Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 30.11.1977, Az.: 3 U 17/77
Anspruch auf Herausgabe der Krankengeschichte bzw. der Herausgabe des Krankenblattes und Anspruchsgrundlage; Darstellung von Eintragungen in Krankenunterlagen als Erinnerungsstütze; Anspruchsgrundlage zur Herausgabe von Krankenblatt und Krankenkarteiunterlagen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 30.11.1977
- Aktenzeichen
- 3 U 17/77
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1977, 14766
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1977:1130.3U17.77.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Göttingen - 16.12.1976 - AZ: 2 O 252/76
Rechtsgrundlage
- § 810 BGB
Fundstelle
- NJW 1978, 1200 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Herausgabe von Krankenunterlagen
In dem Rechtsstreitverfahren
hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 9. November 1977
unter Mitwirkung der Richter am Oberlandesgericht Dr. O., Dr. S. und K.
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 16. Dezember 1976 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Wert der Beschwer: 10.000 DM.
Tatbestand
Die Klägerin war bei dem Beklagten, der als Chefarzt der inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses H. am Harz tätig ist, in der Zeit vom 4. Januar 1974 bis zum 11. Januar 1974 in stationärer Behandlung.
Sie hatte in erster Instanz von dem Beklagten verlangt, die von ihm über sie geführte Krankengeschichte an ihren Bruder, den Facharzt für innere Krankheiten Dr. med. W. L., herauszugeben.
Die Klägerin hat behauptet, Dr. med. L. habe nunmehr ihre ärztliche Behandlung übernommen und bedürfe der erforderten Krankengeschichte zur sachgerechten Nachbehandlung.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, die über die Klägerin geführte Krankengeschichte über die Behandlung der Klägerin bis zum Jahre 1974 an Herrn Dr. med. W. L., Facharzt für innere Krankheiten des St. V.-Krankenhauses, ... P./A., herauszugeben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat behauptet, er habe Dr. med. L. erschöpfend fernmündlich und schriftlich über Befunde, Diagnose, Therapie und verabreichte Medikamente Auskunft gegeben. Zur Herausgabe der Krankengeschichte halte er sich nicht für verpflichtet.
Das Landgericht hat durch Urteil vom 16. Dezember 1976, auf das zur weiteren Sachdarstellung Bezug genommen wird, die Klage abgewiesen. Es hat einen Anspruch der Klägerin auf Herausgabe der Krankengeschichte verneint.
Mit der form- und fristgerecht eingelegten Berufung verlangt die Klägerin nunmehr Herausgabe der schriftlich über sie vom Beklagten anläßlich der stationären Behandlung im Januar 1974 gefertigten Behandlungsunterlagen, insbesondere des Krankenblattes und der Krankenkarteiunterlagen, und zwar an sich selbst. Sie greift das landgerichtliche Urteil mit Rechtsausführungen an und wiederholt im übrigen ihr erstinstanzliches Vorbringen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin die schriftlichen Unterlagen herauszugeben, welche der Beklagte über die Klägerin anläßlich ihrer Aufnahme und Behandlung vom 4. Januar 1974 im Kreiskrankenhaus H. geführt hat, insbesondere Krankenblatt und Krankenkarteiunterlagen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er wiederholt sein erstinstanzliches Vorbringen und ergänzt es mit Rechtsausführungen.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens wird auf die zwischen den Parteien bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig.
Soweit in dem geänderten Klagantrag eine Klagänderung liegt, war diese als sachdienlich zuzulassen.
Die Berufung ist unbegründet.
Der Klaganspruch ist nicht berechtigt. Er richtet sich nach sachgerechter Auslegung des Klagantrages allein auf Herausgabe des Krankenblattes und der Krankenkarteiunterlagen, die der Beklagte über die Klägerin während ihrer stationären Behandlung im Januar 1974 geführt hat.
Für einen solchen Klaganspruch besteht keine Rechtsgrundlage.
1.
