Sozialgericht Stade
Urt. v. 30.10.2003, Az.: S 1 KR 66/01
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 30.10.2003
- Aktenzeichen
- S 1 KR 66/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 40276
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2003:1030.S1KR66.01.0A
In dem Rechtsstreit
...
hat die 1. Kammer des Sozialgerichts Stade auf die mündliche Verhandlung vom 30. Oktober 2003 durch den Herr Steinmetz und Herr von der Wehl für Recht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung eines Therapie-Dreirades als Sachleistung.
Die 1977 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet unter anderem an einem Down-Syndrom, einem Herzfehler, einer Adipositas sowie einem Knickfuß. Nach Angaben ihres hausärztlichen Behandlers kann die Klägerin zu Fuß lediglich Strecken von etwa 200 Metern schmerzfrei zurücklegen.
Im November 2000 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit einem Therapie-Dreirad. Dem Antrag war eine ärztliche Bescheinigung ihres vertragsärztlichen Behandlers beigefügt, wonach ein solches Dreirad aufgrund der klägerischen Behinderung und zur Verbesserung der Mobilität, Lebensqualität sowie der Unterstützung von Herz und Kreislauf benötigt werde. Ein Kostenvoranschlag der Firma E.... Orthopädie GmbH hinsichtlich der Kosten eines entsprechenden Dreirades iHv EUR 1956, 88 lag ebenfalls bei. Mit Bescheid vom 30. November 2000 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab und verwies zur Begründung darauf, dass es sich bei dem begehrten Therapie-Dreirad um einen nicht unter den Versicherungsschutz der gesetzlichen Krankenversicherung fallenden "allgemeinen Gebrauchsgegenstand" handele. Ein hiergegen eingelegter Widerspruch blieb erfolglos.
Die Klägerin hat am 10. Mai 2001 Klage erhoben und trägt zur Begründung vor, dass sie ein Therapie-Dreirad aus therapeutischen Zwecken benötige. Es solle der Erhaltung und Stärkung ihrer Muskelkraft dienen, eine Kräftigung von Herz und Kreislauf sowie eine Gewichtsreduktion herbeiführen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 30. November 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ein Therapie-Dreirad als Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält ihre Bescheide für rechtmäßig und trägt ergänzend vor, dass der Klägerin hinsichtlich der bestehenden Adipositas ausreichende Behandlungsmöglichkeiten wie die Teilnahme an Reha-Sport, Gymnastik, Schwimmen oder Fahren auf einem Ergotrainer bis hin zur Einhaltung einer Diät zur Verfügung stünden. Insoweit sei ein Therapie-Dreirad nicht erforderlich im Sinne des Gesetzes.
Das Gericht hat zur Sachaufklärung einen Befundbericht von dem vertragsärztlichen Behandler der Klägerin Dr. L.... eingeholt. Hinsichtlich des Ergebnisses der Sachaufklärung sowie der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichts- und beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Beide Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch gegenüber der Beklagten auf Versorgung mit einem Therapie-Dreirad. Die entsprechenden Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Versorgung mit einem Hilfsmittel ist § 33 Abs. 1 S 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Danach haben Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Im Einzelnen:
1. Zunächst kann entgegen der Auffassung der Beklagten dem Begehren der Klägerin nicht entgegengehalten werden, dass es sich bei einem Therapie-Dreirad um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handelt.
Hintergrund für den Ausschluss allgemeiner Gebrauchsgegenstände aus dem Leistungskatalog ist, dass die gesetzliche Krankenversicherung nur den Sonderbedarf von Kranken und Behinderten abdeckt. Hingegen ist ein Gegenstand, mag er auch Kranken oder Behinderten in hohem Maße helfen, nicht als Hilfsmittel der Krankenversicherung zu gewähren, wenn er schon von seiner Konzeption her nicht vorwiegend für Kranke und/oder Behinderte gedacht ist (ständige Rechtsprechung; vgl Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. September 1999 - B 3 KR 1/99 R - sowie Urteil vom 22. August 2001 - B 3 P 13/00 R - ). Das von der Klägerin begehrte Therapie-Dreirad ist aus Sicht der Kammer jedoch konzeptionell speziell auf Kranke und/oder Behinderte zugeschnitten. Durch die Verwendung einer zweirädrigen Vorderachse erhält das Dreirad eine große Stabilität, die das fehlende Gleichgewichts- und Koordinationsvermögen Kranker und/oder Behinderter ausgleicht. Zudem ist für das Dreirad zahlreich speziell auf die Bedürfnisse Behinderter ausgerichtetes Sonderzubehör erhältlich.
2. Allerdings vermag die Kammer nicht zu erkennen, dass das Therapie-Dreirad hier zur Sicherung efnes Behandlungserfolges oder zur Vorbeugung einer bestehenden Behinderung im Sinne des Gesetzes erforderlich ist.
