Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 29.01.1999, Az.: 6 A 137/97

Gewährung von Eingliederungshilfe für die stationäre Betreuung in einer Behinderteneinrichtung; Rechtsschutzbedürfnis für im Hinblick auf (auch) zukünftige Kostenübernahme bei drohender Umstellung auf stationäre Hilfe zur Pflege; Abgrenzung zu Leistungen der Pflegeversicherung; Unerheblichkeit der weiteren Abhängigkeit von der Pflege; Förderungsfähigkeit im Hinblick auf Steigerung der Selbsthilfekompetenzen; Kein Nachrang der Sozialhilfe im Verhältnis zur Pflegeversicherung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
29.01.1999
Aktenzeichen
6 A 137/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 19915
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:1999:0129.6A137.97.0A

Verfahrensgegenstand

Eingliederungshilfe

Prozessführer

Herr ...

Prozessgegner

Landkreis Celle, Speicherstraße 2, 29221 Celle.

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Abweichend von dem Grundsatz, dass der Anspruch auf Leistungen in der Sozialhilfe nur im zeitlichen Umfang bis zur letzten behördlichen Entscheidung in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden kann, besteht hinsichtlich einer Vorab-Entscheidung über die (auch) zukünftige Gewährung von Eingliederungshilfe ein Rechtsschutzbedürfnis des Betroffenen, wenn ihm im Falle des Unterliegens in dem Verfahren eine Verlegung aus der jetzigen Einrichtung droht.

  2. 2.

    Der Anspruch eines geistig wesentlich Behinderten auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für die Betreuung in einer Behinderteneinrichtung besteht auch dann, wenn durch sie der Behinderte von Pflege nicht unabhängig wird; maßgeblich ist, dass der Hilfesuchende eingliederungsfähig in dem Sinne ist, dass er durch konkrete Hilfsmaßnahmen förderbar ist, und die Behinderteneinrichtung entsprechende geeignete Maßnahmen anbietet.

  3. 3.

    Der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe gilt nicht im Verhältnis von Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe.

In dem Verwaltungsrechtsstreit
hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 6. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 29. Januar 1999
durch
den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Stelter,
den Richter am Verwaltungsgericht Muhsmann und
den Richter am Verwaltungsgericht Pump sowie
die ehrenamtliche Richterin Studtmann und
den ehrenamtlichen Richter Waldow
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 29. November 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 22. September 1997 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten in der stationären Betreuung in der Behinderteneinrichtung des Trägers Lobetal e. V. Celle zu gewähren.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten, ihm Eingliederungshilfe zu gewähren.

2

Der am 27. Februar 1962 geborene Kläger leidet an einer schweren Intelligenzminderung aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens und an spastischer Lähmung. Er wird seit dem 3. Mai 1974 in einer Einrichtung des Trägers "..." stationär betreut. Der Träger betreibt neben einer Einrichtung für Behindertenhilfe zwei Altenpflegeheime auf einem Gelände.

3

Mit Grundanerkenntnis vom 10. Juli 1974 erkannte das Landessozialamt Niedersachsen als überörtlicher Sozialhilfeträger seine sachliche Zuständigkeit für die Gewährung von Hilfe zur Pflege an den Kläger an. Der Beklagte übernahm einen Teil der Kosten der Unterbringung des Klägers aus Sozialhilfemitteln.

4

Im Zuge der Einführung des sozialen Pflegeversicherungsrechts forderte der Beklagte den Einrichtungsträger zur Prüfung der Frage, ob die Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers weiterhin gegeben sei, auf, einen Entwicklungsbericht über den Kläger vorzulegen und zu der Frage Stellung zu nehmen, welche Art der Hilfe dem Kläger zu gewähren sei.

