Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 15.08.2020, Az.: 2 A 565/17

Dänemark; europarechtskonforme Auslegung; Prinz; Qualifikationsrichtlinie; Zweitantrag

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
15.08.2020
Aktenzeichen
2 A 565/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 72066
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Das Bundesamt darf einen Asylantrag nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 71a Abs. 1 AsylG als unzulässig ablehnen, wenn der Asylantrag, den der Antragsteller zuvor in einem sicheren Drittstaat (hier Dänemark) gestellt hatte, nicht nach Maßgabe der Qualifikationsrichtlinie, sondern nach nationalem, europarechtlich nicht überformten Recht (hier: dänisches Ausländergesetz) geprüft worden ist.


Tatbestand:

Die Kläger sind russische Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Es handelt sich um ein Ehepaar mit zwei minderjährigen Kindern. Sie begehren asylrechtlichen Schutz und stellten zu diesem Zweck am 17. August 2016 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).

Im persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates gaben die Kläger an, sie seien 2013 aus Russland ausgereist und hätten zunächst zwei Jahr lang in Dänemark gelebt, wo sie auch Asyl beantragt hätten.

Mit Schreiben vom 4. Oktober 2016 nahmen die zuständigen dänische Behörden das an sie gerichtete Übernahmeersuchen des Bundesamts unter Verweis auf „Art. 18.1.b“ der Dublin-Verordnung an. Sie teilte mit, die Kläger hätten am 21. August 2013 Asyl beantragt. Ihr Antrag sei in zweiter Instanz am 7. November 2014 abgelehnt worden; am 13. Juli 2015 seien die Kläger als nach unbekannt verzogen registriert worden.

Am 18. September 2017 wurden die Kläger informatorisch persönlich angehört. Der Kläger zu 1) teilte u. a. mit, er sei von 2000 bis 2003 inhaftiert gewesen. Ihm sei illegaler Waffenbesitz vorgeworfen worden. Mitarbeiter des FSB seien noch 2013 oder 2014 bei seiner Mutter gewesen und hätten nach ihm gefragt; sie hätten alles über ihn gewusst, beispielsweise auch, dass er operiert worden sei. Dieser Vorfall habe sich ereignet, nachdem er von den dänischen Behörden informiert worden sei, dass er abgeschoben werden solle. Würde er nach Russland zurückkehren, würde er dort spurlos verschwinden. Der Kläger zu 1) legte verschiedene Dokumente vor, darunter ein Schreiben der dänischen Behörden vom 23. Juni 2015 sowie eine Vorladung in russischer Sprache für den 13. Oktober 2014.

Mit Bescheid vom 18. Oktober 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Kläger als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, forderte die Kläger unter Androhung der Abschiebung in die Russische Föderation zur Ausreise auf und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Am 27. Oktober 2017 haben die Kläger Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass erhebliche Zweifel daran bestünden, ob im Rahmen des in Dänemark durchgeführten Asylverfahrens auch die Gewährung subsidiären Schutzes geprüft worden sei. Zudem leide der Kläger an schweren Erkrankungen.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Oktober 2017 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid. In Dänemark sei auch subsidiärer Schutz geprüft worden, wie sich aus dem dänischen Bescheid vom 8. Juli 2014 ergebe. Danach hätten die dänischen Behörden Art. 7 Abs. 2 des dänischen Ausländergesetzes geprüft. Dieser sehe ebenfalls die Gewährung eines Schutzstatus bei drohender Todesstrafe, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung im Herkunftsland vor. Insofern komme es nicht darauf an, dass die Qualifikationsrichtlinie in den Jahren 2014 und 2015 in Dänemark nicht gegolten habe, weil durch die Anwendung des dänischen Ausländergesetztes eine entsprechende oder bessere Prüfung sichergestellt gewesen sei.

Mit Schriftsatz vom 13. September 2017 hat die Beklagte auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet. Das entsprechende Einverständnis der Kläger folgt aus ihrem Schriftsatz vom 10. August 2020.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die im Einverständnis der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden kann, ist hinsichtlich des Verpflichtungsantrags auf Gewährung internationalen Schutzes unzulässig (I.); soweit die Klage im Übrigen zulässig ist, ist sie unbegründet (II.).

