Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 19.11.1973, Az.: 9 U 83/73
Verletzung auf Grund einer Schadensstelle in einer Bürgersteigkante; Gehaltsfortzahlungsanspruch im Krankheitsfalle; Grundsatz der vermögensrechtlichen Einheit der öffentlichen Hand; Erstattung von Arbeitgeberanteilen zur Sozialversicherung und Zusatzversorgung und des anteiligen Weihnachtsgeldes
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 19.11.1973
- Aktenzeichen
- 9 U 83/73
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1973, 11522
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1973:1119.9U83.73.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - 14.12.1972 - AZ: 5 O 344/72
Rechtsgrundlagen
- § 10 Abs. 1 NStrG,NI
- Art. 34 GG
- § 839 BGB
- § 616 BGB
- § 843 Abs. 4 BGB
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Bordsteine sind Bestandteile von Gehwegen.
- 2.
Die Gehaltsfortzahlung gemäß § 616 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) im Verletzungsfalle nach einer Schädigung durch Dritte dient nicht dem Schadensausgleich, sondern hat fürsorgerischen Charakter.
- 3.
Wenn in § 843 Absatz 4 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) bestimmt ist, dass der Anspruch auf Ersatz des Erwerbsschadens nicht deshalb ausgeschlossen ist, weil ein anderer dem Geschädigten Unterhalt zu gewähren hat, so handelt es sich um den Niederschlag eines allgemeinen Rechtsgedankens und nicht um eine eng zu begrenzende Ausnahmebestimmung. Die darin enthaltene gesetzliche Wertung zeigt, dass auch dann Schadensersatz zu leisten ist, wenn die konkrete wirtschaftliche Lage des Betroffenen hinsichtlich seines Unterhalts nicht nachteilig verändert worden ist, eben weil gewisse Leistungen ihrer Natur nach dem Schädiger nicht zugute kommen sollen.
- 4.
Der Grundsatz der vermögensrechtlichen Einheit der öffentlichen Hand bezieht sich nur auf die Stellung des Bürgers gegenüber der öffentlichen Hand und soll lediglich die Verweisungsmöglichkeit des Bürgers von einer Stelle an die andere Stelle der öffentlichen Hand einschränken.
- 5.
Ein Fußgänger muss besonders achtsam sein, wenn er seinen Fuß auf einen Bordstein setzen will. Hier muss man wegen der häufig vorhandenen Abschrägungen stets gut aufpassen, dass man nicht abrutscht, und daran denken, dass kleinere Unebenheiten immer wieder vorkommen und unvermeidlich sind. Dies gilt nicht nur am Tage, sondern gerade auch für den Fall, dass Dunkelheit herrscht und der Gehweg lediglich durch eine etwas entfernte Straßenlaterne mehr oder weniger gut erhellt wird.
In dem Rechtsstreit
hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 5. November 1973
unter Mitwirkung
der Richter am Oberlandesgericht M., S. und F.
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 14. Dezember 1972 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts H. wird auf ihre Kosten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß das klagende Land die durch die Anrufung des Amtsgerichts Hameln entstandenen Mehrkosten selbst trägt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Am 28. Oktober 1971 gegen 19 Uhr befand sich Frau R. auf dem Heimweg von einem Verwandtenbesuch. Sie ging auf dem Fußweg der K. in H. und bog in die Sedemünderstraße ein. An der linken Hand führte sie ihren 8-jährigen Sohn. Dieser sah am Straßenrand einen Lkw parken, den er betrachten wollte. Frau R. ging deshalb zur Bürgersteigkante hin und auf dieser entlang, als sie plötzlich stürzte und sich dabei den Fußknöchel brach. Sie war in ein größeres Loch in der Bürgersteigkante getreten. Die Kante war auf einer Länge von 30 cm, einer Breite von ca. 12. cm und einer Tiefe von ca. 10 cm herausgebrochen. Der Schaden bestand schon lange Zeit und war der beklagten Stadt seit Monaten bekannt.
