Sozialgericht Hildesheim
Beschl. v. 13.02.2017, Az.: S 55 AS 4029/17 ER

Anspruch von hilfebedürftigen Ausländern auf Überbrückungsleistungen

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
13.02.2017
Aktenzeichen
S 55 AS 4029/17 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 32672
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Beigeladene wird vorläufig, bis zur bestandskräftigen Entscheidung verpflichtet den Antragstellern im Zeitraum 20. Januar 2017 bis einschließlich 15. Februar 2017 Leistungen gem. § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII zu gewähren und auszuzahlen. Darüber hinaus wird der Antrag abgelehnt. Der Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu 1/5.

Gründe

I. Streitig sind laufende Grundsicherungsleistungen.

Die am 17. September 1976 geborene Antragstellerin zu 1., der am 10. August 1975 geborene Antragsteller zu 2., die am 01. April 2008 geborene Antragstellerin zu 3. und der am 19. Oktober 1999 geborene Antragsteller zu 4. sind polnische Staatsangehörige. Die Antragsteller reisten gemeinsam im September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Antragstellerin zu 3. besucht seit dem 3. September 2015 die Grundschule R ... Der Antragsteller zu 4. besucht seit dem 3. September 2015 die Haupt- und Realschule R ... Der Antragsteller zu 2. meldete zum 19. Oktober 2015 ein Gewerbe im Bereich Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, Betonstein und Terrazzohersteller, Parkettkleger, Raumausstatter, Gebäudereiniger, Bodenleger, Holz und Bautenschutzgewerbe, Kabelverleger im Hochbau (ohne Anschlussarbeiten), Einbau von genormten Baufertigteilen an. Dieses Gewerbe meldete er zum 15. Juni 2016 ab.

Am 1. November 2016 beantragten die Antragsteller erstmalig beim Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid vom 6. Dezember 2016 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern im Zeitraum November bis einschließlich Dezember 2016 Leistungen der Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Im genannten Bescheid wies der Antragsgegner darauf hin, dass eine Leistungsbewilligung ab Januar 2017 ausscheide, da sich das Aufenthaltsrecht dann allein aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergäbe.

Am 20. Dezember 2016 beantragten die Antragsteller die Weiterbewilligung der Leistungen zur Grundsicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II beim Antragsgegner. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2016 wies der Antragsgegner den Leistungsantrag ab. Mit Schriftsatz vom 4. Januar 2017, beim Antragsgegner am gleichen Tage eingegangen legten die Antragsteller Widerspruch gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 21. Dezember 2016 ein. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19. Januar 2017 zurückgewiesen. Eine Klage ist hiergegen beim erkennenden Gericht zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung nicht eingegangen.

Mit Schriftsatz vom 19. Januar 2017, beim Sozialgericht Hildesheim am 20. Januar 2017 eingegangen begehren die Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Die Antragsteller zu 3. und 4. seien in einer deutschen Schule eingeschult. Sie seien in das Schulsystem eingegliedert und bedürften zur Wahrnehmung ihrer Ausbildungsrechte weiterhin der Anwesenheit und Fürsorge ihrer Eltern. Die Antragsteller können sich daher auf einen anderen Zweck des Aufenthaltes als der Arbeitssuche berufen.

Das Gericht hat mit Beschluss vom 23. Januar 2017 den Landkreis I-Stadt als Träger der Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) beigeladen.

Die Antragsteller beantragen nach ihrem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

den Antragsgegner vorläufig bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung zu verpflichten, den Antragstellern Leistungen nach dem SGB II zu gewähren und auszuzahlen, hilfsweise den Beigeladenen vorläufig bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung zu verpflichten, den Antragstellern Leistungen nach dem SGB XII zu gewähren und auszuzahlen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Der Antragsgegner verweist auf den Leistungsausschluss im SGB II.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners lagen dem Gericht bei der Entscheidung vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf diese sowie auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf begrenzte Leistungen nach dem SGB XII gegen den Beigeladenen glaubhaft gemacht.

