Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 09.01.2003, Az.: 4 A 4138/02

Schule für geistig Behinderte; Schule für Lernhilfe; sonderpädagogischer Förderbedarf; Sonderschule

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
09.01.2003
Aktenzeichen
4 A 4138/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48066
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Überweisung eines minderjährigen Schülers auf eine "Sonderschule für geistig Behinderte" gegen den Elternwillen muss sich die Schulbehörde mit der Frage auseinandersetzen, ob der Schüler geistig behindert ist oder eine solche Lern- oder Verhaltensstörung aufweist, die einer geistigen Behinderung gleichkommt.

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2002 und deren Widerspruchsbescheid vom 20. August 2002 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festgesetzten Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Klägerin wendet sich gegen ihre Überweisung von einer "Schule für Lernhilfe" in eine "Schule für geistig Behinderte".

2

Die am N. geborene Klägerin wurde im Schuljahr 1997/98 nach dem Besuch der Vorschule in die Grundschule eingeschult und besucht seit dem Schuljahr 1999/2000 die Sonderschule O.. Diese Schule ist in zwei Zweige (Sonderschultypen) gegliedert, nämlich eine "Schule für Lernhilfe" und eine "Schule für geistig Behinderte". Die Klägerin besucht gegenwärtig die "Schule für Lernhilfe". Die 2. Klasse wurde von ihr wiederholt und das Klassenziel der Klasse 3 nicht erreicht. Die Klägerin wiederholt dort im Schuljahr 2002/03 - ihrem 6. Schulbesuchsjahr - die Klasse 4. Klassenlehrerin ist gegenwärtig die sachverständige Zeugin P..

3

Mit Beschluss der Klassenkonferenz vom 15. Januar 2002 wurde das Verfahren auf Feststellung eines veränderten sonderpädagogischen Förderbedarfs eingeleitet.

4

Der damalige Klassenlehrer der Klägerin, Herr Q., erstellte unter dem 12. Februar 2002 einen Bericht über die Klägerin und die sachverständige Zeugin R. unter dem 28. März 2002 ein Beratungsgutachten, wegen deren Einzelheiten auf den Inhalt der Verwaltungsvorgänge Bezug genommen wird. Hervorzuheben sind aus dem Bericht des früheren Klassenlehrers eine Schulleistungsschwäche, ein problematisches Sozialverhalten, ein mangelndes Auffassungsvermögen, eine fehlende Motivation und zum Teil totale Verweigerung sowie eine permanente Überforderung der Klägerin. Aus dem Beratungsgutachten ist hervorzuheben: Die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Klägerin sei unterdurchschnittlich entwickelt. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin mehr leisten könne als in ihren Schulleistungen zum Ausdruck komme, sie könne aber über die Möglichkeiten, sofern sie vorhanden seien, noch nicht selbst verfügen. Die Klägerin neige zu unangemessenen aggressiven Reaktionen. Die Möglichkeiten der "Schule für Lernhilfe" erwiesen sich als nicht ausreichend, um die individuellen Förderbedürfnisse der Klägerin zu erfüllen. Ein Verbleib an der "Schule für Lernhilfe" würde die schon bestehende Überforderung und die beschriebenen Probleme noch vergrößern.

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Unter dem 21. März 2002 beantragten die Erziehungsberechtigten der Klägerin daraufhin die Einrichtung einer Förderkommission. Diese gelangte wegen des Widerstands der Erziehungsberechtigten der Klägerin in ihrer Sitzung am 23. April 2002 nicht zu gemeinsamen Empfehlungen. Die Lehrkräfte stellten unter dem 24. April 2002 in einem Schreiben an die Beklagte einen veränderten sonderpädagogischen Förderbedarf fest und gaben die Empfehlung für den Besuch der "Schule für geistig Behinderte". Zur Begründung führten sie aus, dass die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt im 5. Schulbesuchsjahr die 4. Klasse der "Schule für Lernhilfe" besuche und das Klassenziel nicht erreichen werde. Neben unterdurchschnittlicher Intelligenz und gravierenden Mängeln in ihrer Arbeitshaltung seien Defizite im sozialen und emotionalen Bereich zu beobachten. Ein Verbleib an der "Schule für Lernhilfe" würde die schon bestehende Überforderung fortsetzen und die beschriebenen Probleme voraussichtlich noch vergrößern. In der "Schule für geistig Behinderte" könne die Klägerin ohne Leistungsdruck in einer entspannteren Atmosphäre soziale Beziehungen erleben und möglicherweise die Defizite in der Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung allmählich verringern. Eine Stabilisierung ihrer Persönlichkeit könne sich positiv auf ihre Arbeitshaltung auswirken und so eventuell vorhandene Potenziale nutzbar machen. Der Sonderschulrektor S. stellte in einem gesonderten Schreiben vom 26. April 2002 u.a. die Position der Erziehungsberechtigten der Klägerin dar.

