Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 22.02.2016, Az.: 1 Ws 67/16
Anschlussberechtigung als Nebenkläger bei anderen nahestehenden Personen als den in § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO genannten; Ausweitung der Verletzungseigenschaft im Klageerzwingungsverfahren über die in § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO genannten Personen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 22.02.2016
- Aktenzeichen
- 1 Ws 67/16
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 20362
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2016:0222.1WS67.16.0A
Rechtsgrundlagen
- StPO § 172 Abs. 1 S. 1
- StPO § 395 Abs. 2 Nr. 1
- StGB § 222
Fundstellen
- NStZ-RR 2016, 285
- NZV 2016, 6
- VRS 130, 113 - 115
Amtlicher Leitsatz
1. Andere dem Getöteten nahestehende Personen, als die in § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO genannten Verwandten, wie etwa Großeltern, Verlobte, Nichten oder Neffen und auch Pflegeeltern bzw. Pflegekinder oder auf Dauer angelegte nichteheliche Lebensgemeinschaftspartner, sind nicht Verletzte und damit nicht antragsbefugt im Sinne von § 172 Abs. 1 S. 1 StPO.
2. Mangels Verletzteneigenschaft hinsichtlich eines Offizialdelikts ist das Klageerzwingungsverfahren eines tateinheitlich mitverwirklichten Privatklagedeliktes, hinsichtlich derer der Antragsteller Verletzter ist, unzulässig.
Tenor:
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung wird als unzulässig verworfen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird als unzulässig verworfen.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
Gründe
I.
Der Anzeigeerstatter beantragt, gegen die Beschuldigte Anklage wegen fahrlässiger Tötung des damals fast 13 Jahre alten Kindes E. T. I. und wegen der daraus bei ihm resultierenden posttraumatischen Belastungsstörung wegen fahrlässiger Körperverletzung nach §§ 222, 229 StGB zu erheben.
Der Antragsteller wirft der Beschuldigten vor, am 3. Juli 2015 in H. im Bremischen durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht zu haben, indem sie gegen 13.30 Uhr mit ihrem Pkw VW Polo (amtl. Kennzeichen ...) in Richtung L. Ortsmitte an einem auf der Kreisstraße 48 an einer dortigen Bushaltestelle haltenden, zur Schülerbeförderung eingesetzten Linienbus mit einer Geschwindigkeit von etwa 35 bis 40 km/h (bei einer durch Beschilderung erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h) vorbeifuhr, obwohl etwa 150 Meter vor der Bushaltestelle an dem aus Sicht der Beschuldigten rechten Fahrbahnrand das Gefahrenzeichen 136 "Kinder" aufgestellt war, und dadurch den nach dem Verlassen des Busses auf die Straße tretenden E. T. I. mit ihrem Fahrzeug erfasste, wodurch dieser tödliche Verletzungen erlitt. Der Antragsteller, der mit der Mutter des getöteten Kindes seit dessen sechsten Lebensmonat in partnerschaftlicher Beziehung zusammenlebt und für den der Getötete wie ein "Ziehsohn" war, wollte das Kind am Unfalltag von der Bushaltestelle abholen und war Zeuge des Unfallgeschehens. Da er nichts tun konnte, um das Leben des von ihm geliebten Kindes zu retten, fühlte er sich zunehmend hilflos und verzweifelt. Er leidet seinen Angaben zufolge unter Nachhallerinnerungen und "flashbacks", mag nicht an dem Ort des Ereignisses vorbeigehen und hat ein andauerndes Gefühl von Betäubtheit und leidet an Teilnahmelosigkeit gegenüber der Umgebung und Menschen. Aufgrund dessen suchte er erstmals am 13. August 2015 einen Psychotherapeuten auf, der eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostizierte.
Die Staatsanwaltschaft Stade führt gegen die Beschuldigte ein gesondertes Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung (Az.: 121 Js 25236/15). Dieses hatte die Staatsanwaltschaft zunächst mit Verfügung vom 14. September 2015 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Nachdem die Mutter des getöteten Kindes, Frau J. I., hiergegen am 5. Oktober 2015 Beschwerde eingelegt hatte, hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auf Weisung des Generalstaatsanwalts vom 6. November 2015 wieder aufgenommen.
Der Antragsteller zeigte mit anwaltlichem Schreiben vom 20. Oktober 2015 unter Hinweis auf das laufende Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigte wegen fahrlässiger Tötung an, dass er aufgrund des Unfallgeschehens tief traumatisiert sei und deswegen an der Gesundheit beschädigt sei und stellte Strafantrag wegen aller in Betracht kommender Delikte.
Die Staatsanwaltschaft Stade hat das hiesige - gesondert geführte - Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 3. Dezember 2015 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers hat der Generalstaatsanwalt mit Bescheid vom 4. Januar 2016 als unbegründet zurückgewiesen. Am 3. Februar 2016 hat der Anzeigeerstatter Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt und beantragt, ihm für dieses Verfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Verfahrensbevollmächtigten zu gewähren und mitgeteilt, dass die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Anlagen nachgereicht werde.