Gem. § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung notwendig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Erforderlich ist danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch, also ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme. Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO sind Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. Das bedeutet, dass die Beweisführung, die einem Antragsteller hinsichtlich der von ihm behaupteten entscheidungserheblichen Umstände grundsätzlich obliegt, vorerst nur einen geringeren Grad an Sicherheit vermitteln muss, als dies in einem Klageverfahren erforderlich wäre. In einem Anordnungsverfahren einstweilen zugesprochene Mittel werden in aller Regel verbraucht und können, abgesehen von Ausnahmefällen, nach einer etwaigen Aufhebung der Anordnung oder gegenteiligen Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht mehr zurückgezahlt werden. Rein faktisch - wenn auch nicht rechtlich - werden somit im Eilverfahren regelmäßig vollendete Tatsachen geschaffen; daher muss die Wahrscheinlichkeit eines Anspruchs auf die begehrte Leistung sehr groß sein, wobei gegebenenfalls allerdings auch zu berücksichtigen ist, in wessen Sphäre die verbliebenen Ungewissheiten fallen, die den Unterschied zwischen geringer und hoher Wahrscheinlichkeit ausmachen.

Soweit die Antragsteller mit diesem Verfahren Leistungen vor dem 20. Januar 2017 begehren, so ist ein Anordnungsgrund nicht gegeben. Das Eilverfahren dient nur der Behebung einer gegenwärtigen konkreten Notlage. Die Geltungsdauer einer einstweiligen Anordnung kann sich ihrem Wesen nach daher nur auf die Gegenwart und die nahe Zukunft beziehen. Eine Regelung auch für die Vergangenheit bleibt in der Regel dem Hauptsacheverfahren vorbehalten (Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschluss vom 9. Februar 2005, Az.: 2 MB 183/04). Gründe, im vorliegenden Fall hiervon abzuweichen, sind weder vorgetragen worden noch sonst erkennbar, zumal eine in der Vergangenheit liegende, aber fortdauernde Notlage eine Antragstellung auch für die Gegenwart indizieren würde.

Die Antragsteller haben zumindest seit dem 20. Januar 2017 keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II gegen den Antragsgegner. Ihr Aufenthalt ergibt sich alleine aus dem Zweck der Arbeitssuche.

Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nummer 2 b) und c) SGB II sind von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt oder die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach b) aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nummer 492/2011 des europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, die durch die Verordnung (EU) 2016/589 geändert worden ist, ableiten. Zumindest bis zum einschließlich 15. Januar 2017 kann sich der Antragsteller zu 2. auf seine nachgehende Arbeitnehmereigenschaft berufen und damit eine Ausnahme zum Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II begründen. Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 Freizügigkeitsgesetz/EU bleibt das Recht eines Unionsbürgers aus Abs. 1 während der Dauer von 6 Monaten unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung. Vorliegend hat der Antragsteller zu 2. im Zeitraum zumindest von Oktober 2015 bis einschließlich 15. Juni 2016 als Selbstständiger gearbeitet. Damit gilt der im Sinne des Gesetzes bis mindestens 15. Januar 2017 als Arbeitnehmer und genießt entsprechenden Schutz. Bis zu diesem, vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Antragstellung liegenden Zeitpunkt dürften die Antragsteller Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II haben. Da dieser Zeitraum vor Antragseingang bei Gericht liegt, waren diese Zeiträume aufgrund des oben Gesagten nicht zuzusprechen.

Nachdem 15. Januar 2017 unterliegen die Antragsteller jedoch dem Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Die Antragsteller zu 1., 2. und 4. sind zwar dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II - die Antragstellerin zu 3. würde aufgrund des Alters lediglich Sozialgeld beziehen. Ihr Aufenthaltsrecht ergibt sich jedoch ausschließlich aus dem Zwecke der Arbeitssuche. Der Antragsteller zu 4. kann sich nicht auf ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 10 Verordnung (EU) 492/2011 berufen. Danach haben die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates wohnen, ein Recht unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen des Mitgliedstaates am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilzunehmen. Es handelt sich dabei zumindest nicht um ein weiteres Aufenthaltsrecht im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nummer 2 b) SGB II (vergleiche zur Vorgängervorschrift Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11. August 2016, L 3 AS 376/16 B ER, Rn. 17 fortfolgende, zitiert nach juris). Dies ist auch vom Gesetzgeber nunmehr seit dem 29. Dezember 2016 klargestellt. Der Gesetzgeber hat die entsprechenden Aufenthaltsrechte in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nummer 2 c) SGB II ausgenommen.

Damit sind die Antragsteller von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ausgeschlossen.

Die Antragsteller haben einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII.

Hiernach haben hilfebedürftige Ausländer, die Satz 1 unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von 2 Jahren Anspruch auf eingeschränkte Hilfen, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken. Dabei ist der Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII wortgleich mit dem Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Die Antragsteller sind damit auch von Leistungen nach dem SGB XII grundsätzlich ausgeschlossen, haben jedoch Anspruch auf Überbrückungsleistungen.