Frau R. konnte etwa zwei Wochen ihren Dienst als Angestellte des Finanzamtes H. nicht versehen. Ihr Arbeitgeber zahlte für die Zeit ihrer Arbeitsunfähigkeit das Gehalt nebst Arbeitgeberanteilen zur Angestelltenversicherung und zur VBL sowie anteiligem Weihnachtsgeld in Höhe von insgesamt 473,75 DM weiter. In dieser Höhe hat Frau R. ihren Schadensersatzanspruch gegen die Stadt H. an das klagende Land abgetreten.
Das Land macht den abgetretenen Anspruch geltend und hat behauptet, die schadhafte Stelle in der Bürgersteigkante sei für Frau R. praktisch nicht zu erkennen gewesen, weil es dunkel gewesen sei, auch wenn schräg gegenüber die Straßenlaterne - ein älteres Modell - gebrannt habe. Es hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe fahrlässig ihre amtliche Verkehrssicherungspflicht verletzt, weil sie den Schaden nicht unverzüglich behoben habe. Der Fußweg müsse auch an der Kante in einwandfreiem Zustand erhalten werden. Eine anderweitige Ersatzmöglichkeit habe Frau R. nicht.
Die Klage war zunächst vor dem Amtsgericht H. erhoben. Der Rechtsstreit ist von diesem mangels sachlicher Zuständigkeit an das Landgericht H. verwiesen worden.
Das klagende Land hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 473,75 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat eine Verkehrssicherungspflichtverletzung verneint, da Fußgänger die Bürgersteigkante so hinnehmen müssen, wie sie vorhanden sei. Die Stadt sei nicht verpflichtet, die schadhafte Kante unverzüglich instandzusetzen. Im übrigen habe Frau R. dadurch anderweit Ersatz für ihren Schaden erlangt, daß ihr Arbeitgeber das Gehalt weitergezahlt habe. Sie habe daher keinen Schadensersatzanspruch mehr gehabt, den sie hätte abtreten können. Die Beklagte hat behauptet, die Schadensstelle sei durch eine moderne Straßenleuchte gut beleuchtet gewesen. Der Unfall sei nur durch die Unaufmerksamkeit von Frau R. entstanden. Sie habe die Schadensstelle erkennen können. Zudem habe sie auf dem sonst einwandfreien, 1,90 m breiten Bürgersteig genug Platz zum unbehinderten Gehen gehabt. Sie trage zumindest ein erhebliches Mitverschulden.
Das Landgericht hat durch Urteil vom 14. Dezember 1972 der Klage zu zwei Dritteln stattgegeben und sie im übrigen wegen Mitverschuldens von Frau R. abgewiesen.
Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die ihren erstinstanzlichen Vortrag wiederholt und ergänzt.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage in vollem Umfange abzuweisen,
hilfsweise:
Vollstreckungsnachlaß zu gewähren und die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise:
Vollstreckungsnachlaß - notfalls gegen Sicherheitsleistung - mit der Maßgabe zu gewähren, daß die Sicherheit auch in Form einer selbstschuldnerischen Bürgschaft einer deutschen Großbank oder öffentlichen Sparkasse geleistet werden kann.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Zur Ergänzung der Sachdarstellung wird auf den vorgetragenen Inhalt des angefochtenen Urteils und der zwischen den Parteien im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Das Landgericht hat zu Recht erkannt, daß die Beklagte ihre Pflicht zur verkehrssicheren Unterhaltung des Fußweges, die ihr nach § 10 Abs. 1 NStrG als Amtspflicht obliegt, fahrlässig verletzt hat. Die recht große Schadensstelle in der Bürgersteigkante hätte von ihren Beamten die diese seit Monaten kannten, in Ordnung gebracht werden müssen. Die Beklagte haftet der Geschädigten und nunmehr aus abgetretenem Recht dem klagenden Land auf Schadensersatz gemäß § 839 BGB, Art. 34 GG.