6

Daraufhin ordnete die Beklagte mit einem Bescheid vom 17. Mai 2002 unter Hinweis auf die Empfehlung an, dass die Klägerin ab 1. August 2002 zum Besuch der "Sonderschule für geistig Behinderte" verpflichtet sei. Sie müsse die "Schule T., Zweig für geistig Behinderte" besuchen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass alle Fördermaßnahmen der zuständigen Schule ausgeschöpft seien. Die Klägerin benötige über einen längeren Zeitraum besondere, kontinuierliche und umfassende Hilfen, die ihr in den übrigen Schulformen nicht zuteil werden könnten. Ihrem sonderpädagogischen Förderbedarf könne dort nicht in ausreichendem Umfang entsprochen werden.

7

Hiergegen erhoben die gesetzlichen Vertreter der Klägerin unter dem 11. Juni 2002 Widerspruch. Sie verwiesen auf eine Passage in dem Beratungsgutachten der Sonderschullehrerin R., nach der nicht ausgeschlossen sei, dass die Klägerin mehr leisten könne, als zur Zeit in ihren Schulleistungen zum Ausdruck komme. Außerdem befinde sich die Klägerin seit wenigen Monaten in einer von der Psychologischen Psychotherapeutin Dipl.-Psych. U., V., durchgeführten Verhaltenstherapie. Diese hätte ihnen mitgeteilt, dass ein Schulwechsel der Entwicklung der Klägerin nicht gut täte. Die bisherigen Fördermaßnahmen an der "Schule für Lernhilfe" seien unzureichend gewesen.

8

Während des Widerspruchsverfahren wurde die Klägerin ausweislich des Schulzeugnisses vom 19. Juni 2002 nicht versetzt. Dieses Zeugnis lautet:

9

"Lesen: [Die Klägerin] kann Texte aus dem Übungsbereich gut lesen und einfache Fragen zum Inhalt sinngemäß beantworten. [Die Klägerin] liest gern. Die Anforderungen wurden erfüllt.

10

Schreiben: [Die Klägerin] hat weiterhin Probleme, Texte aus dem Lernbereich ohne Fehler abzuschreiben. Ihre Schrift ist nur selten gut leserlich und formgetreu. Die Ergebnisse [der Klägerin] in Diktaten sind sehr mangelhaft. Die Anforderungen werden noch nicht erfüllt.

11

Mathematik: [Die Klägerin] nimmt am Differenzierungsangebot des 4. Schuljahres teil. Die Lerninhalte orientieren sich an denen des 2. und 3. Schuljahres. [Die Klägerin] rechnet im Zahlenraum bis 20. Additions- und Subtraktionsaufgaben ohne Zehnerübergang kann sie mit Hilfsmitteln zum Teil lösen. Größer- und Kleinerbeziehungen kann sie zwar nennen aber noch nicht mit den entsprechenden Zahlen versehen. Im Zahlenraum bis 100 kann sie die Zahlen auf dem Zahlenstrahl meist richtig angeben und Vor- und Nachfolger bestimmen. Die Anforderungen werden noch nicht erfüllt.

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Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in anderen Unterrichtsbereichen: [Die Klägerin] benötigt in den Sachfächern Textiles Gestalten, Kunst und Werken viel Anleitung und Unterstützung. Oft kann sie ihre Arbeiten nicht in der vorgegebenen Zeit beenden. Im Sachunterricht ist ihre Mitarbeit sehr stimmungsabhängig. Auch zeigen sich bei [der Klägerin] zunehmend Verständnisprobleme. Im Religionsunterricht steht sie den Inhalten ablehnend gegenüber und beteiligt sich kaum. Auch im Fach Musik nimmt [die Klägerin] nur sehr passiv teil. Nach wie vor gibt es große Probleme, [die Klägerin] in den Sport- und Schwimmunterricht zu integrieren. Am Unterricht mit dem Computer hat sie mit Interesse teilgenommen.