§ 810 BGB scheidet als Anspruchsgrundlage aus. Diese Vorschrift gewährt nur ein Recht auf Einsicht, nicht auf Herausgabe. Zudem bezieht sich § 810 BGB lediglich auf Urkunden, die Aussagen über Rechtsgeschäfte oder Rechtsverhältnisse enthalten. An diesen Voraussetzungen fehlt es ebenfalls. Krankenblatt und Krankenkarteiunterlagen dienen dazu, Inhalt und Ablauf der ärztlichen Behandlung schriftlich festzuhalten. Sie enthalten persönliche Aufzeichnungen des Arztes über Annanmese, Diagnose, Befundergebnisse, Medikamentierung und dergl. Es handelt sich bei solchen Aufzeichnungen um die schriftliche Niederlegung von Tatsachen, nicht aber um die Beurkundung rechtsgeschäftlicher Erklärungen oder von Rechtsverhältnissen (OLG Stuttgart, NJW 58, 2118; BGH in NJW 1963, 389 [BGH 06.11.1962 - VI ZR 29/62]).
Unzutreffend meint Daniels (NJW 1976, 348), die Aufzeichnungen in den Krankenunterlagen stellten eine Dokumentation ärztlicher Vertragserfüllung dar und hätten deshalb rechtsgeschäftliche Bedeutung.
Die Eintragungen in die Krankenunterlagen sollen weder Entstehung, Inhalt, Fortbestand noch Beendigung von Rechtsbeziehungen oder Rechtsverhältnissen beurkunden. Sie enthalten lediglich Tatsachen über die Ausführung des Behandlungsvertrages. Sie dienen dem Arzt als Erinnerungsstütze und nur mittelbar auch den Interessen des Patienten an jederzeitiger sachgerechter und vollständiger Auskunft und Aufklärung. Rechtsbeziehungen werden dadurch nicht dokumentiert. Etwas anderes könnte allerdings gelten, wenn eine rechtliche Pflicht zur Führung von Krankenunterlagen bestände. Das ist aber nicht der Fall. Lediglich die ärztliche Berufsordnung schreibt als Standespflicht solche Aufzeichnungen vor. Dadurch erlangen aber die Eintragungen im Krankenblatt und in den Krankenkarteiunterlagen noch nicht die Bedeutung von Urkunden im Sinne des § 810 BGB.
2.
Eine etwaige analoge Anwendung des § 810 BGB auf solcher Art schriftlich festgehaltene Geschehensabläufe in Krankenblatt und Krankenkarteiunterlagen, ohne daß diese zugleich Rechtsverhältnisse mit Dritten kennzeichnen, kommt schon deshalb nicht in Frage, weil ein solcher Anspruch niemals auf Herausgabe gerichtet sein könnte.
3.
Der Herausgabeanspruch der Klägerin läßt sich schließlich nicht als Nebenpflicht oder als nachwirkende Vertragspflicht aus dem von ihr mit dem Beklagten geschlossenen Arztvertrag herleiten. Ein solcher Vertrag hat die Wiederherstellung, Erhaltung oder Förderung der Gesundheit des Patienten zum Inhalte. Im Rahmen dieser Zweckausrichtung kann der Patient, wie das Landgericht bereits zutreffend hervorgehoben hat, umfassende und erschöpfende Auskunft über Diagnose, Befund, Therapie und Medikamentierung nicht nur an einen nachbehandelnden Arzt, sondern auch an sich selbst verlangen. Eine solche Unterrichtung braucht sich nicht in verbaler oder gegebenenfalls schriftlicher Auskunft zu erschöpfen.
Unter Umständen kann in bestimmten Fällen auch ein Recht auf Einsicht in Befundergebnisse bestehen, wenn anerkennenswerte Interessen des Patienten dies erfordern.
In besonders gelagerten Fällen wird ein Arzt darüberhinaus zumindest an einen nachbehandelnden oder an einen vom Patienten sonst bezeichneten Arzt Befundunterlagen wie Röntgenbilder, Elektrokardiogramm und dergleichen nicht nur zur Einsicht, sondern auch endgültig herauszugeben haben, um einem nachbehandelnden Arzt zu ermöglichen, die früher erhobenen Befunde jederzeit selbst zu beurteilen. Nur durch persönlichen Augenschein von Originalröntgenbildern oder vergleichbaren Unterlagen über frühere Behandlungen wird dieser sachgerechte Schlüsse für seine eigene ärztliche Behandlung ziehen können.
