Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 20.04.2023, Az.: 14 U 212/22

Umfang der Aufsichtspflicht gegenüber einem 2 1/2-jährigen Kind; Haftung wegen fehlender Beaufsichtigung des in einem Pkw nicht angeschnallten Kindes

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
20.04.2023
Aktenzeichen
14 U 212/22
Entscheidungsform
Grundurteil
Referenz
WKRS 2023, 34905
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Osnabrück - 19.10.2022 - AZ: 10 O 1730/21

Fundstellen

  • FK 2023, 164
  • NZV 2024, 93

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Die Eltern verletzen die Aufsichtspflicht gegenüber ihren 2 1/2-jährigen Kind, wenn sie dieses nicht angeschnallt unbeaufsichtigt in einen Pkw zurücklassen, wo der Fahrzeugschlüssel im Griffweite liegt.

  2. 2.

    Kommt es zu einer Verletzung Dritter, weil es dem Kind gelingt, den Schlüssel zu ergreifen und das Fahrzeug damit zu starten, so können die haftenden Eltern sich nicht darauf berufen, dass die zum Schadensereignis führende Kausalkette derart außergewöhnlich ist, dass sie nicht damit hätten rechnen müssen.

In dem Rechtsstreit
AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen, Regionalbereich Ersatzansprüche Lingen, vertreten durch den Vorstand AA, Bernd-Rosemeyer-Straße 14 - 15, 49808 Lingen (Ems),
Klägerin und Berufungsklägerin,
Prozessbevollmächtigte:
(...),
Geschäftszeichen: (...)
gegen
CC, Ort1,
Beklagte und Berufungsbeklagte,
Prozessbevollmächtigte:
(...),
Geschäftszeichen: (...)
Beteiligte:
CC AG, vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den Vorsitzenden DD, Ort2,
Nebenintervenientin,
Prozessbevollmächtigte:
(...),
Geschäftszeichen: (...)
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht (...), die Richterin am Oberlandesgericht (...) und den Richter am Amtsgericht (...) auf die mündliche Verhandlung vom 16. März 2023 für Recht erkannt:

Tenor:

  1. I.

    Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Osnabrück - 10 O 1730/21 - vom 19. Oktober 2022 geändert.

    1. 1.

      Die Klageanträge zu 1., 3. und 4. sind dem Grunde nach gerechtfertigt.

    2. 2.

      Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren erforderlichen Aufwendungen und Schäden zu ersetzen, die aus Anlass der am TT.MM.2018 gegen 17.30 Uhr auf dem Anwesen Straße1 in Ort3 erlittenen Unfalls ihrer Versicherten EE, geboren TT.MM.1961, entstanden sind bzw. noch entstehen.

  2. II.

    Wegen der Höhe der Klageforderung wird der Rechtsstreit auf Antrag der Klägerin zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich des Berufungsverfahrens übertragen wird.

Gründe

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen einer Aufsichtspflichtverletzung aus übergegangenem Recht der bei ihr gesetzlich krankenversicherten EE in Anspruch. EE ist die Mutter der Beklagten.

Am TT. MM 2018 waren EE, die Beklagte, deren zweieinhalbjähriger Sohn FF und weitere Personen zu Besuch bei dem Familienmitglied GG an der Straße1 in Ort3. Gegen 17:30 Uhr wollte die Beklagte aufbrechen. EE und GG saßen zu diesem Zeitpunkt auf einer Bank vor dem Haus. Vor der Bank, in ca. 1,5m Entfernung, stand der bei der Nebenintervenientin haftpflichtversicherte Pkw1 des Ehemanns der Beklagten. Der Kindersitz von FF befand sich auf dem Beifahrersitz. Die Beklagte setzte ihren Sohn in den Sitz, schnallte ihn aber zunächst nicht an. Dann ging sie noch mal in das Haus, da sie etwas vergessen hatte, und ließ FF unangeschnallt im Kindersitz zurück. Der Fahrzeugschlüssel verblieb im Auto auf dem Armaturenbrett. FF gelang es während der Abwesenheit der Beklagten, mit dem Schlüssel den Motor des Pkw1 zu starten, woraufhin der Pkw einen Satz nach vorne machte und EE an den Knien traf. Diese erlitt durch den Unfall eine beidseitige Kniegelenksluxation. GG wurde ebenfalls verletzt. Auch hinsichtlich der von ihr erlittenen Schäden war ein Rechtsstreit zwischen den Parteien anhängig (AG Osnabrück 14 C 1427/21 = LG Osnabrück 10 S 130/22).

