Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 14.05.1973, Az.: 5 U 16/72
Zur Schmerzensgeldhöhe bei unfallbedingtem Schädeleinbruch im Bereich des linken Schläfen- und Scheitelbeins sowie einer Hirnhautverletzung und anschließender insgesamt 51 Tage umfassender Krankenhausbehandlung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 14.05.1973
- Aktenzeichen
- 5 U 16/72
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1973, 11326
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1973:0514.5U16.72.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - AZ: 3 O 259/71
Rechtsgrundlage
- § 847 BGB
Verfahrensgegenstand
Schadensersatzes aus Verkehrsunfall
Prozessführer
des am ... geborenen Schülers ...
durch seine Eltern, ...
Prozessgegner
den kaufmännischen Angestellten ...
In dem Rechtsstreit
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 30. April 1973
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird unter weiterer Zurückweisung der Anschlußberufung des Beklagten das am 29. Oktober 1971 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg in Bezug auf den Schmerzensgeldanspruch des Klägers wie folgt geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger über einen vor Klageerhebung gezahlten Betrag von 3.000,00 DM hinaus ein weiteres Schmerzensgeld von 8.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 11. September 1971 abzüglich am 24. Januar 1973 und 16. März 1973 gezahlter je 1.000,00 DM zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Als der damals 8-jährige Kläger am 27. September 1969 bei einem wolkenbruchartigen Regen gegen 14.35 Uhr mit seinem Fahrrad aus der unbefestigten ... in ... links in die Gemeindestraße einbiegen wollte, kam der Beklagte von dort mit seinem Volkswagen, Kennzeichen ... und erfaßte den Kläger mit dem rechten Vorderteil seines Wagens. Der Kläger erlitt hierbei im Bereich des linken Schläfen- und Scheitelbeins einen Schädeleinbruch mit einer Hirnrindenverletzung. Wegen dieser Verletzung befand er sich bis zum 14. November 1969 in stationärer Krankenhausbehandlung. Eine weitere Krankenhausbehandlung von zwei Tagen war im Frühjahr 1970 erforderlich.
Der Kläger hat dem Beklagten vorgeworfen, den Unfall durch eine Vorfahrtverletzung verschuldet zu haben. Er hat von dem Beklagten die Zahlung eines Schmerzensgeldes über den von der Versicherung des Beklagten vor Klagerhebung gezahlten Betrag von 3.000,00 DM hinaus verlangt, und die Feststellung der Ersatzverpflichtung des Beklagten für künftige auf dem Unfall beruhende Schäden begehrt.
Er hat beantragt,
- 1.
den Beklagten zu verurteilen, ihm über den gezahlten Betrag von 3.000,00 DM hinaus ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
- 2.
festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, alle künftig aus dem Unfallereignis vom 27. September 1969 entstehenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat eine Vorfahrtverletzung verneint und ein erhebliches. Mitverschulden des Klägers wegen der an der Einmündung vorhandenen Sichtbehinderung durch Buschwerk eingewendet und die Möglichkeit von Zukunftsschäden in Abrede genommen.
Das Landgericht hat nach einer Beweisaufnahme zum Unfallhergang durch das am 29. Oktober 1971 verkündete Urteil dem Kläger ein weiteres Schmerzensgeld von 3.000,00 DM zuerkannt und die Feststellung getroffen, daß der Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger 2/3 der künftigen, auf dem Unfall beruhenden materiellen Schäden zu ersetzen und dem Kläger außerdem auch den künftigen immateriellen Schaden zu ersetzen, wobei ein Mitverschulden des Klägers von einem Drittel zu berücksichtigen sei.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger ordnungsgemäß Berufung eingelegt. Dieser Berufung hat sich der Beklagte in zulässsiger Weise angeschlossen.
Mit der Berufung hat sich der Kläger gegen den Vorwurf der Mitschuld verwahrt und hierbei ins Treffen geführt, daß er als Radfahrer beim Einbiegen in die Gemeindestraße unter dem Eindruck des besonders heftigen Unwetters gestanden habe.