5

Mit Anschreiben vom 11. Oktober 1995 legte der Einrichtungsträger den Entwicklungsbericht vom 29. September 1995 vor. Er führte aus, dass der Kläger dem Personenkreis der sonstigen Eingliederungshilfe zuzuordnen sei. Er werde vormittags im Arbeits- und Beschäftigungsbereich der Einrichtung mit Sortier- und leichten Industriearbeiten beschäftigt. Er arbeite besonders ausdauernd und konzentriert. Die Dauer der täglichen Arbeitszeit habe im Berichtszeitraum ständig erhöht werden können. Auch die Qualität seiner Arbeitsleistung habe sich verbessert. Der Kläger sei im Bereich der nichtsprachlichen Ausdrucksfähigkeit, im Arbeitsbereich und im Sozialverhalten weiterhin förderbar.

6

Auf den Antrag des Beklagten, ein Grundanerkenntnis für die Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der stationären Betreuung des Klägers abzugeben, lehnte das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben als Rechtsnachfolger des Landessozialamtes mit Schreiben vom 30. November 1995 das Begehren mit der Begründung ab, es sei nicht zu erkennen, dass nunmehr nicht mehr Maßnahmen der Hilfe zur Pflege, sondern Maßnahmen der Eingliederungshilfe bei dem Kläger angezeigt seien.

7

Im Zuge des Inkrafttretens der zweiten Stufe des Pflegeversicherungsgesetzes - SGB XI - forderte der Beklagte die Betreuerin des Klägers auf, bei der Pflegekasse einen Antrag auf Pflegeleistungen zu stellen. Die Pflegekasse bei der ... stellte fest, dass bei dem Kläger mindestens die Voraussetzungen der Pflegestufe I vorlägen, und gewährte dem Kläger seit 1. Juli 1996 zur Abgeltung der pflegebedingten Aufwendungen 10 v. H. des zwischen dem Sozialhilfeträger und dem Einrichtungsträger vereinbarten Heimentgeltes, höchstens 500,00 DM monatlich.

8

Der Amtsarzt des Beklagten stellte auf Veranlassung des Sozialamtes des Beklagten mit Gutachten vom 20. Juni 1996 fest, dass bei dem Kläger die Eingliederungshilfe eindeutig im Vordergrund stehe und daneben unzweifelhaft behinderungsbedingt Hilfe zur Pflege an der Person notwendig sei.

9

Der Kläger stellte mit Schreiben vom 1. Oktober 1996 bei dem Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe. Zur Begründung führte er Folgendes aus: Die Einrichtung, in der er stationär betreut werde, habe sich erst im Laufe der Jahre, namentlich nach einer Umstrukturierung Anfang der 90er Jahre, zu einer Einrichtung der Behindertenhilfe entwickelt. In der Vergangenheit sei dem Umstand, ob der Kostenträger Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege im Bewilligungsbescheid zum Ausdruck gebracht habe, keine besondere Beachtung geschenkt worden, weil hinsichtlich der Höhe des Heimentgeltes zwischen den beiden Arten der Hilfe ein Unterschied nicht gemacht worden sei. Etwas anderes gelte seit Inkrafttreten der zweiten Stufe des Pflegeversicherungsgesetzes. Bei der Gewährung der Hilfe zur Pflege erhalte er höhere Leistungen der Pflegeversicherung als im Falle der Gewährung von Eingliederungshilfe, so dass auch der Sozialhilfeträger kostenmäßig entlastet werde. Ihm drohe daher zukünftig die Verlegung in eine anerkannte Pflegeeinrichtung, weil die Einrichtung, die ihn gegenwärtig betreue, weder personell noch sachlich in der Lage sei, die vom Gesetz geforderten Pflegeleistungen zu erbringen.

10

Mit Bescheid vom 29. November 1996 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Eingliederungshilfe ab. Zur Begründung führte er aus: Die Voraussetzungen der Eingliederungshilfe seien im Falle des Klägers nicht erfüllt. Die Aufgabe der Eingliederungshilfe, den Kläger soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen, könne bei ihm nicht erfüllt werden. Der Kläger benötige vielmehr weiterhin Pflegemaßnahmen, welche ein Hinwirken auf mehr Selbständigkeit nicht ausschlössen.