Die Klägerin hat gemeint, die Beklagte habe ihre Aufsichtspflicht verletzt, und behauptet, der Zündschlüssel habe auf dem Armaturenbrett vor dem Beifahrerplatz gelegen. Zur Behandlung der unfallbedingten Verletzungen seien ihr Aufwendungen von insgesamt 77.711,71 € entstanden. Es seien weitere Aufwendungen zu erwarten, insbesondere für den Einsatz eines künstlichen Kniegelenks. Der Arbeitgeber der Versicherten habe eine Entgeltfortzahlung geleistet und seinen Anspruch gegen die Beklagte in Höhe von 1.383,20 € an sie, die Klägerin, abgetreten.

Die Beklagte und die Nebenintervenientin haben gemeint, eine Aufsichtspflichtverletzung sei nicht gegeben. Mit dem Verhalten von FF sei nicht zu rechnen gewesen. Der Zündschlüssel habe, so haben sie behauptet, zusammengeklappt mittig auf dem Armaturenbrett kurz vor der Windschutzscheibe gelegen. FF habe aus dem Kindersitz klettern müssen, um an den Schlüssel zu gelangen. Danach habe er den Schlüssel entriegeln, auf den Fahrersitz klettern, den Schlüssel in das Zündschloss stecken und diesen dann soweit in die richtige Richtung drehen müssen, dass der Anlasser starten konnte. FF sei gar nicht groß genug, um im Fußraum stehend den Schlüssel zu ergreifen. Er habe vor dem Unfalltag erst zweimal auf dem Beifahrersitz gesessen, zuvor ausschließlich auf der Rücksitzbank. Die Beklagte habe den Schlüssel nicht mitgenommen, da ihre Hose über keine Taschen verfügt habe. Sie habe das Auto lediglich für eine Zeitdauer von ein bis zwei Minuten verlassen. Die Fahrer- und Beifahrertür seien weit geöffnet gewesen, neben dem Fahrzeug hätten Familienangehörige der Beklagten gestanden. Eine direkte Sichtbeziehung dieser Angehörigen zu FF sei vorhanden gewesen. Die Beklagte und die Nebenintervenientin haben weiter die Schadenshöhe bestritten. Die Aufstellungen der Klägerin seien nicht verständlich und nachprüfbar. Die geltend gemachten Kosten seien nicht erforderlich gewesen. Zukunftsschäden seien nicht zu erwarten, insbesondere nicht das Einsetzen eines künstlichen Kniegelenks.

Das Landgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass ein Anspruch aus § 832 BGB i.V.m. §§ 116, 119 SGB X, § 6 EFZG, § 5 AAG gegen die Beklagte nicht bestehe, da sie ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt habe. Insbesondere sei das Verhalten von FF nicht vorhersehbar gewesen. Die zum schädigenden Ereignis führende Kausalkette sei derart ungewöhnlich, dass ein auf Vorsicht bedachter und umsichtiger Elternteil mit einem derartigen Geschehensablauf nicht zu rechnen brauche. Die Beklagte habe ausreichende Maßnahmen zur Bewahrung Dritter vor Schäden durch FF getroffen. So habe sie ihn in den Kindersitz gesetzt, die Türen geöffnet gelassen, den Autoschlüssel zusammengeklappt und verriegelt außer Reichweite des Kindes abgelegt und sich nur für eine kurze Zeit von weniger als zwei Minuten von dem Fahrzeug entfernt. Das Fahrzeug habe sich auf einem Privatgrundstück befunden, mehrere erwachsene Personen hätten sich um das Fahrzeug herum aufgehalten. Kleinkinder von 2,5 Jahren benötigten keine ununterbrochene Aufsicht. FF weise keine besondere "Autoaffinität" auf.

Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Die Klägerin ist weiterhin der Auffassung, die Beklagte habe ihre Aufsichtspflicht verletzt. Kinder im Alter von FF bedürften einer ständigen Aufsicht, allenfalls innerhalb einer Wohnung könne man dies anders sehen. Das Landgericht habe die Akten des Amtsgerichts Osnabrück in dem Parallelverfahren betreffend GG fehlerhaft zu Beweiszwecken verwertet und hierauf seine Überzeugung gestützt. Zudem habe es Widersprüche der Zeugenaussagen unberücksichtigt gelassen. Das Landgericht hätte zudem ein Sachverständigengutachten dazu einholen müssen, dass ein Verhalten wie das des Sohnes der Beklagten keineswegs unvorhersehbar war. Ein entsprechendes Beweisangebot habe das Landgericht übergangen.

Auf Hinweis des Senats mit der Ladung vom 31. Januar 2023 hat die Klägerin mit Schriftsätzen vom 02. Februar 2023 und vom 14. März 2023, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird, zur Schadenshöhe näher ausgeführt und einzelne Abrechnungen vorgelegt (vgl. Anlagenband Kl.-Vertreter).

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, an sie 77.711,71 € nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem jeweils gültigen Basiszinssatz auf 54.336,41 € seit dem 05.06.2020, auf weitere 21.662,88 € seit dem 25.05.2021 und auf weitere 17.012,42 € seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

  2. 2.

    festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr auch sämtliche weiteren erforderlichen Aufwendungen und Schäden zu ersetzen, die aus Anlass des am TT.MM.2018 gegen 17:30 Uhr auf dem Anwesen Straße1 in Ort3 erlittenen Unfalles ihrer Versicherten EE, geboren TT.MM.1961, entstanden sind bzw. noch entstehen;

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, an sie weitere 1.383,20 € nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem jeweils gültigen Basiszinssatz seit dem 20.05.2021 zu zahlen;

  4. 4.

    die Beklagte zu verurteilen, an sie weitere 2.293,25 € seit dem 26.06.2021 zu zahlen.

  5. 5.

    die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte und die Nebenintervenientin beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen das landgerichtliche Urteil und wiederholen ihr erstinstanzliches Vorbringen. Ein Verfahrensfehler hinsichtlich der Verwertbarkeit der Akte des Amtsgerichts Osnabrück liege nicht vor. Die Beklagte erhebt die Einrede der Verjährung.

Hinsichtlich der Behandlungskosten (Anlage K1) bestreitet die Beklagte die Erforderlichkeit des Einsatzes eines Rettungshubschraubers. Der Klägerin fehle zudem die Aktivlegitimation. Die Beklagte bestreitet weiter den Anfall und die Erforderlichkeit der Kosten für die Rahmenorthesen Kniegelenk und bezweifelt, dass die Geschädigte die abgerechneten Termine der Physiotherapie und der Lymphdrainage tatsächlich wahrgenommen hat. Die vorgelegten Krankenhausrechnungen seien nicht nachvollziehbar und nicht prüffähig, die Behandlungen im März 2020 (...) seien nicht Folge des Unfalls. Die Aufstellung bezüglich des Krankengeldes (Anlage K2) sei nicht nachvollziehbar. Es sei nicht klar, für welchen Zeitraum und in welcher Höhe Krankengeld ausgezahlt worden sei, die Auswirkungen der Gutschrift könnten nicht nachvollzogen werden. Betreffend die Anlage K3 seien die Behandlungen im HH nicht unfallkausal. Vorgelegte Abrechnungen seien nicht lesbar. Aus der Anlage K4 ergebe sich nicht, dass die Geschädigte die verschriebenen Heilmittel abgerufen habe. Auch hier sei unklar, ob sie die Termine bei der Lymphdrainage und der Physiotherapie wahrgenommen habe. Zudem seien, so meint die Beklagte, die Forderungen der Klägerin teilweise verjährt. Forderungen von Krankenhäusern gegenüber Krankenkassen, die nach dem 01. Januar 2019 entstanden sind, würden in zwei Jahren verjähren. Es sei daher aufzuklären, welche Zahlungen wann an wen erfolgt seien. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beklagten vom 02. Januar 2023, 22. Februar 2023, 06. März 2023 sowie 29. März 2023 und den der Nebenintervenientin vom 24. Februar 2023 verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Änderung des angefochtenen Urteils im tenorierten Umfang.

1. Ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte aus §§ 832, 398 BGB i.V.m. §§ 116, 119 SGB X, § 6 EFZG, § 5 AAG besteht dem Grunde nach.

Die Beklagte war Aufsichtspflichtige i. S. d. § 832 Abs. 1 BGB, weil sie kraft Gesetzes gemäß §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB zur Aufsicht über ihr Kind FF verpflichtet war. Auch ist der Versicherungsnehmerin der Klägerin, EE, durch das aufsichtspflichtige Kind der Beklagten widerrechtlich ein Schaden zugefügt worden. Gemäß § 832 Abs. 1 S. 1 BGB ist die Beklagte daher grundsätzlich zum Ersatz des durch FF verursachten Schadens verpflichtet. Die Voraussetzungen des Entlastungseinwands nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB liegen nicht vor, was zu Lasten der Beklagten geht, die für deren Vorliegen die Beweislast trägt (vgl. BeckOGK/Wellenhofer, 01. Oktober 2022, BGB § 832 Rn. 148).

Das Maß der gebotenen Aufsicht über Minderjährige bestimmt sich nach deren Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen nach ständiger Rechtsprechung danach bestimmt, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen tun müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern (vgl. BGH NJW 2021, 1090, 1091; BGH NJW 2009, 1952, 1953; OLG Oldenburg VersR 1976, 199, 199). Das Maß der gebotenen Aufsicht erhöht sich mit der Gefahrträchtigkeit der konkreten Situation (vgl. BGH NJW 2021, 1090, 1091). Kleinkinder bedürfen ständiger Aufsicht, damit sie sich nicht Gefahren in ihrer Umgebung aussetzen, die sie aufgrund ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit noch nicht erkennen und beherrschen können (vgl. BGH NJW 2021, 1090, 1091; OLG Brandenburg NJW-RR 2020, 972, 974 [OLG Brandenburg 19.02.2020 - 7 U 138/18]). Diese Gefahren sind für sie allgegenwärtig; sie können schon aus Gegebenheiten erwachsen, die für jeden anderen gänzlich ungefährlich sind (vgl. BGH NJW 2021, 1090, 1091; BGH NJW 1994, 3348 [BGH 20.09.1994 - VI ZR 162/93][BGH 20.09.1994 - VI ZR 162/93]; OLG Brandenburg NJW-RR 2020, 972, 974 [OLG Brandenburg 19.02.2020 - 7 U 138/18]). Erst ab einem Alter von vier Jahren gesteht die Rechtsprechung Kindern einen Freiraum zu, allerdings nur unter Beachtung regelmäßiger Kontrollen in kurzen Zeitabständen (vgl. BGH NJW 2021, 1090, 1091; BGH NJW 2009, 1952 [BGH 24.03.2009 - VI ZR 51/08] Rn. 14; BeckOGK/Kerscher, 01. September 2020, § 1631 BGB Rn. 49).

