behörden geöffnet worden ist.

7

Die Kläger beantragen,

den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 01.07.1996 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen sowie festzustellen, daß in ihrer Person jeweils die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.

8

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

10

Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ergeben sich aus der Anlage zu dem gerichtlichen Schreiben vom 08.01.1997 und dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 31.01.1997.

11

Die Kläger zu 1) und 2) sind in der mündlichen Verhandlung vom 31.01.1997 informatorisch angehört worden. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

12

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie die beigezogene Ausländerakte des Landkreises Goslar verwiesen. Diese Unterlagen haben dem Gericht bei der Entscheidung vorgelegen.

13

II.

Die Klage ist teilweise begründet.

14

Die Kläger haben weder einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte noch liegen bei ihnen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vor.

15

Allerdings haben die Kläger einen Anspruch auf eine Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 4 AuslG bezüglich der Russischen Föderation.

16

Nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes - GG - a.F. (auf den sich die Kläger wegen der Asylantragstellung vor dem 01.07.1993 berufen können, heute Art. 16 a Abs. 1 GG) i.V.m. Art. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Konvention - (BGBl. II 1953, S. 560) besteht unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein Anspruch auf Asylgewährung, wenn der Asylbewerber für seine Person die aus Tatsachen begründete Furcht vor Verfolgung, insbesondere wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung hegen muß. Begründet ist die Furcht vor Verfolgung, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so daß ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (BVerwG, Urteil vom 29.11.1977 - 1 C 33.71 -, BVerwGE 55, 82 ff.). Dabei setzt das Asylgrundrecht von seinem Tatbestand her grundsätzlich den kausalen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus. Eine Erstreckung auf Nachfluchttatbestände kann nur insoweit in Frage kommen, als sie nach dem Sinn und Zweck der Asylverbürgung, wie sie dem Normierungswillen des Verfassungsgebers entspricht, gefordert ist. Im Hinblick darauf sind objektive Nachfluchttatbestände, d.h. eine Verfolgungssituation, die ohne eigenes (neues) Zutun des Betroffenen entstanden ist, asylrelevant. Bei subjektiven Nachfluchttatbeständen, die der Asylbewerber nach Verlassen des Heimatlandes aus eigenem Entschluß geschaffen hat (sog. selbstgeschaffene Nachfluchttatbestände), kann eine Asylberechtigung in aller Regel nur dann in Betracht gezogen werden, wenn sie sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthaltes im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstellt (BVerfG, Beschluß vom 26.11.1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51 ff.).

17

Nach diesen Grundsätzen kommt eine Anerkennung als Asylberechtigte nicht in Betracht. Das Gericht folgt insoweit der zutreffenden Begründung des angefochtenen Bescheides der Beklagten und sieht gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG von der weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Ergänzend ist anzuführen, daß die vorschriftswidrigen Befehle an den Kläger zu 1) zur Herstellung von Blockhäusern, Saunen und Möbeln keine politische Verfolgung darstellten. Insoweit fehlt es an der Zielgerichtetheit der Maßnahme. Voraussetzung ist, daß die staatliche Maßnahme den Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale (z.B. die Volkszugehörigkeit oder eine politische Überzeugung) treffen soll (BVerfG, B. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315). Der Kläger zu 1) wurde jedoch nicht wegen eines Asylmerkmals zu den Tischlerarbeiten herangezogen, sondern weil er hierzu aufgrund seiner Fähigkeiten imstande war. Jedem anderen handwerklich geschickten Soldaten wäre es in dieser Situation genauso ergangen. Außerdem hat der Kläger zu 1) dadurch keine asylerhebliche Rechtsverletzung erlitten, sondern ist lediglich in hier unerheblicher Weise in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit eingeschränkt worden. Die Drohung, ihn nach Rußland zurückversetzen zu lassen, stellt ebenfalls keine politische Verfolgung dar. Dieses wäre allenfalls der Fall, wenn beachtlich wahrscheinlich wäre, daß dem Kläger anstatt einer allgemeinen Versetzung in eine andere Einheit ein lebensgefährdender Einsatz in einem Krisengebiet, eine Haft unter unmenschlichen Bedingungen oder ähnliche, seine Rechtsgüter beeinträchtigenden Maßnahmen erwartet hätten. Dieses kann jedoch nicht mit der für das Asylverfahren erforderlichen Gewißheit angenommen werden, überdies fehlt auch insofern die Anknüpfung an ein Asylmerkmal.