11

Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 30. Dezember 1996 Widerspruch, den er wie folgt begründete: Er habe in der Vergangenheit Eingliederungshilfe erhalten und benötige diese auch zukünftig, wie sich aus dem Gutachten des Amtsarztes vom 20. Juni 1996 und den Stellungnahmen seiner Einrichtung, namentlich dem Entwicklungsbericht vom 29. September 1995, ergebe. In dem zuletzt genannten Bericht werde auch ausgeführt, dass er weiterhin in zahlreichen Bereichen förderbar sei.

12

Den Widerspruch des Klägers wies das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 1997 zurück. Zur Begründung führte es aus: Der Widerspruch sei unzulässig, da der Kläger nicht beschwert sei. Der Kläger befinde sich weiterhin in der Einrichtung des Trägers ... und erhalte die gleiche Hilfe von der Einrichtung wie bisher.

13

Gegen den am 23. September 1997 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 21. Oktober 1997 Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt: Nach Ablauf einer am 31. Dezember 1997 endenden Übergangsfrist und nach Beendigung des gerichtlichen Verfahrens, dessen Ausgang der Einrichtungsträger abwarte, drohe ihm die Verlegung in ein Pflegeheim, weil die Einrichtung, in der er zur Zeit stationär betreut werde, nicht als Pflegeeinrichtung anerkannt werde. Der Abschluss eines Vertrages mit der Pflegekasse sei gescheitert, weil im Behindertenbereich keine reine Pflegeabteilung vorhanden sei und die Bewohner der Einrichtung nicht überwiegend durch Pflegefachkräfte, nämlich Krankenpfleger, -Schwestern bzw. Altenpflegekräfte, gepflegt würden und auch die Leitung des Heimes nicht in den Händen einer Pflegefachkraft liege. Ausweislich der beigefügten psychologischen Stellungnahme des Dipl. Psychologen Lemli vom 26. November 1997 habe er im lebenspraktischen Bereich seine Selbsthilfekompetenzen deutlich gesteigert und auch im Umgang mit Kommunikationsmedien große Entwicklungsfortschritte erzielt. Weiterer Förderungsschwerpunkt seien Hilfen zur Gestaltung der sozialen Beziehungen zu Mitbewohnern und die Steigerung seiner Mobilität. Hierauf bezogene Förderungsmaßnahmen erhalte er nur in der Behinderteneinrichtung, in der er zur Zeit betreut werde.

14

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 29. November 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 22. September 1997 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Betreuungskosten in der Behinderteneinrichtung des Trägers ... zu gewähren.

15

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

16

Er bezieht sich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden. Er hat auf Nachfrage des Berichterstatters mitgeteilt, dass der Einrichtungsträger auf dem gleichen Gelände eine Einrichtung der vollstationären Pflege betreibe, in die der Kläger wechseln könne.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

18

Die Klage ist zulässig.

19

Die Zulässigkeit der Verpflichtungsklage auf Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe scheitert entgegen der Ansicht der Widerspruchsbehörde nicht daran, dass der Kläger bisher die Leistungen erhalten hat, um deren Bewilligung er hier streitet.

20

Zwar ist es richtig, dass der Kläger seit Stellung des Antrages auf Gewährung von Eingliederungshilfe mit Schreiben vom 1. Oktober 1996 - über den Tag des Erlasses des Widerspruchsbescheides hinaus - bis zum heutigen Tag in der Behinderteneinrichtung des Trägers Lobetalarbeit e.V. Celle stationär betreut wird, in der er bereits vor Antragstellung untergebracht war. Die Widerspruchsbehörde weist in dem Widerspruchsbescheid weiterhin zutreffend darauf hin, dass sich Art und Umfang der Hilfeleistung nicht geändert haben und der Sozialhilfeträger die Kosten der Unterbringung des Klägers nach wie vor trägt. Hieraus lässt sich aber nicht ableiten, dass das Rechtsschutzbedürfnis für die vorliegende Klage nicht gegeben ist.