Die Kammer folgt dabei nicht dem Gedankengang des Beigeladenen, dass Anspruchsvoraussetzung für Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII ein Ausreisewille ist. Hierfür spricht zunächst die Tatsache, dass der Gesetzgeber die Leistungen grundsätzlich auf einen Monat beschränkt hat und eine einmalige Leistungsgewährung innerhalb von 2 Jahren vorgesehen hat. Auch die Gesetzesbegründung, die diese Vorkehrungen zur Sicherstellung, dass nicht durch eine kurze Ausreise und dann Wiedereinreise die Wertung des Gesetzes umgangen würde (Bundestagsdrucksache 18/10211, Seite 16), vorsieht, legt nahe, dass der Gesetzgeber mit fehlendem (dauerhaften) Ausreisewillen der Leistungsberechtigten gerechnet hat. Auch die vom Gesetzgeber berücksichtigten Möglichkeiten eines Datenaustausches und Datenabgleiches im Rahmen von § 118 SGB XII sprechen dafür, dass ein Ausreisewille keine Anspruchsvoraussetzung nach Auffassung des Gesetzgebers sein sollte.

Die Antragsteller haben folglich einen Anspruch auf Leistungen gemäß § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII. Dieser umfasst grundsätzlich den Zeitraum 16. Januar bis einschließlich 15. Februar 2016 Der Anspruch auf Leistungen gemäß § 23 Absatz 3a SGB XII bleibt ebenfalls bestehen.

Die Kläger haben keinen Anspruch auf verlängerte Leistungen gemäß § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII. Hiernach werden, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, Leistungsberechtigten nach Satz 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Abs. 1 gewährt. Darüber hinaus sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, soweit im Einzelfall eine Ausreise binnen eines Monats nicht möglich oder zumutbar ist. Dabei ist nach der Gesetzesbegründung von einer Unmöglichkeit der Ausreise insbesondere dann auszugehen, wenn eine amtsärztlich festgestellte Reiseunfähigkeit vorliegt (Bundestagsdrucksache 18/10211, Seite 17).

Solche Umstände, die eine besondere Härte bzw. Reiseunfähigkeit begründen würden, liegen bei den Antragstellern nicht vor. Die Tatsache, dass die Antragsteller zu 3. und 4. in der Bundesrepublik Deutschland eingeschult sind, begründet eine solche besondere Härte nicht. Dies entspricht schon nicht dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers. Hätte der Gesetzgeber eine solche Tatsache zur Begründung einer besonderen Härte ausreichen lassen, so hätte er nicht solche Personen explizit vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Die Kammer verkennt nicht, dass ein Schulwechsel mit besonderen Herausforderungen einhergeht. Es ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass die Antragsteller zu 3. und 4. lediglich anderthalb Jahre die Schule in der Bundesrepublik Deutschland besucht haben. Eine unzumutbare Umstellung stellt ein neuerlicher Schulwechsel nicht dar. Insbesondere begründet ein Schulwechsel keine Reiseunfähigkeit.

Auch die Tatsache, dass der Antragsteller zu 2. derzeit nach einer anderen Beschäftigung als Fliesenleger oder Raumausstatter in der Umgebung suche, begründet keine besondere Härte im Sinne der genannten Vorschrift. Hierbei handelt es sich um den schlichten Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche. Dieser ist gerade sowohl im SGB II als auch im SGB XII explizit bei den Leistungsausschlüssen berücksichtigt.

Auch die Teilnahme an Integrationskursen der Antragsteller zu 1. und 2. begründet keine besondere Härte im Sinne der genannten Vorschrift. Aus der Gesetzesbegründung geht hervor, dass die Härtefallregelung nicht zu einer dauerhaften Überbrückung des Fünfjahreszeitraumes, nach dem Leistungen sowohl nach dem SGB II als auch nach dem SGB XII gewährt werden würden, führen soll. Es soll sich nach dem Willen des Gesetzgebers um eine vorübergehende Überbrückung bis zur Ausreisefähigkeit des Ausländers handeln. Auch eine Überbrückung für die Dauer eines Integrationskurses wäre mit dem Gesetz nicht vereinbar. Die Überbrückung soll im Idealfall die Rückreise ins Heimatland ermöglichen und nicht einen - eventuell später realisierbaren - Daueraufenthalt ohne Mittel zur Lebensführung ermöglichen.

Weitere Gründe, die eine besondere Härte im Sinne des Gesetzes begründen würden, werden weder vorgetragen noch sind sie nach Aktenlage ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.