18

Die Beklagte hat in dem angefochtenen Bescheid zu Recht darauf hingewiesen, daß die dem Kläger zu 1) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Bestrafung wegen Desertion nach Art. 247 des russischen Strafgesetzbuches (StGB) nicht zu einer Anerkennung als Asylberechtigter führen kann. Nach Art. 247 StGB wird Fahnenflucht (Desertion) mit Freiheitsstrafe von drei bis sieben Jahren bestraft. Für Offiziere oder "längerdienende Militärpersonen" ist eine Freiheitsstrafe von fünf bis sieben Jahren vorgesehen. In Kriegszeiten ist die Verhängung der Todesstrafe möglich (Auskunft Auswärtiges Amt an BayVG Ansbach v. 02.09.1996). Der Kläger zu 1) hätte als längerdienende Militärperson mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren zu rechnen. Unter Umständen wäre die Strafe in einem Strafbataillon zu verbüßen, weil die Desertion des Klägers zu 1) in den Zuständigkeitsbereich der Militärjustiz fällt (IGFM, Auslieferung innerhalb der GUS, Januar 1997, S. 20, Auskunft Auswärtiges Amt an BayVG Ansbach v. 19.04.1996). Sollte der Kläger zu 1) nach dem am 01.01.1997 in Kraft getretenen StGB bestraft werden (was indessen zur Tatzeit nicht galt), hätte er ebenfalls mit Freiheitsentzug bis zu sieben Jahren zu rechnen (§ 338 Abs. 1 StGB, vgl. IGFM, Auslieferung innerhalb der GUS, Januar 1997, S. 21). Eine Ahndung von Wehrdienstentziehung und Desertion dient in der Regel der Verfolgung kriminellen Unrechts im Rahmen der staatlichen Wehrhoheit. Eine Bestrafung wegen Desertion kann jedoch dann in politische Verfolgung umschlagen, wenn mit der Strafe zielgerichtete Repressionen gegenüber einzelnen verbunden sind, die mit der Absicht erfolgen, diese Person gerade wegen eines asylrechtlich relevanten Merkmals zu treffen und sie mit einem "Politmalus" zu belegen (BVerwG, InfAuslR 1985, 22, 24, 1989, 169). Anhaltspunkte hierfür sind im Fall des Klägers zu 1) nicht zu erkennen. Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, daß die Kenntnis der Zusammenarbeit von ehemaligen Vorgesetzten mit der Mafia zu einer Strafschärfung in einem Militärgerichtsverfahren führt. Dieses kann ebensowenig allein aufgrund von Kontakten des Oberst Belikow zu den Militärbehörden der Heimatstadt des Klägers zu 1) angenommen werden.

19

Daß die Kläger in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, hat bei einer Rückkehr in die Russische Föderation keine Bestrafung zur Folge und würde sich auch nicht strafschärfend in einem eventuellen Strafverfahren wegen Militärstrafrechtes auswirken (Lagebericht Auswärtiges Amt v. 05.08.1996). Etwas anderes gilt nur für Militärangehörige, die in höheren Positionen oder sensiblen Truppenteilen eingesetzt waren und sich verpflichtet hatten, die UdSSR oder die Russische Föderation für längere Zeit nicht zu verlassen (Lagebericht Auswärtiges Amt vom 05.08.1996). Der Kläger zu 1) hatte weder einen höheren Rang noch war er in einem sensiblen Truppenteil eingesetzt.