21

Allerdings gilt der Grundsatz, dass der Anspruch auf Leistungen in der Sozialhilfe nur im zeitlichen Umfang bis zur letzten behördlichen Entscheidung in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden kann (BVerwG, Urteil vom 30.04.1992 - 5 C 1.88 -, FEVS 43, 19). Dieser Grundsatz unterliegt jedoch zahlreichen Ausnahmen.

22

Der nächstliegende Ausnahmefall ist derjenige, in dem der Sozialhilfeträger in seinem Bescheid den Sozialhilfefall ausdrücklich für einen längeren Zeitraum regelt, obwohl Leistungen der Sozialhilfe keine rentengleichen Dauerleistungen, sondern Hilfen in bestimmten Notsituationen sind. Hat der Sozialhilfeträger Hilfeleistungen für einen in die Zukunft hineinreichenden, über den Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung hinausgehenden Zeitraum abgelehnt, so erfasst die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme ihren Regelungszeitraum (BVerwG, Urteil vom 14.07.1998 - 5 C 2.97 - FEVS 48, 535).

23

Daneben hat das Bundesverwaltungsgericht die Zulässigkeit einer Verpflichtungsklage auch dann anerkannt, wenn der Sozialhilfeträger eine Kürzungsentscheidung dem Grunde nach ohne zeitliche Begrenzung der Geltungskraft getroffen hat. In einem solchen Fall der Vorabentscheidung einer grundlegenden Frage des Sozialrechtsverhältnisses soll dem betroffenen Hilfesuchenden die Verpflichtungsklage auf Nachbewilligung von ungekürzten Leistungen auch über den Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides hinaus eröffnet sein (BVerwG, Urteil vom 14.07.1998, a.a.O.). Das Bundesverwaltungsgericht hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass es verfahrensökonomischem Vorgehen entspreche, wenn der Träger der Sozialhilfe bei invariablem Sachverhalt und Streit der Beteiligten über eine einzelne Frage der Sozialhilfe lediglich diese Frage in einem Bescheid entscheide, um eine gerichtliche Beilegung des Streites für die Zukunft zu ermöglichen (BVerwG, Urteil vom 29.09.1971 - 5 C 110.70 - FEVS 19, 81).

24

Mit den beiden zuletzt genannten Fallkonstellationen ist der vorliegende Sachverhalt vergleichbar. Wie aus dem Akteninhalt ersichtlich, geht es nicht nur dem Kläger, sondern auch dem Beklagten um die grundlegende Klärung der Frage, ob dem Kläger Eingliederungshilfe zu gewähren ist. Der Beklagte hat sich deshalb bereits geraume Zeit vor dem Antrag des Klägers vom 1. Oktober 1996 darum bemüht, ein Grundanerkenntnis des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe zur Gewährung von Eingliederungshilfe an den Kläger in Form der Übernahme der Betreuungskosten in der Behinderteneinrichtung des Trägers Lobetalarbeit e.V. Celle zu erhalten. Dieses Begehren hat das Nds. Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben mit Schreiben vom 30. November 1995 mit der Begründung abgelehnt, es sei nicht zu erkennen, dass nunmehr nicht mehr Maßnahmen der Hilfe der Pflege, sondern Maßnahmen der Eingliederungshilfe bei dem Kläger angezeigt seien.