Danach stellt sich das Verhalten der Beklagten bereits nach ihrem eigenen Vortrag entgegen der Auffassung des Landgerichts als Aufsichtspflichtverletzung dar. Die Maßnahmen, die sie ergriffen hat, waren nicht ausreichend. Bei einem Pkw handelt es sich um einen Gegenstand mit hoher spezifischer Gefahr, nicht ohne Grund hat der Gesetzgeber mit §§ 7, 18 StVG eine Gefährdungshaftung kodifiziert. Die Beklagte hat FF mit dem Schlüssel im Fahrzeug gelassen und ihm dadurch die Möglichkeit gegeben, das Fahrzeug in Bewegung zu setzen. Damit hat sie für umstehende Personen eine erhebliche Gefahr geschaffen - die sich letztlich auch zum Nachteil der Geschädigten verwirklicht hat. Dabei kann dahinstehen, wo genau die Beklagte den Autoschlüssel auf dem Armaturenbrett abgelegt hat. Denn es stellt sich bereits als Aufsichtspflichtverletzung dar, einen Autoschlüssel gemeinsam mit einem nicht angeschnallten Kleinkind in einem Auto zu lassen und diese Situation - wenn auch nur kurzzeitig - zu verlassen. FF hätte - als Kleinkind - ständiger Beaufsichtigung bedurft (vgl. BGH NJW 2021, 1090, 1091; BGH NJW 2009, 1952, 1953 [BGH 24.03.2009 - VI ZR 51/08]; OLG Oldenburg NJW-RR 1995, 983, 984 [OLG Oldenburg 12.04.1994 - 5 U 161/93]; BeckOGK/Kerscher, 01. September 2020, § 1631 BGB Rn. 49). Dies bedeutet, dass sich die aufsichtspflichtige Person stets in unmittelbarer Nähe zu dem Kind zu befinden hat und es stets im Blick gehalten werden muss (vgl. OLG Koblenz NJOZ 2016, 573, 573). Dies mag in Ausnahmefällen anders gesehen werden, etwa in dem überschaubaren Bereich der Wohnung (vgl. hierzu: OLG Düsseldorf NJW-RR 2018, 1190, 1191; LG Heidelberg Urt. v. 12. November 2018 - 3 O 229/16, BeckRS 2016, 135360, Rn. 15; AG Bonn Urt. v. 01. März 2011 - 104 C 444/10, BeckRS 2011, 7422). Dies stellt aber eine andere Situation dar. Die eigene Wohnung ist den Kindern bekannt, hier sind sie im freien Spiel beschäftigt. Der Aufenthalt in einem Kfz - auch wenn beide Türen geöffnet sind und sich weitere Personen im Nahbereich aufhalten - ist hiermit nicht vergleichbar. Erforderlich ist aber selbst in den v.g. Ausnahmefällen, dass sich die Kinder zumindest in Hörweite befinden (so OLG Düsseldorf NJW-RR 2018, 1190, 1191; AG Bonn Urt. v. 01. März 2011 - 104 C 444/10, BeckRS 2011, 7422). Anhand der mit Schriftsatz vom 21. November 2021 vorgelegten und der als Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 05. April 2022 genommenen Lichtbilder kann ausgeschlossen werden, dass sich die Beklagte noch in Hörweite befand, als sie vom Grundstück ins Haus ging.

Die zum Schadensereignis führende Kausalkette ist auch nicht derart außergewöhnlich, dass ein auf Vorsicht bedachter Elternteil nicht damit hätte rechnen müssen. Es ist allgemein und auch den erkennenden Mitgliedern des Senats aus ihrer eigenen Erfahrung als Eltern bekannt, dass Schlüssel bzw. Schlüsselbunde auf Kleinkinder ein großes Anziehungspotential haben. Ebenso allgemein bekannt versuchen Kleinkinder regelmäßig, aufgefundene Schlüssel in Schlösser zu stecken, um Erwachsene nachzuahmen. Dahinstehen kann, ob der Autoschlüssel vorliegend gesichert war oder nicht. Um die Nutzung eines Autoschlüssels wie des streitgegenständlichen zu verhindern, genügt dessen Sicherung nicht. Der Schlüssel ist senatsbekannt so gestaltet, dass der Bart in das Schlüsselgehäuse eingeklappt und durch Druck auf einen Knopf am Schlüsselgehäuse wieder ausgeklappt wird. Zum Entriegeln bedarf es keines größeren Kraftaufwands, es genügt ein leichter Druck auf den Knopf. Bereits Kleinkinder verfügen über die notwendige Kraft und Fertigkeit, eine solche Sicherung zu überwinden. Ein Kind von 2,5 Jahren muss auch nicht über außergewöhnliche intellektuelle sowie motorische Fähigkeiten verfügen, um mit einem Fahrzeugschlüssel den Motor zu starten. Vielmehr ist - wie bei jedem Schloss - lediglich das Einstecken und Umdrehen des Zündschlüssels erforderlich. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob ein 2,5 jähriges Kind in der Lage ist, mit einem Fahrzeugschlüssel den Motor zu starten, bedarf es nicht, da der Senat dies aus eigener Sachkunde zu beurteilen vermag. Es lag nach alledem also durchaus im Rahmen des Vorhersehbaren, dass FF versuchen und es ihm gelingen würde, mit dem im Auto liegenden Fahrzeugschlüssel den Motor zu starten.