Er hat außerdem noch hervorgehoben, daß das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld der besonderen Schwere der Kopfverletzung nicht Rechnung trage, zumal eine Dauerschädigung eingetreten sei.
Der Kläger hat beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils
- 1.
den Beklagten zu verurteilen, ihm über die bereits gezahlten 3.000,00 DM und die vom Landgericht zuerkannten weiteren 3.000,00 DM hinaus ein angemessenes, in das Ermessen des Gerichts gestelltes volles Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen,
- 2.
festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, ihm alle künftig aus dem Unfallereignis vom 27. September 1969 entstehenden materiellen und immateriellen Schäden voll zu ersetzen und die Anschlußberufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen, soweit festgestellt ist, daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger mehr als 1/3 allen künftigen aus dem Unfall vom 27. September 1969 entstehenden materiellen Schadens zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger übergegangen sind,
3.
die Klage abzuweisen, soweit dem Feststellungsantrag wegen künftigen immateriellen Schadens mit der Maßgabe stattgegeben ist, daß ein Mitverschulden des Klägers von weniger als 2/3 zu berücksichtigen ist.
Der Beklagte hat weiterhin eine Vorfahrtverletzung unter Hinweis auf die untergeordnete Verkehrsbedeutung der ... verneint und die Ansicht vertreten, daß der Kläger wegen der an der Einmündung bestehenden Sichtbehinderung nicht ohne vorherige Kontrolle des etwa von links kommenden Verkehrs in die Gemeindestraße habe einbiegen dürfen. Er hat auch weiter bestritten, daß die Unfallverletzung für den Kläger physische oder psychische Dauerschäden zur Folge gehabt habe.
Durch Teilurteil vom 27. Juli 1972 hat der Senat festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den künftigen materiellen und den noch nicht absehbaren künftigen immateriellen Schaden aus dem Unfall vom 27. September 1969 in vollem Umfang zu ersetzen, soweit nicht Ersatzansprüche auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger übergegangen seien.
Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, daß der Beklagte den Unfall durch eine Vorfahrtverletzung schuldhaft herbeigeführt habe und daß dem Kläger angesichts seines kindlichen Alters in Anbetracht der besonderen Wetterverhältnisse an dem Unfall kein Mitverschulden treffe. Die von dem Stationsarzt ... in seinem Bericht an die ... erörterte Möglichkeit einer posttraumatischen Epilepsie als Spätfolge rechtfertige das Feststellungsbegehren. Zur näheren Darstellung wird auf die Urteile des Landgerichts vom 29. Oktober 1971 (Bl. 44 bis 51 d.A.) und des Senats vom 27. Juli 1972 (Bl. 144 bis 150 d.A.) verwiesen.
Zur Rechtfertigung seines weiteren Schmerzensgeldverlangens trägt der Kläger vor, durch den Anprall gegen den Volkswagen des Beklagten sei sein Schädel in einer Fläche von mehr als Handtellergröße eingebrochen gewesen. Der Impressionsbruch habe operativ versorgt werden müssen. Vorübergehend seien motorische Störungen der linken Gliedmaßen vorhanden gewesen. Noch jetzt bestünden häufig Kopfschmerzen. Seine Leistungsfähigkeit sei durch verminderte Konzentrationsfähigkeit und Aktivität beeinträchtigt. Bei Wetterumschlag bestehe eine Neigung zu Übelkeit und Erbrechen.
Der Kläger beantragt,
unter weiterer Abänderung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen, ihm über bereits gezahlte 3.000,00 DM und vom Landgericht zuerkannte weitere 3.000,00 DM hinaus ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes angemessenes, volles Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem 11. September 1971 zu zahlen abzüglich am 2. Januar 1973 und 16. März 1973 gezahlter je 1.000,00 DM, und die Anschlußberufung zurückzuweisen, soweit das nicht schon durch das Urteil des Senats vom 27. Juli 1972 geschehen ist; hilfsweise, ihm Vollstreckungsnachlaß, evtl. gegen Sicherheitsleistung, zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen, soweit hierüber nicht schon durch das Urteil des Senats vom 27. Juli 1972 befunden worden ist, und auf die Anschlußberufung die Klage abzuweisen, soweit der Beklagte verurteilt worden ist, über die bereits gezahlten 3.000,00 DM hinaus dem Kläger ein weiteres Schmerzensgeld von mehr als 2.000,00 DM nebst Zinsen zu zahlen,
hilfsweise, ihm Vollstreckungsnachlaß, notfalls gegen Sicherheitsleistung zu gewähren mit der Maßgabe, daß, die Sicherheit auch durch Bürgschaft einer Großbank, einer öffentlichen Sparkasse oder der ... geleistet werden kann.