25

Ausgangspunkt des Streits ist die Neuordnung des Pflegerechts mit Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes - PflegeVG - vom 26. Mai 1994 (BGBl. I, Seite 1014), dass das Sozialgesetzbuch um das Elfte Buch - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) ergänzte, geändert durch das erste SGB XI - Änderungsgesetz - 1. SGB XI - ÄndG - vom 14.06.1996 (BGBl. I, Seite 830). Hiernach erhalten Pflegebedürftige, die in einer Pflegeeinrichtung (Pflegeheim) im Sinne des § 71 Abs. 2 SGB XI stationär betreut werden, gemäß § 43 SGB XI (bis 31.12.1997 i.V.m. Übergangsregelung des Art. 49 a PflegeVG) je nach Pflegestufe monatliche Pflegeleistungen im Wert zwischen 2.000,00 DM und 2.800,00 DM, in Härtefällen bis zu 3.300,00 DM. Daneben sollen pflegebedürftige Behinderte in Pflegeeinrichtungen, bei denen zugleich ein Bedarf an Eingliederungsmaßnahmen besteht, bei Vorliegen der übrigen sozialhilferechtlichen Voraussetzungen - neben den (vollen) pflegeversicherungsrechtlichen Leistungen - Anspruch auf Eingliederungshilfe für Behinderte nach dem Bundessozialhilfegesetz haben (Positionspapier des Bundesministers für Gesundheit vom 04.06.1997 zur Abgrenzung der Leistungen der Eingliederungshilfe für Behinderte nach dem Bundessozialhilfegesetz von den Leistungen der Pflegeversicherung, abgedruckt in Rechtsdienst der Lebenshilfe 1997, Seite 93).

26

Demgegenüber erhalten pflegebedürftige Behinderte, die in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe im Sinne des § 71 Abs. 4 SGB XI untergebracht sind, keine Leistungen nach § 43 SGB XI, weil es sich bei den genannten Einrichtungen nach § 71 Abs. 4 SGB XI nicht um Pflegeeinrichtungen im Sinne des Absatzes 2 handelt. Für diesen Personenkreis übernimmt die Pflegekasse zur Abgeltung der in § 43 Abs. 2 SGB XI genannten Aufwendungen 10 v. H. des nach § 93 Abs. 2 BSHG vereinbarten Heimentgelts, höchstens jedoch 500,00 DM monatlich (§ 43 a SGB XI). Wegen dieser erheblichen finanziellen Auswirkungen für den überörtlichen Sozialhilfeträger, der bei einer Unterbringung des Hilfesuchenden in einer Pflegeeinrichtung im Sinne des § 71 Abs. 2 SGB XI Leistungen der Pflegekasse nach § 43 SGB XI bis maximal 3.300,00 DM monatlich erwarten kann, und bei einer Betreuung des Hilfesuchenden in einer Einrichtung nach § 71 Abs. 4 SGB XI lediglich die Pauschalleistung von höchstens 500,00 DM nach § 43 a SGB XI erhält, bestehen konkrete Bestrebungen, bestehende Einrichtungen der Behindertenhilfe in Pflegeeinrichtungen umzustrukturieren oder pflegebedürftige Behinderte aus einer Behinderteneinrichtung in eine Pflegeeinrichtung zu verlegen (vgl. die Veröffentlichung in: Rechtsdienst der Lebenshilfe 1998, 63 zur Schaffung von Pflegeplätzen in Einrichtungen der Behindertenhilfe: Entwicklung in Niedersachsen setzt neue negative Akzente; Entschließung der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu der Umwidmung von vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe in Pflegeeinrichtungen - Drs. 13/9528 -).

27

Vor diesem Hintergrund ist ein Rechtsschutzbedürfnis des Klägers, im Wege der Verpflichtungsklage eine Vorab-Entscheidung darüber zu erhalten, ob ihm (auch zukünftig) Eingliederungshilfe zu gewähren ist, zu bejahen. Dem Kläger droht im Falle des Unterliegens in diesem Verfahren eine Verlegung aus der jetzigen Einrichtung in ein Pflegeheim desselben Trägers auf dem gleichen Gelände. Eine solche Vorgehensweise hat der Beklagte auf die gezielte Frage des Berichterstatters im gerichtlichen Verfahren in seinen Schriftsätzen vom 9. April und 11. Mai 1998 angedeutet. Hierdurch werden rechtliche Interessen des Klägers berührt, wie noch weiter unten auszuführen sein wird. Es ist deshalb zulässig, bereits jetzt die oben skizzierte Frage generell klären zu lassen (vgl. zur Zulässigkeit einer Klage gegen einen "Umetikettierungsbescheid", mit dem die bisher gewährte stationäre Eingliederungshilfe auf stationäre Hilfe zur Pflege umgestellt wurde: Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26.01.1998 - 4 O 530/98 -, - FEVS 48, 460).