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Arbeitsverhalten: Das Arbeitsverhalten [der Klägerin] leidet sehr unter mangelhafter Motivation und mangelnder Konzentrationsfähigkeit. Zunehmend kommen Verständnisprobleme hinzu; immer öfter verweigert [die Klägerin] jegliche Mitarbeit und stört den Unterrichtsablauf. [Die Klägerin] entspricht nicht den Erwartungen.

14

Sozialverhalten: Das Sozialverhalten [der Klägerin] ist nach wie vor sehr problematisch. Besonders in den Pausen kommt es fast täglich zu Streitereien und Handgreiflichkeiten mit Mitschülerinnen. [Die Klägerin] schätzt Situationen falsch ein und reagiert oft überempfindlich und aggressiv. Bisher ist es nicht gelungen, [die Klägerin] in die Klassengemeinschaft zu integrieren. [Die Klägerin] entspricht nicht den Erwartungen."

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Nach Prüfung durch den schulfachlichen Dezernenten wies die Beklagte den Widerspruch mit einem Widerspruchsbescheid vom 20. August 2002 zurück. Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Leistungen der Klägerin in allen Bereichen nicht mehr den Anforderungen entsprächen. Die allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit sei unterdurchschnittlich entwickelt. Die Sicht des Menschen und die Gliederung des Wahrnehmungsfeldes durch die Klägerin lägen deutlich im unterdurchschnittlichen Bereich. Neben unterdurchschnittlicher Intelligenz und gravierenden Mängeln in ihrer Arbeitshaltung seien bei der Klägerin Defizite im sozialen und emotionalen Bereich zu beobachten. Daher sei ein veränderter sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden. Ein Verbleib an der "Schule für Lernhilfe" würde die schon bestehende Überforderung fortsetzen und die Probleme der Klägerin voraussichtlich noch vergrößern. In der "Schule für geistig Behinderte" könne die Klägerin ohne Leistungsdruck in einer entspannteren Atmosphäre soziale Beziehungen erleben und möglicherweise die Defizite in der Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung allmählich verringern. Eine Stabilisierung ihrer Persönlichkeit könne sich positiv auf ihre Arbeitshaltung auswirken und so eventuell vorhandene Potenziale nutzbar machen. Außerdem stelle der Besuch der "Schule für geistig Behinderte" für die Klägerin einen neuen Anfang dar und biete das Erlebnis, in der Schule etwas leisten zu können.

16

Mit ihrer am 19. September 2002 beim Verwaltungsgericht Göttingen erhobenen Anfechtungsklage streitet die Klägerin um ihren Verbleib auf der "Schule für Lernhilfe". Nach ihrer Auffassung würden in der angefochtenen Entscheidung die Art und Schwere ihrer Lernbehinderung und die Gesichtspunkte, die die Beklagte zu der Einschätzung gelangen ließen, die "Schule für geistig Behinderte" sei für sie am besten geeignet, nicht angegeben. Außerdem habe sich die Beklagte nicht damit auseinandergesetzt, welche organisatorischen, personellen und sächlichen Schwierigkeiten ihrer weiteren Unterrichtung an der "Schule für Lernhilfe" entgegenstünden und warum diese Schwierigkeiten nicht überwunden werden könnten. Die angegebenen Gründe reichten für eine Überweisung auf eine "Schule für geistig Behinderte" nicht aus. Über die Beeinträchtigungen im Schwerpunkt "Lernen" hinaus lägen bei ihr weitere zusätzliche Beeinträchtigungen nicht vor, die es rechtfertigen würden, die Überweisung an eine "Schule für geistig Behinderte" auszusprechen. Die eingeräumten sozialen Konflikte reichten nicht aus, sie an den entsprechenden Sonderschultyp zu überweisen. Gegenwärtig werde sie in ihrer Klasse ausgegrenzt. Nicht sie sei überfordert, sondern ihre Lehrer. Offensichtlich solle sie "abgeschoben" werden. Die Klägerin verweist auf eine Bescheinigung der Dipl.-Psych. U. vom W., die lautet:

17

"Seit Februar 2002 arbeite ich mit [der Klägerin] im Rahmen einer Verhaltenstherapie und habe dabei ein Mädchen mit intakter Lernfähigkeit im geistigen und sozialen Bereich kennengelernt, das bei entsprechender Anforderung und konsequenter Unterstützung gute Fortschritte macht. [Die Klägerin] kann recht gut lesen; sie liest gerne und häufig, wodurch sich ihr Allgemeinwissen ständig erweitert. Sie nimmt in ihrer Freizeit gerne und regelmäßig an Sportgruppen teil. Bei geeigneter Unterstützung und Lenkung führt sie selbstständig Aktivitäten durch, wie z.B. Einkaufen, Aufpassen auf ihre kleineren Geschwister oder Hilfe im Haushalt.

