Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 24.07.1990, Az.: VAs 3/90

Zuständigkeit des Haftrichters und Subsidiarität der gerichtlichen Entscheidung; Charakter einer allgemeinen, alle Untersuchungsgefangenen betreffenden Organisationsmaßnahme; Untersagung der beantragten Teilnahme an mehreren für Gefangene veranstalteten Gemeinschaftsveranstaltungen in einer Justizvollzugsanstalt; Beanstandung der Ausstattung einer zugewiesenen Einzelzelle

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
24.07.1990
Aktenzeichen
VAs 3/90
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1990, 17108
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:1990:0724.VAS3.90.0A

Verfahrensgang

vorgehend
GenStA ... - AZ: 1 AR (VAs) 20/90
LG ... - AZ: 31 Qs 32/89
StA ... - AZ: 800 Js 21902/89

Fundstellen

  • NStZ 1990, 608 (Volltext mit amtl. LS)
  • StV 1991, 27-28

Verfahrensgegenstand

Zulassung des Antragstellers zu Gemeinschaftsveranstaltungen der Justizvollzugsanstalt u.a.

Sonstige Beteiligte

..., geboren am 14.04.1952 in ... zur Zeit in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt ...

Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig hat
durch
die Richter am Oberlandesgericht ... und Dr. ... sowie
die Richterin am Oberlandesgericht ...
am 24. Juli 1990
beschlossen:

Tenor:

Die Sache wird an den Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer des Landgerichts ... als dem zuständigen Haftrichter zur Entscheidung abgegeben.

Gründe

1

I.

Der wegen gemeinschaftlichen Mordes angeklagte Antragsteller befindet sich in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Braunschweig.

2

Die Leiterin der Justizvollzugsanstalt hat ihm die beantragte Teilnahme an mehreren für Gefangene veranstalteten Gemeinschaftsveranstaltungen (Malkurs, Töpferkurs, Gruppe "Progressive Muskelentspannung" sowie Lauftraining im Freien und Benutzung der Sauna) versagt. Mit Beschluß vom 29.08.1989 hat der Haftrichter des Amtsgerichts die Teilnahme des Antragstellers an Gemeinschaftsveranstaltungen und Gemeinschaftsarbeiten in Abänderung seiner zuvor getroffenen ablehnenden Entscheidung pauschal genehmigt.

3

In der Folgezeit verwehrte die Anstaltsleiterin dem Antragsteller die Teilnahme an den genannten Veranstaltungen. Der hiergegen gerichteten, auf § 119 StPO und Nr. 75 UVollzO gestützten Beschwerde des Antragstellers half der Amtsrichter mit der Begründung nicht ab, die Teilnahme an den Veranstaltungen sei eine anstaltsinterne Angelegenheit, die der Zuständigkeit des Richters nach § 119 Abs. 6 StPO entzogen sei und ggf. nach §§ 23, 24 EGGVG gerichtlich überprüft werden könne. Ebenso verhalte es sich mit zwischenzeitlichen Beanstandungen des Antragstellers hinsichtlich der Ausstattung der Unterbringungszelle (doppelte Fenstervergitterung, zu kurzes Bett, feste Verbindung des Bettes mit dem Mauerwerk). Mit inhaltlich gleicher Begründung wurde die Beschwerde vom Landgericht als unzulässig verworfen.

4

Inzwischen hatte der Präsident des Justizvollzugsamtes eine an den Anstaltsleiter gerichtete Gegenvorstellung des Verteidigers durch Widerspruchsbescheid vom 21.03.1990 abschlägig beschieden und die Rechtsmittelbelehrung erteilt, es könne gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 EGGVG beantragt werden.

5

Nunmehr stellt der Antragsteller Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 23 EGGVG, um die vorstehend aufgeführten Begehren durchzusetzen. Hilfsweise beantragt er Verweisung an den zuständigen Haftrichter.

6

Der Senat ist für die beantragte Entscheidung nicht zuständig. Da der Antragsteller hilfsweise die Verweisung an den zuständigen Haftrichter beantragt, gibt der Senat die Sache diesem zur Entscheidung ab.

7

1.

Der subsidiäre Rechtsweg des § 23 EGGVG ist nur eröffnet, wenn die ordentlichen Gerichte nicht aufgrund anderer Vorschriften angerufen werden können, § 23 Abs. 3 EGGVG. Vorliegend ist nach § 119 Abs. 3 und 6 StPO der Haftrichter für die Entscheidung zuständig, wie die Untersuchungshaft im Einzelfall zu vollziehen ist, insbesondere ob die gegenüber einem einzelnen Untersuchungsgefangenen getroffenen Maßnahmen des Leiters der Justizvollzugsanstalt das erlaubte Maß der Freiheitsbeschränkung überschreiten. Um eine solche Einzelfallentscheidung geht es hier.