28

Die Klage ist auch begründet.

29

Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß §§ 39, 40 BSHG in Form der Übernahme der Kosten seiner stationären Betreuung in der Behinderteneinrichtung des Trägers Lobetalarbeit e. V. Celle.

30

Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG ist Personen, die nicht nur vorübergehend geistig wesentlich behindert sind, Eingliederungshilfe zu gewähren. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört vor allem, dem Behinderten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihm die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder ihn soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen (§ 39 Abs. 3 BSHG). Nach diesen gesetzlichen Vorschriften hat der Kläger Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten seiner stationären Unterbringung.

31

Der Kläger ist geistig wesentlich behindert und gehört deshalb zum Personenkreis, dem Eingliederungshilfe zu gewähren ist. Ausweislich des Kurzgutachtens des Amtsarztes Dr. Büngener vom 20. Juni 1996 leidet der Kläger an einer schweren Mehrfachbehinderung bei frühkindlichem Hirnschaden mit Intelligenzminderung und spastischer Lähmung, die eine Rollstuhlbedürftigkeit bedingt. Der Kläger ist danach als geistig wesentlich Behinderter im Sinne des § 2 der Verordnung nach § 47 BSHG anzusehen, weil bei ihm infolge einer Schwäche seiner geistigen Kräfte die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist.

32

Die Betreuung in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe ist im Falle des Klägers die geeignete Maßnahme, die Aufgabe der Eingliederungshilfe zu erfüllen. Entgegen der Ansicht des Beklagten in seinem Bescheid vom 29. November 1996 kann im Falle des Klägers die Aufgabe der Eingliederungshilfe, ihn soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen, erfüllt werden. Durch die Worte "soweit wie möglich" ist deutlich gemacht, dass Eingliederungshilfe auch dann in Betracht kommt, wenn durch sie der Behinderte von Pflege nicht unabhängig wird. Das Verhältnis zwischen Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege ist nicht im Sinne eines Entweder-Oder zu verstehen, sondern im Sinne eines Nebeneinanders (LPK-BSHG, 5. Aufl., § 39 Anm. 31). Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse kommt es im Einzelfall darauf an, ob die konkrete Hilfsmaßnahme nach ihrem Charakter in einer vorrangigen (oder sogar ausschließlichen) Beziehung zu dem Zweck steht, der mit der einen oder anderen Hilfeart verfolgt wird (BVerwG, Urteil vom 27.10.1977 - 5 C 15.77 - BVerwGE 55, 31). Läßt sich hiernach feststellen, dass der Hilfesuchende eingliederungsfähig ist und die Behinderteneinrichtung geeignete Maßnahmen der Eingliederungshilfe anbietet, ist Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Betreuungskosten zu gewähren.

33

Bei dem Kläger kann die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden. Nach dem Gutachten des Amtsarztes Dr. Büngener vom 20. Juni 1996 steht bei ihm "eindeutig Eingliederungshilfe im Vordergrund". Die ärztliche Äußerung ist so zu verstehen, dass der Kläger durch konkrete Hilfsmaßnahmen der Behinderteneinrichtung ... förderbar ist. Diese Aussage wird durch weitere fachliche Stellungnahmen gestützt.

34

Nach dem Entwicklungsbericht der Einrichtung vom 29. September 1995 konnte der Entwicklungsstand des Klägers hinsichtlich seiner Förderung im Arbeits- und Beschäftigungsbereich innerhalb des Berichtszeitraums gehalten werden und die Dauer der täglichen Arbeitszeit ständig erhöht bzw. die Qualität seiner Arbeitsleistung verbessert werden. Darüber hinaus wird in dem Bericht ausgeführt, dass der Kläger besonders im Bereich der nichtsprachlichen Ausdrucksfähigkeit, im Arbeitsbereich und im Sozialverhalten weiterhin förderbar sei. Der bei dem Träger Lobetalarbeit e. V. beschäftigte Dipl.-Psychologe ... führt in seiner psychologischen Stellungnahme vom 26. November 1997 ergänzend aus, dass der Kläger im lebenspraktischen Bereich in dem zurückliegenden Zeitraum seine Selbsthilfekompetenzen deutlich habe steigern können und weitere Ziele der Eingliederungshilfe erreichbar seien. Im einzelnen heißt es in der Stellungnahme:

"Im lebenspraktischen Bereich konnte er seine Selbsthilfekompetenzen deutlich steigern. Er hat gelernt, an den Toilettengang selbst zu denken und sich mit Hilfe von Lauten und Gebärden zu melden, wenn er zur Toilette muss. Er muss deshalb heute keine Windeln mehr tragen. Ausziehen kann er nahezu alle Bekleidungsstücke, nur bei Knöpfen benötigt er Hilfestellung. Beim Anziehen unterstützt er den Vorgang aktiv, indem er z.B. die Arme entgegenstreckt. Er wählt seine tägliche Bekleidung in der Regel selbständig zweckentsprechend aus und signalisiert beim Kauf von neuer Bekleidung seinen persönlichen Geschmack. Bei den Mahlzeiten ist er mittlerweile fähig, sich zu entscheiden und aus verschiedenen Angeboten auszuwählen. Zudem trinkt er jetzt aus einer normalen Tasse und nicht mehr aus einem Schnabelbecher. Beim Waschen hält er den Waschlappen jetzt fest und kann ihn in ersten Ansätzen bereits funktionsgerecht einsetzen.

Des weiteren hat er den Einsatz und Umfang mit einem orthopädischen Hilfsmittel erlernt. Mit Hilfe eines Rollstuhls bewegt er sich heute selbständig in den Bereichen Wohngruppe sowie Terrasse. Er kann, indem er seine Hände zielgerichtet zur Fortbewegung einsetzt, autonom Zimmer von Mitbewohnern ansteuern und andere Bewohner besuchen. Dadurch hat sich seine Mobilität sowie sein Aktionsradius erheblich erweitert.

Konkrete Mitarbeiterhilfen benötigt er zum Besuch von Veranstaltungen, die außerhalb seines Wohnbereiches liegen. Dazu zählen z.B. Kino-(Zeichentrickfilme), Konzert-(Volksmusik) sowie Stadtbesuche, aber auch heiminterne Veranstaltungsangebote (z.B. Begegnungszentrum, Abenteuerspielplatz, Kirche). Zudem fährt er regelmäßig in Mitarbeiterbegleitung zum Einkaufen in einen Supermarkt und kauft dort nach eigener Auswahl Süßigkeiten ein.

Im Umgang mit Kommunikationsmedien hat er ebenfalls große Entwicklungsfortschritte erzielt. Je nach Bedürfnis kann er inzwischen selbständig den Fernseher oder das Radio bedienen.

Konkrete heilpädagogische Förderziele beziehen sich auf die Steigerung seiner Selbsthilfekompetenzen in den Bereichen An- und Ausziehen, Essen und Trinken sowie Waschen. Die Förderung seiner Feinmotorik, unter Berücksichtigung seiner Spastizität, bildet hierbei einen Schwerpunkt. Des weiteren werden ihm Hilfen zur Gestaltung der sozialen Beziehungen zu Mitbewohnern gegeben. Er neigt zu dominanten Verhaltensmustern gegenüber Mitbewohnern und setzt hierfür häufig verbale Aggressionen auf vorsprachlichem Niveau ein. Ziele sind hier, ihm Rahmen eines sozialen Kompetenztrainings Hilfebereitschaft und Rücksichtnahme gegenüber seinen Mitbewohnern zu fördern. Ein weiteres Förderungsziel ist die Steigerung seiner Mobilität. Im Rahmen eines Mobilitätstrainings soll er befähigt werden, selbständig den Aufzug zu benutzen, um andere Wohngruppen zu besuchen sowie den Hin- und Rückweg zum Begegnungszentrum zu bewältigen."