I. In der vorliegenden prozessualen Konstellation, bei der die Kläger gegen die Entscheidung des Bundesamtes vorgehen, gemäß § 71a Abs. 1 AsylG kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, ist nach der im Entscheidungszeitpunkt gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Rechtslage im Hinblick auf das Asylverfahren allein die Anfechtungsklage statthaft. Der ebenfalls gestellte Verpflichtungsantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die Gewährung subsidiären Schutzes sind hingegen unzulässig. Insbesondere ist die Verpflichtungsklage hier nicht gegenüber der Anfechtungsklage im Hinblick darauf vorrangig, dass für das von den Klägern endgültig verfolgte Ziel der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Verpflichtungsklage die richtige Klageart ist.

Das Bundesamt hat den Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG abgelehnt und eine Entscheidung in der Sache nicht getroffen. Nach dem in verschiedenen Regelungen des AsylG zum Ausdruck kommenden Grundsatz, dass die Sachentscheidung vorrangig von der mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Fachbehörde durchzuführen ist, kommt ein auf die gerichtliche Zuerkennung internationalen Schutzes gerichteter Klageantrag nicht in Betracht. Auch ein eingeschränkter, auf die Durchführung eines (gegebenenfalls weiteren) Asylverfahrens gerichteter Verpflichtungsantrag scheidet angesichts des in der Regelung des § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aus. Nach dieser Vorschrift hat das Bundesamt bei einer stattgebenden gerichtlichen Eilentscheidung gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG das Asylverfahren fortzuführen. In dieser Regelung kommt der Rechtsgedanke zum Ausdruck, dass das Bundesamt nach Aufhebung einer Entscheidung über die Unzulässigkeit automatisch zur Fortführung des Asylverfahrens und zu einer Sachentscheidung verpflichtet sein soll; dieser Rechtsgedanke gilt ohne weiteres auch für die weiteren Unzulässigkeitstatbestände des § 29 Abs. 1 AsylG (vgl. hierzu ausführlich BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, Rn. 19).

Hinsichtlich nationaler Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ist in der Hauptsache allerdings weiterhin eine (ggf. hilfsweise zu erhebende) Verpflichtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, juris, Rn. 20).

II. Soweit die Klage zulässig ist, ist sie begründet. Der Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Als Ermächtigungsgrundlage für die Ablehnung als unzulässig kommt hier allein § 71a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG in Betracht. Auf diese Vorschriften kann das Bundesamt die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig indes nicht stützen.

Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falles eines Folgeantrags nach § 71 oder eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. In der vorliegenden Konstellation, in der die Ablehnung eines Asylantrags durch einen anderen Staat in Rede steht, geht es um einen Zweitantrag. Nach § 71a AsylG liegt ein Zweitantrag vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt.

