Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 08.10.2008, Az.: 1 Ws 434/08
Voraussetzungen der Anordnung der Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge nach § 67 Abs. 2 S. 4 Strafgesetzbuch (StGB); Anwendbarkeit des § 67 Abs. 2 S. 4 StGB bei maßgeblicher Verurteilung vor Inkrafttreten dieser Vorschrift
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 08.10.2008
- Aktenzeichen
- 1 Ws 434/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 25248
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2008:1008.1WS434.08.0A
Rechtsgrundlage
- § 67 Abs. 2 S. 4 StGB
Fundstellen
- NStZ-RR 2009, V Heft 1 (amtl. Leitsatz)
- NStZ-RR 2009, 63 (Volltext mit amtl. LS)
- RPsych (R&P) 2009, 114
- StRR 2009, 3 (amtl. Leitsatz)
- StRR 2009, 273-274 (Volltext mit red. LS u. Anm.)
Amtlicher Leitsatz
§ 67 Abs. 2 Satz 4 StGB gilt auch in Verfahren, in denen die maßgebliche Verurteilung vor Inkrafttreten der Vorschrift erfolgt ist.
Das Anordnen der Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge nach § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB setzt nicht voraus, dass die aufenthaltsbeendende Maßnahme rechtskräftig ist; das Gesetz stellt vielmehr ausdrücklich auf die Vollziehbarkeit der Entscheidung ab.
In der Strafvollstreckungssache
gegen N. Y., geboren am 17. Mai 1975 in N., zurzeit in der Justizvollzugsanstalt H.,
wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge pp.,
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten
gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer 6 des Landgerichts H. vom 4. August 2008
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ####### - zu 1. allein -,
den Richter am Oberlandesgericht ####### und
den Richter am Oberlandesgericht #######
am 8. Oktober 2008
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Rechtsanwältin R.-P. aus H. wird dem Verurteilten als notwendige Verteidigerin für das Beschwerdeverfahren beigeordnet.
- 2.
Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Verurteilten verworfen.
Gründe
1.
Mit Urteil des Landgerichts H. vom 16. November 2005 wurde gegen den Verurteilten wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 6 Fällen, wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 18 Fällen und wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit erlaubniswidrigem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe eine Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten verhängt. Überdies wurde die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB angeordnet, wobei das Landgericht einen Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe von zwei Jahren Dauer angeordnet hat. Seit dem 1. März 2007 befand der Verurteilte sich im Maßregelvollzug, wo er jedoch wegen eines gegen ihn erlassenen Haftbefehls vom 6. Dezember 2007 - ebenfalls gestützt auf den Vorwurf des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln - und der hiermit einhergehenden Einschränkungen, die das Durchführen einer Therapie unmöglich machten, aus der Therapiestation herausgenommen wurde, ehe ab dem 31. Januar 2008 seitens der Staatsanwaltschaft H. der Vorwegvollzug der Untersuchungshaft angeordnet wurde.
Unter dem 16. Juni 2008 hat die Landeshauptstadt H. wegen einer Vielzahl in Deutschland begangener und teils erheblicher Straftaten die Ausweisung des Verurteilten aus der Bundesrepublik verfügt und die sofortige Vollziehbarkeit dieser Maßnahme nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 4. August 2008 nach Maßgabe von § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB angeordnet, dass die gegen den Verurteilten verhängte Strafe vollständig vor der Maßregel zu vollziehen ist, weil der Verurteilte aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisung angeordnet wurde. Es sei hiernach zu erwarten, dass der Aufenthalt des Verurteilten im Bundesgebiet während der Verbüßung der Strafe oder unmittelbar nach der Verbüßung beendet werde.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Verurteilte mit seinem Rechtsmittel und trägt vor, in dem - indessen nicht rechtskräftigen - Verfahren vor dem Landgericht L. sei der Vollzug der Maßregel nach § 64 StGB vor der Strafe angeordnet worden. Überdies habe er Klage gegen die Ausweisungsverfügung erhoben und diese mit einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO verbunden mit dem Ziel, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen. Schließlich sei seiner Auffassung zufolge die Regelung des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB für das "alte Verfahren aus 2005" nicht anwendbar.
Der Senat hat eine Auskunft des Verwaltungsgerichts H. zum Stand des dort angestrengten Verfahrens, insbesondere im Hinblick auf den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO eingeholt. Von dort ist nunmehr mitgeteilt worden, dass der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit Beschluss der Kammer vom 24. September 2008 (Az.: 1 B 3295/08) abgelehnt wurde.
2.
Die Beiordnung beruht auf § 140 Abs. 2 StPO in entsprechender Anwendung. Der Verurteilte ist offenbar nicht in der Lage, sich in der rechtlich nicht einfach gelagerten Sache selbst sachgerecht zu verteidigen.