18

Sie ist jedoch beeinträchtigt durch eine Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität sowie eine Rechenschwäche, beides Störungen, die einer Therapie zugänglich sind, und wo die im Rahmen der bisherigen Therapie erreichten Fortschritte im familiären Umgang deutlich bemerkt werden.

19

Zusammengefasst ist [die Klägerin] vielseitig interessiert.

20

Bei geeigneter Förderung macht sie große Fortschritte, ohne ausreichende Förderung dagegen ist mit dem Verlust bereits erworbener Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu rechnen."

21

Die Klägerin beantragt,

22

den Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2002 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 20. August 2002 aufzuheben.

23

Die Beklagte beantragt,

24

die Klage abzuweisen.

25

Sie nimmt in vollem Umfang auf ihren Widerspruchsbescheid Bezug und verweist auf eine während des Klageverfahrens abgegebene Stellungnahme der Klassenlehrerin P. vom 6. Dezember 2002, die lautet:

26

"Von Beginn des Schuljahres an verhält sich [die Klägerin] extrem auffällig. Häufig stört sie den Unterricht durch zusammenhanglose verbale Äußerungen und körperliche Angriffe gegen Mitschüler. Plötzlich auftretende unerklärliche Wein- und Schreiattacken (Kreischen) lassen weiteres Unterrichten nicht zu. Für [die Klägerin] scheinen Konflikte unüberschaubar zu sein. Sie fühlt sich ständig angegriffen durch Mitschüler und ungerecht behandelt durch die Lehrerin.

27

Während einer Unterrichtsstunde verweigert [die Klägerin] mehrfach die Mitarbeit. Manchmal wirft sie aus unerklärlichen Gründen Arbeitsmaterialien vom Tisch oder wirft ihren Tisch oder Stuhl um.

28

Aufgrund ihrer mangelnden Strukturiertheit ist sie nicht in der Lage, Arbeitsaufträge im Unterricht zu erledigen, Hausaufgaben anzufertigen und die benötigten Arbeitsmaterialien mitzubringen.

29

[Die Klägerin] entspricht nicht dem Leistungsstand der Klasse. Sie benötigt in allen Bereichen meist Einzelhilfe. Hilfe fordert sie nicht aktiv ein, vielmehr verweigert sie sie häufig sogar.

30

[Die Klägerin] ist kaum in der Lage, soziale Kontakte aufzubauen. Sie sucht ständig die Nähe und den engen Kontakt zur Lehrkraft. [Die Klägerin] ist in den Klassenverband nicht integrierbar. Das ständige "Auf-der-Hut-sein" vor neuen Attacken, Beschimpfungen und Beleidigungen, der starke Geräuschpegel, der von ihr ausgeht, führt dazu, dass niemand in ihrer Nähe sitzen will.

31

Die Klassengemeinschaft ist ständigem Stress ausgesetzt, worunter häufig auch die Leistungsbereitschaft vieler Schülerinnen und Schüler leidet (z.B. verändertes Schriftbild, mangelnde Konzentration beim Rechnen).

32

Obwohl die Klasse hinter dem Stand der Parallelklasse liegt, scheint für [die Klägerin] das Unterrichtsangebot eine ständige Überforderung darzustellen. [Die Klägerin] kann in dieser großen Lerngruppe nicht die notwendige Förderung erhalten, die sie benötigt".

33

Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben über den sonderpädagogischen Förderbedarf der Klägerin durch Vernehmung der Sonderschullehrerinnen R. und P. als sachverständige Zeuginnen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift Bezug genommen.

34

Wegen der übrigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Schule T. verwiesen, die dem Gericht zur Einsichtnahme vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.