8

Demgegenüber kommen Anträge nach §§ 23 ff EGGVG nur in Betracht, wenn Anordnungen angefochten werden, die allgemein der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt dienen und somit alle Untersuchungsgefangenen betreffen, BGHSt 29, 135, 137 [BGH 13.11.1979 - 5 ARs VS 18/79]; KG GA 1978, 81, 82; OLG Hamm NStZ 1981, 156. Darunter fallen auch Maßnahmen und Gegebenheiten, die der Haftrichter nicht abstellen kann, weil sie wegen ihres generellen Charakters der Sache nach seiner Entscheidungsbefugnis entzogen sind, vgl. LR-Wendisch, StPO, 24. Aufl., § 119 RN 160 m. N.

9

Vorliegend geht es um die Teilnahme des Antragstellers an Gemeinschaftsveranstaltungen, die in der Untersuchungshaftanstalt ... abgehalten werden, ferner um die beanstandete Ausstattung der dem Antragsteller zugewiesenen Einzelzelle. Es handelt sich damit um die Entscheidung über Maßnahmen, die in die Zuständigkeit des Haftrichters nach § 119 Abs. 6 StPO fallen.

10

a)

Die Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen ist § 119 Abs. 3 StPO zuzuordnen. Nach dieser Vorschrift dürfen dem Verhafteten nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert. Aus der Notwendigkeit solcher Freiheitsbeschränkungen erwächst für den Staat die Fürsorgepflicht, für Ausgleichsmaßnahmen zu sorgen, die im Rahmen von § 119 Abs. 3 StPO die Entbehrungen infolge des Freiheitsentzuges kompensieren, vgl. LR-Wendisch a.a.O. RN 34. Dazu gehört auch die Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen, über die im Einzelfall nach den vorhandenen Möglichkeiten und Gegebenheiten in der Justizvollzugsanstalt zu entscheiden ist. Diese Auffassung hat bereits das OLG Hamm in NStZ 1981, 156 beiläufig vertreten.

11

Daß bei dieser Einzelfallentscheidung generelle Gesichtspunkte des Haftzwecks und der Anstaltsordnung zu berücksichtigen sind, gibt einer solchen Entscheidung entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft nicht den Charakter einer allgemeinen, alle Untersuchungsgefangenen betreffenden Organisationsmaßnahme, die dem Zugriff des Haftrichters entzogen bleiben müsse. Eine Einzelfallentscheidung wird nicht dadurch zu einer generellen Maßnahme, daß sich der Haftrichter bei seiner Entscheidungsfindung mit allgemeinen Erwägungen über die Sicherheit und Ordnung in einer Untersuchungshaftanstalt auseinandersetzen muß, die die Anstaltsleitung fallbezogen in ihrer Stellungnahme geltend machen kann.

12

b)

Soweit sich der Antragsteller dagegen gewandt hat, daß er in einem zu kurzen Bett schlafen mußte, ist inzwischen Abhilfe geschaffen, so daß dieser Antragspunkt gegenstandslos geworden ist.

13

c)

Über den Antrag, dem Antragsteller eine - freie - Zelle ohne doppelte Vergitterung zuzuweisen, in der das Bett nicht mit der Wand verbunden ist, ist ebenfalls im Rahmen von §§ 119 Abs. 3 und 6 StPO zu entscheiden. Denn ersichtlich wehrt sich der Antragsteller mit diesem Antrag gegen die Anordnung besonderer Sicherheitsmaßnahmen im Sinne von Nr. 63 UVollzO, für die der Haftrichter zuständig ist.

14

2.

Demnach müßte der Senat den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig verwerfen. Er sieht davon ab, weil der Antragsteller hilfsweise beantragt hat, die Sache dem zuständigen Haftrichter zuzuleiten. Nachdem inzwischen Anklage vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichtes ... erhoben worden ist, ist deren Vorsitzender für Entscheidungen im Rahmen der Untersuchungshaft nach § 119 StPO zuständig, § 126 Abs. 2 S. 3 StPO.

15

Die pauschale und deshalb unpraktikabele Genehmigung des früheren Haftrichters, der Antragsteller könne an "Gemeinschaftsveranstaltungen wie auch an Gemeinschaftsarbeit" teilnehmen, hindert nicht, sondern erfordert eine neue Entscheidung des zuständigen Haftrichters, nachdem sich der Antragsteller erneut nach Nr. 75 UVollzO beschwert hat. Entscheidungen nach § 119 Abs. 3 StPO sind ohnehin weder der formellen noch der materiellen Rechtskraft fähig, vgl. KK-Boujong, StPO, 2. Aufl., § 119 RN 93, und die in BVerfGE 34, 384, 398 mitgeteilten Nachweise.