3.
Das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde ist zulässig (§§ 463 Abs. 6 Satz 1, 462 Abs. 3 Satz 1, 311 Abs. 2 StPO), hat in der Sache aber keinen Erfolg. Das Landgericht hat mit knappen, aber aus letztlich zutreffenden Erwägungen den Vollzug der Strafe vor der Maßregel angeordnet. Die Voraussetzungen des § 67 Abs. 4 Satz 2 StGB liegen vor. Das Beschwerdevorbringen greift demgegenüber nicht durch.
a)
Der Anwendung der Vorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB steht zunächst nicht entgegen, dass sie erst am 20. Juli 2007 und somit nach der vorliegend maßgeblichen Verurteilung in Kraft getreten ist. Denn nach Maßgabe von § 2 Abs. 6 StGB ist über Maßregeln der Besserung und Sicherung, wenn nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, dass zur Zeit der Entscheidung gilt (vgl. hierzu auch Fischer, Strafgesetzbuch, 55. Aufl., § 2 Rn. 15).
b)
Unerheblich ist letztlich auch, dass der Verurteilte Klage gegen die Ausweisungsverfügung eingelegt hat. Auch ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ändert hieran zunächst nichts. Denn ob eine Verpflichtung zur Ausreise vollziehbar festgestellt ist, bestimmt sich nach den Regeln des Aufenthaltsrechts (Fischer a. a. O.). Maßgeblich ist demnach allein das Vorliegen einer vollziehbaren Ausweisung. Soweit der mit BT-Drucks. 16/1110 vorgelegte Entwurf noch vorgesehen hatte, dass eine Bestimmung der Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge auch bzw. schon getroffen werden kann, wenn bislang nur "zu erwarten ist, dass die Voraussetzungen des Satzes 4 eintreten werden", ist dies nicht Gesetz geworden. Die geltende Regelung stellt hiernach vielmehr darauf ab, dass die Ausweisung der verurteilten Person tatsächlich vollziehbar ist.
Die Ausweisungsverfügung der Landeshauptstadt H. vom 16. Juni 2008 ist für sofort vollziehbar erklärt worden, so dass eine vollziehbare Ausweisung grundsätzlich vorliegt. An einer vollziehbaren Ausreisepflicht im Sinne von § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB würde es erst fehlen, wenn nach Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO - oder auch eine Klage - Erfolg hat. Denn erst hierdurch wird die Vollziehbarkeit wieder aufgehoben. Vorliegend ist mit Beschluss der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts vom 24. September 2008 der vom Verurteilten gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt worden. Die Ausweisung ist hiernach immer noch vollziehbar. Demnach besteht auch keine Veranlassung, die angefochtene Entscheidung des Landgerichts H. aufzuheben. Dass die gegen die Ausweisungsverfügung gerichtete Klage Erfolg haben wird, erscheint hiernach wenig wahrscheinlich. Jedenfalls liegt derzeit eine vollziehbare Ausweisung vor.
Indessen weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Wird eine angeordnete Vollziehbarkeit wieder aufgehoben, etwa auf einen erfolgreichen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, könnte dies dem Anordnen oder Aufrechterhalten einer Maßnahme nach § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB entgegenstehen, eben weil es dann an einer "vollziehbaren" Pflicht zur Ausreise fehlt. In einem solchen Fall erscheint fraglich, ob die gerichtliche Anordnung der Umkehr der Vollstreckungsfolge darauf gestützt werden kann, dass nach § 67 Abs. 3 Satz 3 StGB die einmal getroffene Anordnung wieder aufzuheben ist, wenn eine Beendigung des Aufenthalts der verurteilten Person im räumlichen Geltungsbereich nicht mehr zu erwarten ist. Denn § 67 Abs. 3 Satz 3 StGB stellt nicht auf einen noch offenen Ausgang des die Ausweisungsverfügung betreffenden Verwaltungsrechtsstreits ab, sondern soll mögliche spätere Entwicklungen nach erfolgter Ausweisungsanordnung erfassen, wie etwa Heirat mit einem Deutschen, Einbürgerung, Asyl, Abschiebeverbot und dergl. (Fischer a. a. O.). Hiernach könnte es sachgerecht erscheinen, eine Entscheidung nach § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB erst zu treffen, wenn abschließend eine rechtskräftig vollziehbare Ausweisungsverfügung vorliegt.
Dem vorherigen Gewähren rechtlichen Gehörs im Hinblick auf die Mitteilung des Verwaltungsgerichts bedurfte es nicht, denn dem Verurteilten ist der Ausgang seines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO bekannt.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
5.
Ein Rechtsmittel gegen die vorliegende Entscheidung ist nicht eröffnet, § 304 Abs. 4 StPO.