36

Die Überweisung der Klägerin von der "Schule für Lernhilfe" an die "Schule für geistig Behinderte" ist rechtswidrig und verletzt sie in ihrem Grundrecht auf eine ihre Anlagen und Befähigung weitgehend berücksichtigende Ausbildung nach Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8.10.1997, NJW 1998, S. 131, 134 [BVerfG 08.10.1997 - 1 BvR 9/97]) sowie ihrem Recht nach § 54 Abs. 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes - NSchG - in Gestalt eines Teilhaberechts an dem Besuch der für sie geeigneten Schulform bzw. Sonderschultyps.

37

Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 NSchG sind Schüler, die einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen (§ 14 Abs. 2 Satz 1 NSchG) zum Besuch der für sie geeigneten Sonderschule und des für sie geeigneten Sonderunterrichts verpflichtet. Nach Absatz 2 Satz 1 der Vorschrift entscheidet die Schulbehörde, welche Schule zu besuchen oder an welchem Sonderunterricht teilzunehmen ist. In der Sonderschule werden gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 NSchG Schüler unterrichtet, die wegen körperlicher, geistiger oder psychischer Beeinträchtigungen oder einer Beeinträchtigung ihres sozialen Verhaltens einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen und diese Förderung nicht an einer Schule einer anderen Schulform erfahren können.

38

Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin unstreitig vor. Sie besucht bereits die Sonderschule. Die Beteiligten streiten lediglich darum, welchen Sonderschultyp sie innerhalb der Sonderschule X. besuchen muss.

39

Nach Nr. 8.1 der Ergänzenden Bestimmungen zur Schulpflicht und zum Rechtsverhältnis zur Schule (Erlass d. MK vom 29.8.1995, SVBl. S. 223 i.d.F. vom 16.3.1999, Nds.MBl. S. 181) können Sonderschulen u.a. geführt werden als „Schule für Lernhilfe“ und als „Schule für geistig Behinderte". Die Klägerin besucht gegenwärtig eine „Schule für Lernhilfe“. Um sie zum Besuch einer „Schule für geistig Behinderte“ zu verpflichten, bedarf es der Feststellung eines ergänzenden sonderpädagogischen Förderbedarfs. Dies folgt aus § 1 Nr. 2 der aufgrund von § 60 Abs. 1 Nrn. 1, 4 und 5 NSchG erlassenen Verordnung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs vom 1.11.1997 (Nds. GVBl. S. 458) - VO-SF -. Danach ist ein sonderpädagogischer Förderbedarf auch festzustellen, wenn eine bereits eingeleitete sonderpädagogische Förderung nicht mehr ausreichend erscheint. Sonderpädagogischer Förderbedarf ist nach Nr. 1 der Ergänzenden Bestimmungen zur VO-SF (Erl. d. MK vom 6.11.1997, SVBl. S. 385) – Erg.Best.VO-SF – bei Kindern und Jugendlichen zu vermuten, deren Entwicklungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten derart beeinträchtigt sind, dass sie über einen längeren Zeitraum spezifische, kontinuierliche und umfassende Hilfen benötigen. Nach Nr. 2 der Erg.Best.VO-SF ist eine erneute Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs bei Schülern notwendig, die bereits Förderung aufgrund einer solchen Feststellung erhalten, wenn die persönliche Entwicklung und neue Erkenntnisse sonderpädagogische Förderung in verändertem Umfang oder Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Bereichen eine differenzierte Förderung u.a. in anderen Sonderschultypen gemäß Nr. 8.1 der vorerwähnten Ergänzenden Bestimmungen zur Schulpflicht und zum Rechtsverhältnis zur Schule vom 29.8.1995 notwendig erscheinen lassen. Nach Nr. 16.7 der Erg.Best.VO-SF kann die Schulbehörde bei Feststellung eines ergänzenden sonderpädagogischen Förderbedarfs deshalb die Überweisung aus einer Sonderschule in eine Sonderschule mit anderem sonderpädagogischen Schwerpunkt anordnen. Sie bewegt sich damit im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung des § 68 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 NSchG, die für den Schüler geeignete Sonderschule zu bestimmen.