Zum einen fehlt es auf Seiten der Klägerin bereits an einer Krankenbehandlung, deren Erfolg das begehrte Therapie-Dreirad sichern könnte. Nach der im Verwaltungsverfahren zur Begründung der Hilfsmittelversorgung vorgelegten Verordnung soll durch das streitgegenständliche Hilfsmittel eine Steigerung der körperlichen Aktivität, eine Verbesserung der allgemeinen körperlichen Verfassung sowie eine Gewichtsreduktion auf Seiten der Klägerin erreicht werden. Insoweit kommen als Krankenbehandlung iSv § 27 Abs. 1 S 1 SGB V allenfalls Maßnahmen zur Gewichtsreduktion in Betracht. Zwar ist in der Medizin umstritten, ob der Adipositas als solcher Krankheitswert zukommt. Einigkeit besteht aber darüber, dass bei starkem Übergewicht (im allgemeinen ab einem Body-Maß-Index > 30) eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion zwecks Vermeidung von Begleit- und Folgeerkrankungen erforderlich ist (siehe hierzu das Urteil des BSG vom 19. Februar 2003 - B 1 KR 1/02 R - ). Allerdings macht die Klägerin zumindest gegenwärtig von den zahlreichen Behandlungsmöglichkeiten hinsichtlich ihres Übergewichts (diätetische Therapie, Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie, Psychotherapie) keinen Gebrauch. Eine entsprechende ärztliche Behandlung wird nicht durchgeführt.
Zum anderen steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass in diesem Fall die Nutzung eines Therapie-Dreirads nicht geeignet ist, eine Gewichtsreduktion herbeizuführen. Hiergegen spricht generell, dass die Nutzung eines solchen Dreirades saison- und wetterabhängig ist. Die Klägerin kann das Dreirad zumindest im Herbst und Winter eines Kalenderjahres - teilweise auch über längere Zeiträume - nicht fahren und damit einer unter Umständen vorher erreichten Gewichtsreduktion entgegenwirken. Hinzu kommt, dass die Klägerin körperlich nicht in der Lage ist, ein Therapie-Dreirad in einem Umfang einzusetzen, mit dem sich der Erfolg einer Adipositas-Behandlung dauerhaft sichern lässt. Hierzu hat der Vater der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 30. Oktober 2003 angegeben, dass die Klägerin am Ende ihres wöchentäglichen Arbeitstages regelmäßig körperlich stark beansprucht sei. Die Klägerin sei dann nicht mehr in der Lage, sich körperlich noch weiter zu verausgaben. Weiter kann die Klägerin behinderungsbedingt längere Fahrradausflüge in der näheren Umgebung ihres Wohnortes nur in Begleitung ihrer Eltern unternehmen. Demnach verbleibt der Klägerin allenfalls, an Wochenenden bei geeignetem Wetter und in Absprache mit zumindest einem Elternteil das Therapie-Dreirad zu nutzen. Dies ist aus Sicht der Kammer nicht ausreichend.
"Um eine Behinderung auszugleichen" ist das begehrte Therapie-Dreirad ebenfalls nicht erforderlich. Dieser in § 33 Abs. 1 S 1 SGB V genannte Zweck (vgl jetzt auch § 31 Abs. 1 Nr 3 SGB IX) eines von den gesetzlichen Krankenkassen zu leistenden Hilfsmittels bedeutet nicht, dass sämtliche direkten und indirekten Folgen einer Behinderung auszugleichen wären. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (ständige Rechtsprechung des BSG; zuletzt im Urteil vom 21. November 2002 - B 3 KR 8/02 R - ). Dies bedeutet: Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderungen im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu diesen Grundbedürfnissen gehören das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, die Nahrungsaufnahme und -ausscheidung, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes. Das im Fall der Klägerin in Betracht kommende Grundbedürfnis des "Erschließen eines gewissen körperlichen Freiraumes" ist dabei nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten gesondert zu verstehen. Hierzu hat das BSG in einer Entscheidung vom 8. Juni 1994 (SozR 3 - 2500 § 33 Nr 7 - Rollstuhlboy) die Bewegungsfreiheit als Grundbedürfnis bejaht, dabei aber nur auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder zu Fuß zurücklegt. Mit Urteil vom 16. September 1999 (SozR 3 - 2500 § 33 Nr 31) hat das BSG seine Rechtsprechung insoweit präzisiert, als unter diesem Grundbedürfnis die Fähigkeit zu verstehen ist, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Soweit ausnahmsweise die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind in der Rechtsprechung des BSG stets zusätzliche qualitative Momente verlangt worden. In einer Entscheidung des BSG vom 16. April 1998 (B 3 KR 9/97 R - Rollstuhl-Bike für Jugendliche - SozR 3 - 2500 § 32 Nr 27) wurde diejenige Entfernung als Maßstab genommen, die ein Jugendlicher mit dem Fahrrad zurücklegt; dort ist das Hilfsmittel aber nicht wegen dieser rein quantitativen Erweiterung sondern wegen der dadurch geförderten Integration des behinderten Klägers in seiner jugendlichen Entwicklungsphase zugesprochen worden. Das Radfahren selbst zählt hingegen nicht zu den anerkannt ausgleichspflichtigen Grundbedürfnissen (vgl Urteil des BSG vom 16. September 1999 a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Kriterien betrifft das von der Klägerin begehrte Therapie-Dreirad nicht den Ausgleich eines Grundbedürfnisses im täglichen Lebens. Nach ihren eigenen Angaben verfügt die Klägerin über einen schmerzfreien Aktionsradius von ca 200 Metern, den sie selbständig bzw bei ihren Eltern eingehakt zu Fuß zurücklegen kann. Dies ist aus Sicht der Kammer ausreichend, um im Rahmen eines kurzen Spaziergangs an die frische Luft zu kommen oder Alltagsgeschäfte zu erledigen. Bestärkt fühlt sich die Kammer insoweit wiederum von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach bereits ein Aktionsradius von ca 100 Metern ausreicht, um das angesprochene Grundbedürfnis zu befriedigen (siehe hierzu das Urteil des BSG vom 21. November 2002 - B 3 KR 8/02 R - ).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.