35

Diese Ausführungen belegen, dass der Kläger in hohem Maße in der Vergangenheit gefördert wurde und auch weiterhin förderungsfähig ist.

36

Diese zielgenaue Hilfe kann nur in einer Behinderteneinrichtung wie sie der Träger ... vorhält, erbracht werden. Sie ist personell und sachlich so ausgestattet, dass sie den von ihr vertretenen Ansatz der ganzheitlichen Hilfe umsetzen kann, in dem sie Förderung, Assistenz, Betreuung und Pflege der in der Einrichtung betreuten Behinderten in einem pädagogischen Konzept verbindet mit dem Schwerpunkt, die betreuten Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. Pflege ist lediglich ein Bestandteil der ganzheitlichen Förderung, die bei Gesamtbetrachtung aller Hilfemaßnahmen hinter die pädagogischen, erzieherischen, sozialen und beruflichen Elemente der Betreuung der geistig Behinderten in Einrichtungen der Behindertenhilfe zurücktritt. Dieses Konzept hat der Träger ... in seiner Stellungnahme vom 10. März 1997, die der Widerspruchsbegründung des Klägers beigefügt war, für die Kammer nachvollziehbar dargelegt.

37

Der Kläger kann auch nicht wegen des in § 2 BSHG geregelten Nachrangs der Hilfe darauf verwiesen werden, in eine Pflegeeinrichtung im Sinne des § 71 Abs. 2 SGB XI zu wechseln, um dadurch höhere Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen zu können. Das Verhältnis der Leistungen der Pflegeversicherung zu anderen Sozialleistungen ist in § 13 SGB XI geregelt. Nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI gehen Leistungen der Pflegeversicherung den Fürsorgeleistungen zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz vor. Dies gilt aber nicht für Leistungen der Eingliederungshilfe. Nach § 13 Abs. 3 Satz 3 SGB XI, eingeführt durch das 1. SGB XI - ÄndG -, bleiben Leistungen der Eingliederungshilfe für Behinderte nach dem Bundessozialhilfegesetz unberührt, sie sind im Verhältnis zur Pflegeversicherung nicht nachrangig; die notwendige Hilfe in den Einrichtungen nach § 71 Abs. 4 SGB XI ist einschließlich der Pflegeleistungen zu gewähren. Nach der Begründung des zuständigen Ausschusses des Bundestags (BT-Drucks. 3/4091, Seite 41) handelt es sich bei der Änderung um eine klarere Fassung des angestrebten Regelungsziels, die verdeutlichen soll, dass Leistungen der Sozialhilfe zur Eingliederungshilfe nicht nachrangig sind gegenüber Leistungen der Pflegeversicherung. Danach bedeutet die Regelung des § 13 Abs. 3 Satz 3 SGB XI. dass der Nachranggrundsatz des § 2 BSHG im Verhältnis von Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe nicht gilt (VGH Mannheim, Urteil vom 17.09.1997 - 6 S 1709/97 -, NDV RD 1998, 38; Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26.01.1998 - 4 O 530/98 -, a.a.O.).

38

Wie bereits oben ausgeführt, ist dem Kläger darüber hinaus ein Wechsel von der Behinderteneinrichtung, in der er zur Zeit untergebracht ist, in eine Pflegeeinrichtung des Trägers ... auch deshalb nicht zuzumuten, weil die Pflegeeinrichtung dieses Trägers nach ihrem konzeptionellen Ansatz nicht in der Lage ist, die erforderlichen Eingliederungshilfemaßnahmen zu leisten. Hierauf hat der Aufnahmeleiter des Trägers ... in seiner Stellungnahme vom 4. Juni 1998 im gerichtlichen Verfahren noch einmal hingewiesen.

39

Nach dem Vorgesagten stellt sich auch nicht die Frage, ob der Kläger auf sein Wunsch- und Wahlrecht nach § 3 BSHG verzichten muß, weil sein Verbleib in der Behinderteneinrichtung mit höheren Kosten für den Sozialhilfeträger verbunden ist.

40

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

41

Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.