II.
Der form- und fristgerechte Antrag des Antragstellers auf gerichtliche Entscheidung (§ 172 Abs. 2 und 3 StPO) ist unzulässig, da es an einer Straftat fehlt, hinsichtlich derer der Antragsteller das Klageerzwingungsverfahren betreiben darf.
1.
a. Bezüglich der der Beschuldigten vorgeworfenen fahrlässigen Tötung zum Nachteil des Kindes E. T. I. fehlt es dem Antragsteller an der notwendigen Antragsbefugnis, weil er nicht Verletzter der der Beschuldigten zur Last gelegten fahrlässigen Tötung zum Nachteil des Kindes ist.
Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO kann das Klageerzwingungsverfahren nur von dem durch die behauptete Straftat Verletzten betrieben werden. Verletzter ist, wer durch die Straftat - bei Unterstellung ihrer tatsächlichen Begehung - unmittelbar in seinen Rechten, Rechtsgütern oder anerkannten Interessen beeinträchtigt ist (vgl. Senatsbeschluss vom 1. Februar 2008 - 1 Ws 32/08 - NJW 2008, 1463 [OLG Celle 01.02.2008 - 1 Ws 32/08]; ebenso KK-Moldenhauer, StPO, 7. Aufl., § 172 Rndr. 19; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 172 Rndr. 9; jew. m. w. N.). Dabei ist der Begriff des Verletzten zwar weit auszulegen, weil der Schutz des Legalitätsprinzips umfassend sein soll; andererseits besteht aber Einigkeit darüber, dass eine nur irgendwie geartete Betroffenheit nicht ausreichen kann, um eine vom Gesetz nicht gewollte Popularklage zu verhindern (vgl. Senat a. a. O.; KK-Moldenhauer a. a. O., Rndr. 18; Meyer-Goßner a. a. O., Rndr. 10; LR-Graalmann-Scheerer, StPO, 26. Aufl., § 172 Rndr. 50; jew. m. w. N.). Entscheidend für die Verletzteneigenschaft ist, ob der von der behaupteten Straftat betroffene Antragsteller wegen einer Verletzung einer rechtlich anerkannten Position ein spezielles Interesse an der Ahndung des Normverstoßes hat (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1992, 2370 [OLG Düsseldorf 23.04.1992 - 1 Ws 244/92][OLG Düsseldorf 23.04.1992 - 1 Ws 244/92]; LR-Graalmann-Scheerer, a. a. O., Rndr. 53). Im hier betroffenen Bereich der Straftaten gegen das Leben (§§ 211 bis 222 StGB) hat der Gesetzgeber mit der Schaffung der Nebenklagebefugnis in § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO zum Ausdruck gebracht, für welche Angehörigen des Opfers er ein spezielles Interesse an der Ahndung des Normverstoßes anerkennt; diese sind daher als Verletzte im Sinne des § 172 StPO anzusehen (vgl. OLG Celle MDR 1959, 60 [OLG Celle 12.08.1958 - 2 Ws 158/58]; OLG Hamm NStZ 1986, 327 [OLG Hamm 06.02.1986 - 6 Ws 9/86]; LR-Graalmann-Scheerer, a. a. O., Rndr. 82; KK- Moldenhauer, a. a. O. Rndr. 21). Nach der Wertung des Gesetzgebers gehören nur diejenigen zum Kreis der Nebenklageberechtigten, die zum engsten Familienkreis zählen, wozu beispielsweise die Großeltern eines Opfers nicht mehr gehören (vgl. BGH NJW 1967, 454 [BGH 20.12.1966 - 1 StR 477/66][BGH 20.12.1966 - 1 StR 477/66]); der Gesetzgeber erkennt also bei ihnen im Falle der Tötung eines Enkelkindes ein spezielles Strafverfolgungsinteresse - unabhängig von ihrer persönlichen Betroffenheit - nicht an, so dass sie auch nicht als Verletzte im Sinne des § 172 StPO anzusehen sind.