20

Wegen der insoweit identischen Voraussetzungen mit der Asylanerkennung nach Art. 16 a Abs. 1 GG kommt vorliegend auch die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht in Betracht.

21

Für den Kläger zu 1) besteht aber ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich der Russischen Föderation.

22

Nach § 53 Abs. 4 AuslG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schütze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04. November 1950 (BGBl. 1952 II. S. 686, "EMRK") ergibt, daß die Abschiebung unzulässig ist. Unzulässig ist die Abschiebung danach, wenn dem Ausländer im Zielstaat Folter oder eine andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe erwarten (Art. 3 EMRK). Art. 3 EMRK schützt ebensowenig wie das Asylrecht vor den allgemeinen Folgen von Naturkatastrophen, Bürgerkriegen oder anderen bewaffneten Konflikten. Auch rechtsstaatswidrige Verhältnisse oder ganz allgemein die politische oder wirtschaftliche Lage in einem bestimmten Land genügen nicht. Denn der Begriff der Behandlung setzt ein geplantes, vorsätzliches und auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln voraus (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - BVerwG 9 C 15.95 -). Die bloße Möglichkeit einer konventionswidrigen Behandlung genügt für die Annahme eines Abschiebungshindernisses nicht. Es muß vielmehr eine konkrete Gefahr einer solchen Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen (VG Braunschweig, Urt. v. 20.07.1995 - 3 A 3587/94 -). Die Inhaftierung eines Menschen kann, auch wenn sie aufgrund einer Verurteilung wegen eines in vielen Ländern bestehenden Straftatbestandes wie Desertion erfolgt, eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen. Zum einen können die gesamten äußeren Umstände des Vollzuges wie Ernährung, Dichte der Zellenbelegung, medizinische Versorgung, sanitäre und hygienische Situation sowie Ausgestaltung der Kontaktmöglichkeiten eine Haftsituation menschenunwürdig machen. Zum anderen können die als besondere Verschärfung der Strafe gezielt verfügten Verschlechterungen dieser Umstände, wie Entzug von Licht, Luft, räumliche Bewegungsfreiheit oder sozialer Kontakte, die Unmenschlichkeit der Haft ausmachen. Daneben können die im Rahmen des Vollzuges eingesetzten Disziplinierungsmittel selbst eine grausame Behandlung darstellen (vgl. Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, Bd. 1, Stand: Mai 1996, § 53, Rn. 196).