Die Beklagte kann nicht darauf verweisen, ihre Verkehrssicherungspflicht erstrecke sich nicht auf die Kante eines Bürgersteiges; denn die Bordsteine sind Bestandteil der Gehwege. Sie werden von den Fußgängern notwendig beim Überschreiten der Straße, beim Einsteigen in ein am Straßenrand haltendes Fahrzeug, ebenso beim Aussteigen, beim Beladen von Fahrzeugen und schließlich beim Ausweichen vor entgegenkommenden Fußgängern sowie beim Überholen benutzt. Fußgänger müssen sich darauf verlassen können, daß der Bordstein sicher begehbar ist, wenn hier auch mit kleineren Ausbrüchen und Unebenheiten im Übergang vom übrigen Fußweg zum Bordstein und zwischen den einzelnen Bordsteinen sowie mit Abschrägungen zur Gosse zu rechnen ist. Dadurch wird aber ein Fußgänger in der Regel nicht zu Fall kommen. Hier war die Schadensstelle jedoch recht groß: Die Kante war auf etwa 30 cm Länge, 12 cm Breite und 10 cm Tiefe herausgebrochen. Es war ein gefährliches Loch entstanden, bei dessen Größe die Straßenbaubeamten der Beklagten annehmen konnten und mußten, daß leicht ein Fußgänger beim Hineintreten zu Schaden kommen konnte. Die Sedemünder Straße liegt zudem im dicht bebauten Stadtgebiet von Hameln, wo Fußgänger einen ordnungsgemäß ausgebauten Fußweg einschließlich der Bürgersteigkante erwarten dürfen.
Die Beklagte meint auch zu Unrecht, Frau R. habe in ihrem Arbeitgeber, der seiner Angestellten für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit das Gehalt fortgezahlt hat, eine anderweitige Ersatzmöglichkeit im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB, die einen Schadensersatzanschpruch gegen die öffentliche Hand ausschließe. Die Gehaltsfortzahlung gemäß § 616 BGB im Verletzungsfalle nach einer Schädigung durch Dritte dient nicht dem Schadensausgleich, sondern hat fürsorgerischen Charakter (BGHZ 21, 112, 116 [BGH 22.06.1956 - VI ZR 140/55]; Soergel-Siebert-Wlotzke-Volze, BGB, 10. A., § 616 Rz. 48). Solche Maßnahmen sozialer Sicherung und sozialer Fürsorge sind nur möglich, wenn die Mittel zu ihrer Durchführung durch Opfer und Arbeitsleistungen anderer aufgebracht werden. Auch die Arbeitsleistung der Geschädigten selbst vor und nach dem Ausfall dient mit der Sicherung des Gehaltsfortzahlungsanspruches im Krankheitsfalle. Der sozialpolitische Sinn dieser Leistungen würde ins Gegenteil verkehrt, wenn sie demjenigen zugute kämen, der den Schadensfall in verantwortlicher Weise verursacht hat. Wenn in § 843 Abs. 4 BGB bestimmt ist, daß der Anspruch auf Ersatz des Erwerbsschadens nicht deshalb ausgeschlossen ist, weil ein anderer dem Geschädigten Unterhalt zu gewähren hat, so handelt es sich um den Niederschlag eines allgemeinen Rechtsgedankens und nicht um eine eng zu begrenzende Ausnahmebestimmung. Die darin enthaltene gesetzliche Wertung zeigt, daß auch dann Schadensersatz zu leisten ist, wenn die konkrete wirtschaftliche Lage des Betroffenen hinsichtlich seines Unterhalts nicht nachteilig verändert worden ist, eben weil gewisse Leistungen ihrer Natur nach dem Schädiger nicht zugute kommen sollen. Eine Berücksichtigung des Rechtsgedankens des § 843 Abs. 4 BGB bietet sich umso mehr an, als die Leistungen nach § 616 BGB gerade den Zweck verfolgen, dem vom Unglück betroffenen Dienstpflichtigen den nötigen Unterhalt für diese Zeit zu sichern (BGHZ 21, 112, 116) [BGH 22.06.1956 - VI ZR 140/55]. Wie die Möglichkeit, aufgrund familienrechtlicher Unterhaltspflicht die entstandenen Nachteile auszugleichen, keine anderweitige Ersatzmöglichkeit im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB ergibt (Staudinger-Schäfer, BGB, 11. A., § 839 Rz. 371; Palandt-Thomas, BGB, 32. A., § 839 Anm. 7 b; OLG Hamm VersR 1969, 1150), trifft dies auch für die ebenfalls dem Unterhalt dienende Gehaltsfortzahlung zu. Für die Fortzahlung der Dienstbezüge der Beamten ist dies anerkannt (BGH NJW 1965, 753; Staudinger-Schäfer, a.a.O., § 839 Rz. 372). Die Leistungen an die Beamten und an die Angestellten beruhen gleichermaßen auf der Fürsorgepflicht des Dienstherrn und sollen dem Schadensersatzpflichtigen nicht zugute kommen (BGH NJW 1962, 1961 zu III. 2). Daß der Angestellte in diesem Fall verpflichtet ist, seinen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger an den Arbeitgeber abzutreten, während der Schadensersatzanspruch des Beamten kraft Gesetzes übergeht, rechtfertigt eine unterschiedliche Behandlung nicht; in beiden Fällen soll der Schädiger in Anspruch genommen werden können.