Die Klägerin verlangt aber weder Auskunft noch Einsicht in Krankenunterlagen, sondern Herausgabe des Krankenblattes und der Krankenkarteiunterlagen, und zwar an sich selbst. Einen solchen Anspruch kann sie aus dem Arztvertrag nicht herleiten.
Die Herausgabe solcher Aufzeichnungen ist weder zur notwendigen Aufklärung der Klägerin über ihren Gesundheitszustand noch zur sachgerechten Weiterbehandlung durch einen nachbehandelnden Arzt erforderlich. Die in der Krankenkarteikarte und in dem Krankenblatt enthaltenen ärztlichen Angaben können ihr oder einem von ihr benannten Arzt jederzeit durch mündliche oder schriftliche Auskünfte übermittelt werden, Notfalls könnte unter bestimmten Umständen ein nachbehandelnder Arzt in diese Unterlagen Einsicht nehmen oder es könnten diesem Abschriften übersandt werden. Eine endgültige Herausgabe ist aus ärztlichen Gründen nicht geboten. Jedenfalls hat die Klägerin dafür nichts vorgetragen. Auch sonst ist dafür nichts ersichtlich. Gegen eine Pflicht zur Herausgabe von Krankenblatt und Krankenkarteiunterlagen sprechen zudem schutzwürdige Interessen des Beklagten als Arzt. Seine Krankenunterlagen werden nicht nur im Interesse des Patienten geführt, sondern dienen dem Beklagten als Arzt vor allem als Gedächtnisstütze über Art, Dauer und Inhalt der Behandlung. Sie enthalten nicht selten ganz persönliche Aufzeichnungen, die nicht für Dritte, auch nicht für den Patienten, bestimmt sind. So können sie beispielsweise vorläufige Verdachtsdiagnosen oder schriftlich niedergelegte Eindrücke allgemeiner Art über den Patienten, die medizinisch ohne Belang sind, enthalten. Eine Herausgabe würde in solchen Fällen schützenswerte Persönlichkeitsrechte des Arztes oder unter Umständen sogar völlig unbeteiligter Dritter verletzen. Zudem bedarf der Arzt des Krankenblattes und der Krankenkarteiunterlagen für etwaige Rückfragen von Krankenversicherungen oder Behörden. Auch benötigt er die unterlagen gegebenenfalls als Beweis oder Erinnerungsstütze im Falle gerichtlicher Auseinandersetzungen über Ansprüche aus dem Arztvertrag.
Zu Unrecht beruft sich die Klägerin zur Rechtfertigung ihres Anspruchs auf den Beschluß des Oberlandesgerichts Köln vom 15. Juli 1974 (OLGZ 1975, 16). Der dort entschiedene Fall ist dem vorliegenden nicht vergleichbar. Das Oberlandesgericht Köln hatte in jenem Verfahren dem Patienten kein Recht auf endgültige Herausgabe der Krankenunterlagen zugesprochen. Es hatte in einem einstweiligen Verfügungsverfahren nach Erledigung der Hauptsache lediglich nach § 91 a ZPOüber die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Dabei hatte es zur Begründung der Kostenentscheidung ausgeführt, der Patient könne jederzeit von seinem Arzt verlangen, daß dieser seine Aufzeichnungen über seine Behandlung einem vom Patienten benannten anderen Arzt zur Einsicht überlasse. Ob ein solcher Anspruch in diesem Umfange in jedem Fall gerechtfertigt ist oder nicht die Ausnahme bilden müßte, kann dahinstehen. Die Klägerin verlangt wesentlich mehr. Sie beansprucht endgültige Herausgabe der Behandlungsaufzeichnungen und dies zudem an sich selbst. Damit konnte sie aber, wie dargelegt, keinen Erfolg haben.
Die Berufung der Klägerin war demzufolge als unbegründet zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten und aber die vorläufige Vollstreckbarkeit folgen aus den §§ 97 Abs. 2, 708 Nr. 10 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 546 Abs. 1 ZPO nicht vorliegen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung.
Streitwertbeschluss:
Wert der Beschwer: 10.000 DM.