40

Im Lichte des Grundrechts nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG obliegt der Beklagten bei einer gegen den Willen seiner Erziehungsberechtigten erfolgenden Überweisung eines minderjährigen Schülers an eine Sonderschule für (geistig) Behinderte eine gesteigerte Begründungspflicht (BVerfG, Beschlüsse vom 30.7.1996, NJW 1997, S. 1062 und vom 8.10.1997, aaO, S. 131). Zwar stellt die Überweisung eines förderungsbedürftigen Schülers an eine Sonderschule oder an einen anderen Sonderschultyp nicht schon für sich eine verbotene Benachteiligung gegenüber anderen Kindern dar. Die gebotene Begründung hat jedoch insbesondere die Art und Schwere der Förderungsbedürftigkeit und die Gesichtspunkte, die die Behörde zu der Einschätzung gelangen lassen, dass Erziehung und Unterricht des Schülers am besten in der von der Behörde ausgewählten Sonderschule gewährleistet erscheinen, anzugeben. Gegebenenfalls sind auch die organisatorischen, personellen oder sächlichen Schwierigkeiten sowie die Gründe darzulegen, warum diese Schwierigkeiten im konkreten Fall an der gegenwärtig besuchten Schule nicht überwunden werden können. Hierbei sind insbesondere die Vor- und Nachteile einer Beschulung in der in Aussicht genommenen Sonderschule zu berücksichtigen.

41

Vorliegend ist die Anordnung der Beklagten, die "Schule für geistig Behinderte" sei der geeignete Sonderschultyp für die Klägerin, nicht rechtsfehlerfrei getroffen worden. Da es sich bei der Sonderschulüberweisung um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt, dessen Wirkungen über den Zeitpunkt seines Erlasses hinausgehen, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung über die von der Klägerin erhobene Anfechtungsklage (vgl. OVG Münster, Urteil vom 13.6.1975, OVGE 31, S. 120), zumal die Sonderschulüberweisung nach Nr. 17 Erg.Best.VO-SF auch nachträglich überprüft wird.

42

Festzuhalten ist, dass das Verfahren für das Vorgehen der Behörde bei einer Sonderschulüberweisung, wie es von der VO-SF vorgegeben wird, beanstandungsfrei durchgeführt worden ist. Ebenso sieht es die Kammer aufgrund des Akteninhalts und der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten Beweisaufnahme als erwiesen an, dass die gegenwärtige sonderpädagogische Förderung der Klägerin in der "Schule für Lernhilfe" nicht mehr im Sinne von § 1 Nr. 2 VO-SF ausreichend erscheint. Insbesondere hat die Beweisaufnahme ergeben, dass die Klägerin gegenwärtig überfordert ist.

43

Die Beklagte hat jedoch im Hinblick auf die vorerwähnte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur unzureichend dargelegt, aus welchen Gründen die "Schule für geistig Behinderte" der geeignete Sonderschultyp ist, den die Klägerin zu besuchen hat. Dieser Frage hat die Beklagte jedoch in einer der Bedeutung dieser Entscheidung für den Schüler angemessenen Gewichtung nachzugehen, zumal ihr nach dem Gesetzeswortlaut des § 68 Abs. 1 Satz 1 NSchG neben der Frage, ob der Schüler überhaupt sonderpädagogischer Förderung bedarf, besonderes Gewicht zukommt. Während der Ausgangsbescheid der Beklagten vom 17. Mai 2002 hierzu kein Wort verliert, erschöpfen sich die Ausführungen des Widerspruchsbescheids vom 20. August 2002 in der eher offen gehaltenen Prognose, dass die Klägerin an der "Schule für geistig Behinderte" ohne Leistungsdruck in einer entspannteren Atmosphäre soziale Beziehungen erleben und möglicherweise die Defizite in der Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung allmählich verringern könnte. Eine Stabilisierung könnte sich positiv auf ihre Arbeitshaltung auswirken und so eventuell vorhandene Potenziale nutzbar machen. Außerdem stelle der Besuch der "Schule für geistig Behinderte" für die Klägerin einen neuen Anfang dar und biete für sie das Erlebnis, in der Schule etwas leisten zu können (Widerspruchsbescheid S. 2 f.). Diese Ausführungen mögen zwar aus pädagogischer Sicht gut gemeint sein, reichen jedoch vor dem Hintergrund der vom Bundesverfassungsgericht gestellten Anforderungen an eine Begründung im Rechtssinne nicht aus, die "Schule für geistig Behinderte" zu dem Sonderschultyp zu erklären, den die Klägerin nach dem Willen der Beklagten gegen den von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Elternwillen besuchen muss.