Die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs durch das Land aufgrund der Abtretung und damit der Ausgleich zwischen den nunmehr am Ersatz des Deliktschadens beteiligten öffentlich-rechtlichen Körperschaften wird auch nicht durch den Gedanken der vermögensrechtlichen Einheit der öffentlichen Hand (vgl. BGHZ 13, 88) ausgeschlossen. Dieser Grundsatz bezieht sich nur auf die Stellung des Bürgers gegenüber der öffentlichen Hand und soll lediglich die Verweisungsmöglichkeit des Bürgers von einer Stelle an die andere Stelle der öffentlichen Hand einschränken (BGH NJW 1962, 1961, 1964 [BGH 09.07.1962 - III ZR 22/61]; OLG Celle 9 U 83/71; Staudinger-Schäfer, a.a.O., § 839 Rz. 383).
Die Geschädigte muß sich jedoch ein Mitverschulden an dem Unfall gemäß § 254 BGB anrechnen lassen. Darf ein Fußgänger schon den eigentlichen Bürgersteig nicht unaufmerksam begehen, muß er besonders achtsam sein, wenn er seinen Fuß auf den Bordstein setzen will. Hier muß man wegen der häufig vorhandenen Abschrägungen stets gut aufpassen, daß man nicht abrutscht, und daran denken, daß kleinere Unebenheiten immer wieder vorkommen und unvermeidlich sind. Dies gilt nicht nur am Tage, sondern gerade auch für den Fall, daß Dunkelheit herrscht und der Gehweg lediglich durch eine etwas entfernte Straßenlaterne mehr oder weniger gut erhellt wird. Die Schadensstelle war bei ihrer Größe genügend erkennbar. Das Landgericht hat das beiderseitige Verschulden richtig abgewogen und die Haftung der beklagten Stadt auf zwei Drittel bestimmt. Das ist nicht zu beanstanden. Demgemäß konnte der Schadensersatzanspruch nur in Höhe von zwei Dritteln auf das klagende Land übergehen.
Die Schadenshöhe ist unstreitig. Die Beklagte muß neben dem fortgezahlten Bruttogehalt auch die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung und Zusatzversorgung und das anteilige Weihnachtsgeld erstatten (BGH VersR 1964, 1042; 1965, 620 [BGH 22.04.1965 - VII ZR 15/65]; 1972, 566). Die Beklagte ist daher zu Recht zur Zahlung von zwei Dritteln des insgesamt geleisteten Betrages von 473,75 DM, also von 315,83 DM nebst Prozeßzinsen (§ 291 BGB) verurteilt worden.
Die Kostenentscheidung des Landgerichts war jedoch gemäß § 276 Abs, 3 Satz 2 ZPO zu ergänzen. Im übrigen beruhen die Nebenentscheidungen auf §§ 97, 708 Nr. 7, 713 a ZPO. Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil der Senat der Rechtsprechung des BGH folgt und die Sache darüber hinaus nicht grundsätzliche Bedeutung hat. Der Fall liegt anders als in der Sache 9 U 73/72 (VersR 1973, 258), auf die die Beklagte verweist und in der die Revision zugelassen worden ist, dort waren die Besonderheiten des Lohnfortzahlungsgesetzes zu berücksichtigen.