Der Beklagte vertritt die Ansicht, daß der Kläger die bei dem Unfall davongetragene Hirnschädigung aufgrund seiner guten Erholungs- und Kompensationsfähigkeit fast folgenlos überstanden habe und daß als Dauerfolgen allenfalls eine geringfügige Unkonzentriertheit und leichte Langsamkeit der geistigen Reaktion verblieben seien. Die Kopfverletzung des Klägers und deren bisher eingetretene Folgen rechtfertigten ein Schmerzensgeld von höchstens 5.000,00 DM. Durch die bloße Möglichkeit, daß später einmal eine traumatische Epilepsie auftreten könne, sei das Wohlbefinden des Klägers bisher nicht beeinträchtigt gewesen, zumal er von dieser Gefahr wahrscheinlich nicht unterrichtet worden sei. Für den Fall, daß solche epileptische Nachwirkungen einmal auftreten würden, sei der Kläger durch die vom Senat getroffene Feststellung der künftigen Ersatzverpflichtung gesichert.
Wegen des sonstigen Vortrages der Parteien in beiden Rechtszügen wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Über die Art. und Schwere der Schädelverletzung, deren Behandlung und deren Folgen hat der Senat Gutachten von den medizinischen Sachverständigen ... und ... eingeholt (Bl. 132 bis 139 d.A.). Der Neurologe ... hat in seinem Gutachten außerdem ein Hirnstromgutachten des ... (Bl. 184 bis 187 d.A.) ausgewertet.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers hat weiterhin auch insoweit Erfolg, als der Kläger aufgrund des Unfalls vom 27. September 1969 von dem Beklagten ein höheres Schmerzensgeld verlangt, als das Landgericht ihm mit dem angefochtenen Urteil zuerkannt hat. Die Schwere der Unfallverletzung, die Schmerzen und Ängste, die der Kläger während seiner anschließenden insgesamt 51 Tage umfassenden Krankenhausbehandlung erlebt hat und die verbleibenden Dauerfolgen rechtfertigen ein Schmerzensgeld von insgesamt 11.000,00 DM, so daß der Beklagte dem Kläger noch 8.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung hierauf abzüglich der im Laufe des Berufungsverfahrens geleisteten Zahlungen von 2 × 1.000,00 DM schuldet (§§ 847, 291 BGB).
Daß der Beklagte dem Kläger wegen des Unfalls vollen Schadensersatz zu leisten hat und daß eine Minderung der Ersatzansprüche wegen eines mitwirkenden Verschuldens des Klägers nicht in Betracht kommt, hat der Senat schon im Teilurteil vom 27. Juli 1972, auf das insoweit Bezug genommen wird, ausgeführt. Bei dieser Ansicht verbleibt der Senat auch bei der Beurteilung der Frage, welcher Schmerzensgeldbetrag für den Kläger angemessen ist.