44

Hierzu bedarf es nämlich zum einen der Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Klägerin geistig behindert ist oder eine solche Lern- oder Verhaltensstörung aufweist, die einer geistigen Behinderung gleichkommt. Hierzu verhalten sich die Bescheide nicht. Auch die von der Kammer durchgeführte Beweisaufnahme durch Vernehmung der sachverständigen Zeuginnen R. und P. ergab hierzu kein Ergebnis. Der Sonderschultyp "Schule für geistig Behinderte" versteht sich bereits begrifflich als Angebot an Schüler mit einer entsprechenden Behinderung. Behinderung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht (BVerfG, Beschluss vom 8.10.1997, ebd.). Auch nach Nr. 2.1 der Vorgaben über "die Arbeit in der Schule für geistig Behinderte" (Erlass d. MK vom 18.4.1989, SVBl. S. 103 i.d.F. vom 12.9.1996, SVBl. S. 424) versteht sich dieser Sonderschultyp als wesentlicher Bestandteil der umfassenden Eingliederungsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. Danach ist der Sonderschultyp "Schule für geistig Behinderte" in erster Linie nicht Auffangbecken für Schüler, die an anderen Sonderschultypen, insbesondere der "Schule für Lernhilfe" Lernschwierigkeiten haben, sondern ist nach seiner Zweckbestimmung geistig behinderten Schülern vorbehalten. Wegen der Definitionsschwierigkeiten und fließenden Übergänge ist von der Behörde im Schwerpunkt allerdings keine Überprüfung des Schülers im Sinne einer medizinischen Definition der geistigen Behinderung z.B. nach der ICD-10-Klassifizierung gefordert. Auch kann selbst von einem erfahrenen Sonderschullehrer keine exakte medizinische Diagnose verlangt werden. Deshalb ist vor der Überweisung eines Schülers auf eine "Schule für geistig Behinderte" auch nicht die Klärung der Frage zu verlangen, ob und inwieweit dessen Förderungsbedürftigkeit ihre Ursache in einer geistigen Behinderung im medizinischen Sinne hat. Gleichwohl sind in der Begründung für die Überweisung eines Schülers an eine "Schule für geistig Behinderte" nachvollziehbare Ausführungen erforderlich, aus welchen Gründen gerade das Angebot einer solchen Schule, welches das Erreichen eines Schulabschlusses regelmäßig ausschließt (s. Nr. 6 der oben zitierten Vorgaben über die "Arbeit in der Schule für geistig Behinderte“, aaO), das geeignete Angebot ist. Hierfür reicht die ausschließliche Erwähnung eines fehlenden Leistungsdrucks und einer entspannteren Atmosphäre in der "Schule für geistig Behinderte" in dem Widerspruchsbescheid ebenso wenig aus wie der Hinweis, dass die Überweisung an die "Schule für geistig Behinderte" der Klägerin einen Neuanfang ermöglicht.

45

Die Begründung der Beklagten für die Überweisung der Klägerin an einen anderen Sonderschultyp lässt auch die Darstellung organisatorischer, personeller oder sächlicher Schwierigkeiten an der "Schule für Lernhilfe" sowie die Gründe vermissen, warum diese Schwierigkeiten im konkreten Fall nicht überwunden werden können. Ebenso wenig wird in den angefochtenen Bescheiden auf den entgegengesetzten Beschulungswunsch der Klägerin und ihrer Eltern eingegangen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind diese zu den Erwägungen der Schulbehörde in Beziehung zu setzen und abzuwägen (BVerfG, Beschluss vom 8.10.1997, aaO, S. 134). Demgegenüber erschöpften sich die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden in der allgemeinen Aussage, dass die Fördermöglichkeiten der "Schule für Lernhilfe" erschöpft seien, ohne diese Feststellung im Einzelnen zu begründen.

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Da die Sonderschulüberweisung der Klägerin damit nicht dem gesteigerten Begründungserfordernis im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt, war die Anordnung aufzuheben.

47

Der Klage war deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit wegen der Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Die Berufung war gemäß § 124 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO zuzulassen, weil die Kammer der Frage, welche rechtlichen Anforderungen im Einzelnen an die Begründung für die Überweisung eines Schülers von einer "Schule für Lernhilfe" an eine "Schule für geistig Behinderte" zu stellen sind, grundsätzliche Bedeutung beimisst.