Soweit zum Teil die Ansicht vertreten wird, dass bei Straftaten gegen das Leben über die Nebenklageberechtigten hinaus auch andere, dem Getöteten nahe stehende Personen antragsbefugt sein können, "wenn eine enge Lebensgemeinschaft, insbesondere, aber nicht notwendig, eine häusliche Gemeinschaft dergestalt bestanden hat, dass die betroffene Person infolge ihres persönlichen Verhältnisses zum Getöteten in ihrem Leben selbst schwer betroffen ist und deshalb ein persönliches Leid empfindet", wozu unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles die in § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO nicht genannten Verwandten, wie etwa die Großeltern, Verlobte, Nichten oder Neffen und auch Pflegeeltern bzw. Pflegekinder oder auf Dauer angelegte nichteheliche Lebensgemeinschaftspartner gehören sollen (so LR-Graalmann-Scheerer, a. a. O. Rndr. 83; ähnlich KMR-Plöd, StPO, Stand November 2014, § 172 Rndr. 24), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Wollte man den Betriff des Verletzten so weit ausdehnen, so würde jeder, der aufgrund persönlicher Verbundenheit aufgrund eines Tötungsdeliktes emotional betroffen ist, unter den Verletztenbegriff fallen können. Dann würde aber die Grenze zum unzulässigen Popularklageerzwingungsverfahren überschritten werden (KG JR 1967, 392; so auch BGH, Beschluss v. 14. Februar 2012 - 3 StR 7/12 -, juris, zur fehlenden Nebenklageberechtigung des Stiefvaters eines Getöteten). Auch würde die Einordnung, wann eine "enge Lebensgemeinschaft" bzw. eine "Betroffenheit infolge des persönlichen Verhältnisses" einen Grad erreicht hat, der dem eines Angehörigen aus dem "engsten Familienkreis" gleichsteht, im Einzelfall große Schwierigkeiten bereiten. Der Senat hält daher an seiner Auffassung fest, dass der getöteten Person Nahestehende, die nicht zu den in § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO genannten Personenkreis gehören, nicht Verletzte im Sinne von § 172 StPO sind.
b. Im Übrigen fehlt es bezüglich des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung zum Nachteil des Kindes E. T. I. auch an einer verfahrenseinstellenden Entscheidung der Staatsanwaltschaft gemäß §§ 170 Abs. 2, 171 StPO und an einem ablehnenden Bescheid des Generalstaatsanwalts gemäß § 172 Abs. 2 S. 1 StPO; vielmehr dauern die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die Beschuldigte insoweit an.
2.
Steht dem Antragsteller hinsichtlich der Beschuldigung der fahrlässigen Tötung ein Klageerzwingungsrecht nicht zu, so ist sein Antrag auf gerichtliche Entscheidung auch hinsichtlich der der Beschuldigten vorgeworfenen fahrlässigen Körperverletzung gem. § 229 StGB unzulässig, wenngleich er insoweit allerdings Verletzter im Sinne von § 172 Abs. 1 S. 1 StPO ist. Denn insoweit handelt es sich um ein Vergehen, dass von dem Antragsteller im Wege der Privatklage verfolgt werden könnte (§§ 172 Abs. 2 S. 3, 374 Abs. 1 Nr. 4 StPO).
Zwar handelt es sich vorliegend nicht um ein Verfahren, welches "ausschließlich" ein Privatklagedelikt zum Gegenstand hat, da die fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB zum Nachteil des Kindes E. T. I. und die fahrlässige Körperverletzung gem. § 229 StGB zum Nachteil des Antragstellers sowohl materiell-rechtlich als auch prozessual eine Tat darstellen (§ 52 StGB, § 264 StPO). Der Klageerzwingungsantrag umfasst daher die gesamte Tat, da Gegenstand des Antragsvorbringens neben dem angezeigten Privatklagedelikt auch das Offizialdelikt ist, so dass die Ermittlungen gegen die Beschuldigten wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Körperverletzung zum Nachteil des Antragstellers grundsätzlich gemeinsam mit dem bei der Staatsanwaltschaft Stade geführten Ermittlungsverfahren mit dem Aktenzeichen 121 Js 25236/15 zu führen wären. Allerdings setzt § 172 StPO für die Antragsberechtigung die Verletzteneigenschaft voraus, so dass auch im Falle des § 172 Abs. 2 S. 3 StPO nur solche Delikte miteinander vergleichbar sind, bei denen sämtlich die Verletzteneigenschaft des Antragstellers gegeben ist (OLG Celle, Beschluss v. 12. August 1958 - 2 Ws 158/58 -, Nds. Rpflg. 1959, 95; i. E. so auch OLG Stuttgart, Beschluss v. 20. Dezember 1996 - 1 Ws 189/96 -, juris). Da der Antragsteller hinsichtlich des Offizialdelikts der fahrlässigen Tötung nicht zu den Verletzten gehört, muss dieses Delikt für das von ihm betriebene Klageerzwingungsverfahren außer Betracht bleiben.
III.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts war als unzulässig zu verwerfen, weil der Antragsteller bis heute nicht und damit nicht innerhalb der Frist des § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO die erforderliche Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt hat (§§ 172 Abs. 3 S. 2 StPO, 117 Abs. 2 und 4 ZPO i. V. m. der Prozesskostenhilfevordruckverordnung; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 172 Rndr. 21a m. w. N.).
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wäre im Übrigen auch unbegründet gewesen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den oben genannten Gründen keine Aussicht auf Erfolg bietet.