23

Dem Kläger zu 1) droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung bei einer Inhaftierung in Rußland. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 05.08.1996 ist die Situation im Strafvollzug weiterhin alarmierend. Die russischen Gefängnisse entsprächen in der Regel nicht europäischen Mindeststandards. Die Strafanstalten seien überbelegt, die Ernährung sei schlecht und die medizinische Versorgung unzureichend. Dies gelte insbesondere für die Untersuchungshaft und werde auch von offiziellen russischen Stellen bestätigt. Auch nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das BayVG Ansbach vom 02.09.1996 müsse im Einzelfall mit menschenrechtswidrigen Umständen im Strafvollzug gerechnet werden, insbesondere im Hinblick auf Unterbringung, Verpflegung und medizinische Versorgung. Das Auswärtige Amt hat in der Auskunft an das VG Schleswig-Holstein vom 07.05.1996 ausgeführt, die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung während der Haftzeit bzw. während des Dienstes in einem Strafbataillon sei nicht auszuschließen. Über die Zustände in militärischen Strafbataillonen gebe es aber kaum gesicherte Erkenntnisse. Zumeist handele es sich um Einheiten, die zu schweren Arbeiten herangezogen würden. Amnesty international äußerte in der Auskunft vom 14.10.1996 an das VG Schleswig-Holstein, die Haftbedingungen, die den dortigen Kläger erwarteten, seien deutlich schlechter und unwürdiger als die im deutschen Strafvollzug. Die Haftbedingungen in Rußland seien seit langem Ziel weit verbreiteter Kritik. In seinem Menschenrechtsbericht vom Juli 1994 habe Sergej Kowaljow, der damalige Vorsitzende der Menschenrechtskommission des Präsidenten, das russische Strafsystem verurteilt, weil es regelmäßige und schwerwiegende Menschenrechtsverstöße zulasse. Das Schlagen von Gefangenen sei z.B. weit verbreitet. Dem Bericht zufolge bedeute das Fehlen einer effektiven Überwachung des Strafsystems, daß zahlreiche Verstöße nicht untersucht und die Verantwortlichen nicht vor Gericht gestellt würden. Der UN-Sonderberichterstatter über Folter, der von zwei Untersuchungs- und Isolationsgefängnissen spreche, die er im Juli 1994 besucht habe, habe gesagt, der Anblick sei wie ein Angriff auf die Sinnesorgane. Die Bedingungen seien grausam, inhuman und erniedrigend. Sie seien Folter (vgl. auch amnesty international, Auskunft an VG Hannover - Kammern Hildesheim - v. 10.07.1996). Über menschenrechtswidrige Bedingungen in den russischen Gefängnissen, inbesondere in der Untersuchungshaft, berichtet auch die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (vgl. Bericht "Auslieferung innerhalb der GUS", Januar 1997, S. 8 ff.). Nach Angaben der Menschenrechtskommission des Präsidialamtes der Russischen Föderation stirbt jeder 50. Häftling während der Untersuchungshaft. Der heutige Vorsitzende der Kommission, Valerie Borschtschow, kritisierte nach einem Bericht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 28.12.1996 die furchtbaren und unhygienischen Zustände in russischen Gefängnissen. Viele Untersuchungshäftlinge stürben noch vor Beginn des Prozesses an verschiedenen Krankheiten. In der Untersuchungshaft gebe es in "furchtbar überfüllten Zellen" häufig weder ausreichende Belüftung noch heißes Wasser. Auf einen Zellenplatz kämen drei bis vier Häftlinge. Es sei nicht ungewöhnlich, daß in einem Raum für 30 Gefangene bis zu 100 Gefangene leben müßten. In einigen Untersuchungsgefängnissen fehle jegliche medizinische Betreuung (vgl. auch dpa-Meldung vom 18.12.1996 zu einem neuen Strafvollzugsrecht).

24

Es ist auch von einem geplanten, vorsätzlichen Handeln des russischen Staates gegenüber den Gefangenen auszugehen, weil sich die beschriebenen Zustände in ihren extremen Erscheinungsformen nicht als Folge der schlechten Finanzlage der Russischen Föderation darstellen. Insoweit könnte der russische Staat ohne weiteres Abhilfe schaffen. Um eine allgemeine Gefahr i.S.d. § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG, die in den Anwendungsbereich des § 54 AuslG fällt, handelt es sich auch wegen des kleinen Kreises der Betroffenen nicht.

25

Eine konkrete Gefahr droht dem Kläger in der Untersuchungshaft auch dann, wenn es nicht zu einer Verurteilung kommt. Nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck, der schriftsätzlich von seinem Prozeßbevollmächtigten bestätigt worden ist, besteht eine besondere Gefährdung des Klägers zu 1) wegen seiner sensiblen und in sich gekehrten Persönlichkeit. Die Desertion von Soldaten der Westgruppe wird von der Militärstaatsanwaltschaft des Moskauer Militärbezirks nach wie vor verfolgt. Ein Interesse an Ermittlungen gegenüber dem Kläger zu 1) besteht zum einen wegen seiner Verpflichtung als Berufssoldat und zum anderen wegen der glaubhaft geschilderten Kenntnis des illegalen Verkaufes verschiedener Gegenstände aus den Beständen der Sowjetarmee sowie der Verbindungen zwischen einer Mafia-Organisation und Vorgesetzten.