Die europarechtliche Ermächtigung, einen Zweitantrag als unzulässig abzulehnen, folgt aus Art. 33 Abs. 2 lit. d der Richtlinie 2013/32/EU (Qualifikationsrichtlinie). Danach können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz u. a. nur dann als unzulässig betrachten, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Ratio hinter dieser Vorschrift ist ausweislich der Erwägungsgründe der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten aus Gründen der Verhältnismäßigkeit einen neuen Asylantrag nicht vollständig neu prüfen müssen sollen, wenn der Antragsteller erneut einen Antrag stellt, ohne neue Beweise oder Argumente vorzubringen. Vielmehr sollen die Mitgliedstaaten in diesen Fällen einen Antrag gemäß dem Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) als unzulässig abweisen können (Erwägungsgrund 36 der Qualifikationsrichtlinie). Diese Ratio setzt voraus, dass es sich bei dem in einem anderen Mitgliedstaat abschließend geprüften Asylantrag und dem Zweitantrag um Anträge mit demselben Inhalt handelt. Denn nur dann ist es entsprechend dieser Ratio gerechtfertigt, von einer Sachprüfung abzusehen, weil die Sache bereits rechtskräftig geprüft worden ist. Deshalb scheidet es nach der Rechtsprechung aus, einen Asylantrag vollständig als unzulässig abzulehnen, wenn nicht belegt ist, dass im Rahmen des asylrechtlichen Erstverfahrens auch der Anspruch des Antragstellers auf subsidiären Schutzes geprüft wurde (vgl. VG Trier, Urt. v. 10.2.2016 - 5 K 3875/15.TR - juris Ls. 2 und Rn. 54 ff.; VG Hamburg, Beschl. v. 14.7.2016 - 1 AE 2790/16 -, juris Ls. 2 und Rn. 10 u. 16 ff.; VG München, Beschl. v. 3.4.2017 - M 21 S 16.36125 -, juris, Rn. 18; VG Lüneburg, Gerichtsbescheid v. 19.01.2018 - 3 A 365/17 -, juris, Rn. 14). An der erforderlichen Identität der Asylanträge, die eine Ablehnung des neuen Asylantrags als unzulässig rechtfertigt, fehlt es darüber hinaus aber auch, wenn in dem Asylverfahren in dem sicheren Drittstaat nicht derselbe Anspruch auf internationalen Schutz – d. h. im Sinne der Qualifikationsrichtlinie – geprüft wurde. Dies kommt in den Tatbestandsmerkmalen des § 71a AsylG zwar nur unzureichend zum Ausdruck, indem dort allein darauf abgestellt wird, dass in dem sicheren Drittstaat Vorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren zu gelten haben; dies folgt aber jedenfalls aus einer europarechtskonformen Auslegung. Denn die Ermächtigungsnorm Art. 33 Abs. 2 lit. d der Qualifikationsrichtlinie stellt allein darauf ab, ob der Antragsteller neue Umstände oder Erkenntnisse vorgebracht hat, auf Grund derer er „nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU“ als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist. Daraus ergibt sich, dass für die Beurteilung des Anspruchs auf internationalen Schutz allein die Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie maßgeblich sind. Ist indes der erste Antrag in einem sicheren Drittstaat nach Maßgabe anderer Regelungen beurteilt worden, kommt auch die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig auf Grundlage von Art. 33 Abs. 2 lit. d. der Qualifikationsrichtlinie nicht in Betracht.

So liegt der Fall hier. Denn schon ausweislich des Vorbringens des Bundesamts in seinem Schriftsatz vom 29. November 2019 galt die Qualifikationsrichtlinie in Dänemark in den Jahren 2014 und 2015 nicht. Dänemark hat sich ausweislich Erwägungsgrund 51 der Qualifikationsrichtlinie nicht an der Annahme dieser Richtlinie beteiligt und ist weder durch sie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet. Dass die Vorschriften der Qualifikationsrichtlinie aufgrund eines anderen Rechtsanwendungsbefehls zur Anwendung gekommen wären, ist für das Gericht nicht ersichtlich und angesichts des Vorbringens des Bundesamts auch nicht weiter zu ermitteln. Dass in Dänemark eine Prüfung gemäß dem dänischen Ausländergesetz stattgefunden hat, das in Art. 7 Abs. 2 u. a. auch eine dem subsidiären Schutz vergleichbare Vorschrift enthält, ist irrelevant. Denn ob und inwiefern das nach Vorgabe dieser rein dänischen Regelungen durchgeführte Asylverfahren den Anforderungen der Qualifikationsrichtlinie entspricht, kann nicht beurteilt werden (die Gleichwertigkeit bzgl. subsidiären Schutzes verneinend: VG Magdeburg, Urt. v. 19.2.48/20 - 8 A 48/20 -, juris Rn. 23), zumal hinsichtlich der dänischen Vorschrift mangels europarechtlicher Überformung durch die Qualifikationsrichtlinie auch das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens nicht zur Anwendung kommen kann.

2. Da die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziff. 1 des angefochtenen Bescheids infolge der Anfechtungsklage aufgehoben wird, ist auch die in Ziff. 2 ergangene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, nebst Abschiebungsandrohung in Ziff. 3 aufzuheben. Denn beide Entscheidungen sind jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, Rn. 21). Dies gilt auch für das in Ziff. 4 des Bescheids angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot.

III. Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.