Aus dem Gutachten der Sachverständigen ... und ... (Bl. 133, 169 d. A.) ergibt sich, daß der Anprall des Klägers gegen den Volkswagen des Beklagten zu einem Schädeleinbruch im Bereich des linken Schläfen- und Scheitelbeins geführt hat, bei dem auch die Hirnhaut verletzt wurde. Nach seiner Krankenhauseinlieferung war der Kläger 4 Tage lang voll bewußtlos, so daß für 2 Tage künstliche Ernährung erfolgen mußte. Nach Prüfung der Frage, ob eine Operation erforderlich sei, ist der Kläger vom Hamburgischen Krankenhaus ... in das er vom Krankenhaus ... eingewiesen worden war, alsbald wieder nach ... zurückgeschickt worden. Aufgrund zunehmender psychischer Unruhe erfolgte dann eine nochmalige Verlegung zum Allgemeinen Krankenhaus ..., wo dann am 9. Oktober 1969 operativ ein ausgedehntes Haematom an der linken Kopfseite entfernt, die Schädeldecke an 5 Stellen angebohrt und in einer Fläche von etwa 4 × 5 cm Größe herausgesägt, die Hirnhautbeschädigung, aus der Hirnflüssigkeit herausgetreten war, beseitigt und das herausgesägte Knochenstück wieder eingepaßt wurde. Der Sachverständige ... hat hierzu ausgeführt, daß dieser Eingriff für ca. 14 Tage zu erheblichen Beschwerden und Schmerzen geführt hatte, einmal durch die Operation selbst und zum anderen durch die wiederholten Verbandswechsel. Das Ausmaß der Schmerzen sei mit einem größeren Eingriff im Bereich der Brust oder Bauchhöhle vergleichbar (Bl. 138 d. A.). Im übrigen liegt es auf der Hand, daß auch die Zeit zwischen dem Unfallereignis und der Vornahme dieser Operation für den Kläger ein bedrückendes, kaum faßbares Erlebnis dargestellt hat, durch das er sehr gelitten hat. Der dreimalige Wechsel des Krankenhauses brachte den Kläger immer wieder in eine neue und fremde Umgebung und die Hirnhautverletzung führte zu größeren Flüssigkeitsansammlungen, die naturgemäß auch einen Druck auf die äußeren und inneren Teile der Wunde und sicher auch auf das Gehirn ausgeübt haben. Es muß deshalb angenommen werden, daß gerade auch die Zeit vom 27. September 1969 bis zum 9. Oktober 1969 in physischer und psychischer Hinsicht ... große Belastungen für den Kläger mit sich gebracht hat. Daß sich die Kopfverletzung auch auf das motorische Nervensystem ausgewirkt hat, läßt sich aus den linksseitigen Lähmungserscheinungen ersehen, die sich dann allerdings innerhalb eines knappen halben Jahres nach dem Unfall wieder zurückgebildet haben. Bei dem Kläger sind aber auch jetzt noch häufig drückende Stirn-Kopfschmerzen, verbunden mit Übelkeit und Brechreiz, besonders bei Wetterwechsel vorhanden. Der Neurologe ... kommt im übrigen zu dem Ergebnis, daß eine schwere traumatische Hirnschädigung vorhanden gewesen sei, die sich nur aufgrund der Kompensations- und Erholungsfähigkeit des kindlichen Gehirns weitgehend zurückgebildet habe. Verblieben sei eine leichte traumatische Wesensänderung mit einer Hirnleistungsminderung, die sich in einem Mangel an Spontanität und einer gewissen Verlangsamung und erhöhten Ermüdbarkeit und leichten Unkonzentriertheit äußere. Dieserhalb sei auch eine dauernde Erwerbsminderung verblieben, deren Höhe bei einem Erwachsenen mit wenigstens 30 % zu bemessen sei. Einschränkend ist hierbei allerdings festzustellen, daß sich die Schulleistungen des Klägers durch den Unfall nicht merkbar verschlechtert haben, was allerdings durch einen größeren Arbeitseinsatz erreicht worden sein kann. Aber auch die feststehende, verbleibende Minderung der geistigen Frische, Spannkraft, und Aktivität beeinträchtigen die Lebensfreude und das Selbstgefühl des Klägers, soweit sich die Entwicklung übersehe läßt. Ebenso muß damit gerechnet werden, daß auch die Neigung zu Kopfschmerzen bei Wetterumschlägen bis auf weiteres bestehen bleibt. Unter Berücksichtigung aller Umstände bemißt der Senat in Anlehnung an seine bisherige Rechtsprechung das dem Kläger zuzuerkennende Schmerzensgeld mit insgesamt 11.000,00 DM.
Die Nebenentscheidungen entsprechen §§ 91, 97 Abs. 1, 708 Ziff. 7, 713 a ZPO.