26

Dem Kläger steht kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 6 EMRK (Grundsatz des "fair trial") zu. Es ist zwar möglich, nach der Auskunftslage jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich, daß die Grundsätze eines fairen Verfahrens in einem Strafverfahren der Militärgerichtsbarkeit gegenüber dem Kläger nicht eingehalten würden. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das BayVG Ansbach vom 15.01.1996 garantiert die russische Verfassung i.V.m. der russischen Strafprozeßordnung mittlerweile grundlegende Verfahrensrechte wie Unschuldsvermutung, Recht auf rechtliches Gehör und anwaltliche Vertretung. In der Praxis würden diese Garantien zumeist auch beachtet, obgleich in Einzelfällen immer noch rechtsstaatliche Defizite zu verzeichnen seien. Nach der Auskunft an das BayVG Ansbach vom 19.04.1996 kann das Auswärtige Amt nicht einschätzen, ob vor Militärgerichten mit fairen rechtsstaatlichen Verfahren zu rechnen ist. Es bestünde ein Anspruch auf anwaltliche Vertretung. Angeklagte könnten sich auch auf verfassungsrechtliche und strafprozessuale Grundrechte wie die Unschuldsvermutung und das Recht auf rechtliches Gehör berufen. Ein Abschiebungshindernis aus Art. 6 EMRK kommt nur in Betracht, wenn eine Verurteilung unter krasser Mitachtung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze droht (GK, AuslR, a.a.O., § 53, Rn. 220). Diese hohen Anforderungen sind vorliegend nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erfüllt. Inwiefern rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze krass mißachtet werden, stellt nämlich auch amnesty international in der Auskunft an das VG Schleswig-Holstein vom 14.10.1996 nicht im einzelnen dar, sondern weist lediglich darauf hin, daß grundsätzliche Bedenken gegen die Militärgerichte bestünden, da hier die Staatsanwälte und die Richter der militärischen Hierarchie angehörten.

27

Den Klägern zu 2) bis 4) drohen die oben genannten Gefahren nicht. Sie können sich aber auf ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 8 EMRK berufen. § 53 Abs. 4 AuslG erfaßt auch nicht ziellandbezogene Abschiebungshindernisse (vgl. im einzelnen VGH Ba-Wü, Urt. v. 15.05.1996, A 13 S 1431/94, InfAuslR 1996, S. 264 [VGH Baden-Württemberg 15.05.1996 - A 13 S 1431/94]). Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Schutzbereich des Familienlebens umfaßt die Beziehung zwischen Ehegatten sowie die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Durch eine Abschiebung der Kläger zu 2) bis 4) bei einem Verbleiben des Klägers zu 1) in der Bundesrepublik Deutschland würde ein Familienleben mit dem Ehemann und Vater unmöglich gemacht. Diese Verletzung des Schutzbereiches des Art. 8 Abs. 1 EMRK wäre durch die in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen nicht gerechtfertigt (vgl. VG Göttingen, Urt. v. 16.10.1996, Az. 2 A 2014/95). Allerdings bleibt der Familienverband bei einer Abschiebung der gesamten Familie in einen anderen Staat als die Russische Föderation erhalten, so daß sich das Abschiebungshindernis aus § 54 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 8 EMRK für die Kläger zu 2) bis 4) wie für den Kläger zu 1) nur auf die Russische Föderation erstreckt.

28

Der Bescheid vom 01.07.1996 ist insoweit rechtswidrig, als den Klägern eine Abschiebung in die Russische Föderation angedroht worden ist. Im übrigen ist die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 38 AsylVfG rechtmäßig.

29

Die Nebenentscheidungen folgen aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83 b Abs. 1 AsylVfG, § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Rechtsmittelbelehrung

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Gegen dieses Urteil ist die Berufung nur statthaft, wenn sie von dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

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...

Dr. Struß