Soweit die Beklagte Umstände vorträgt, die ein Entstehen des Schadensereignisses als unmöglich erscheinen lassen, ist dieser Vortrag bereits durch das streitgegenständliche Geschehen widerlegt. Dies gilt insbesondere für die Behauptung, der Schlüssel habe sich dermaßen weit von FF weg befunden, dass er im Fußraum stehend nicht an diesen habe gelangen können.

Die Eigenart und der Charakter von FF führen nicht zu einer anderen Beurteilung. Soweit die Beklagte im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung am 10. Oktober 2022 angegeben hat, FF weise "Einschränkungen im feinmotorischen Bereich und in sprachlicher Hinsicht" auf, ist dieser Vortrag zu pauschal, um einen abweichenden Aufsichtsmaßstab anzulegen. Diese Angabe steht zudem im Widerspruch zu dem eigenen Vortrag der Beklagten in der Berufungserwiderung, wonach FF über einen altersgerechten, typischen und normalen Entwicklungsstand verfüge. Unerheblich ist, ob FF über eine "besondere" Autoaffinität verfügt oder nicht. Hieraus ergibt sich kein abweichender Aufsichtsmaßstab.

Der von FF ausgehenden Gefahr hätte man, um der Aufsichtspflicht zu genügen, auf mehrerlei Weise begegnen können bzw. müssen. Eine Möglichkeit hätte darin bestanden, das Kind im Sitz anzuschnallen, eine zweite, den Schlüssel nicht in Reichweite des Kindes liegen zu lassen. Weiter hätte die Beklagte die Möglichkeit gehabt, während ihrer Abwesenheit eine andere Person mit der Aufsicht des Kindes zu betrauen. Die Beklagte trägt selbst vor, keinen der Umstehenden ausdrücklich gebeten zu haben, auf FF aufzupassen. Mit dem Zurücklassen von FF in dem Fahrzeug hat sie auch nicht konkludent die Aufsichtspflicht auf die Personen übertragen, die um den Pkw herum standen (vgl. dazu BeckOGK/Wellenhofer, 01. Oktober 2022, BGB § 832 Rn. 30).

Dieses Ergebnis führt auch nicht im Hinblick auf die Haftungsfreistellung aus § 828 Abs. 1, Abs. 2 BGB zu einer Haftungsverschärfung der Eltern. § 828 BGB steht in keinem inneren Zusammenhang mit § 832 BGB. Denn die fehlende Deliktsfähigkeit des Kindes im Rahmen von § 828 BGB ist bereits keine Tatbestandsvoraussetzung des § 832 Abs. 1 BGB, mithin spielt sie an dieser Stelle keine Rolle (vgl. BGH NJW 1990, 2553, 2554; Staudinger/Bernau (2022) BGB § 832, Rn. 215). Beide Haftungen stehen - systematisch unabhängig - nebeneinander (vgl. MüKoStVR/ Gunnar Geiger, 1. Aufl. 2017, BGB § 832 Rn. 18; Grüneberg/Sprau, 82. Auflage 2023, § 832 BGB, Rn. 3).

2. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, ein Grundurteil zu erlassen und die Sache auf Antrag der Klägerin gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO für die notwendige weitere Aufklärung zur Höhe des Anspruchs an das Landgericht zurückzuverweisen. Dabei hat der Senat im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens berücksichtigt, dass den Parteien die Möglichkeit erhalten bleiben soll, das Ergebnis der landgerichtlichen Feststellungen zur Höhe in einer zweiten Tatsacheninstanz überprüfen zu lassen.