Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 07.03.1994, Az.: 3 U 165/93

Zur Bewertung des Sorgfaltsmaßstabs eines achtjährigen Kindes das mit einem Fahrrad unterwegs ist in Hinblick auf die Gefahrensituation "Überqueren einer (Vorfahrts-)Straße"

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
07.03.1994
Aktenzeichen
3 U 165/93
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 15801
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:1994:0307.3U165.93.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 26.11.1993 - AZ: 5 O 55/93

Fundstelle

  • DAR 1994, 277-278 (Volltext mit amtl. LS)

Prozessführer

1. der ...,

2. der ...

der Vorstand ...

Prozessgegner

..., gesetzlich

die Mutter ...

In dem Rechtsstreit
hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...
sowie die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
auf die mündliche Verhandlung vom 07. März 1994
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Grund- und Teil-Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 26.11.1993 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen,

Entscheidungsgründe:

2

Die beklagte Versicherung und die beklagte PKW-Fahrerin wenden sich erfolglos gegen die vom Landgericht vorgenommene Quotierung; entgegen der Auffassung der Berufung ist dem klagenden Kind keine höhere Mitschuld als 20 % anzulasten.

3

Am Unfalltag, dem 19.05.1991, fuhr die Erstbeklagte mit ihrem PKW auf der Straße ... in östlicher Richtung. Entlang der Straße befinden sich Parkbuchten für Kraftfahrzeuge, die Fahrbahn ist 6 1/2 bis 7 m breit mit Randstreifen. Die Straße befindet sich in einem reinen Wohngebiet. Zur Unfallzeit gegen 16,24 Uhr standen aus der Fahrtrichtung der Erstbeklagten gesehen rechts Fahrzeuge in der Parkbucht, die ihr den Einblick in den von rechts einmündenden "Warnekamp" erschwerten, Innerhalb der geschlossenen Ortschaft fuhr die Erstbeklagte mit ca. 68 km/h. Wie nunmehr zwischen den Parteien unstreitig ist, hätte sie bei Einhaltung der allgemein zulässigen Höchstgeschwindigkeit und rechtzeitiger Reaktion nach dem Blick auf den von rechts herankommenden Kläger ihren PKW ca. 2,5 m vor dem späteren Kollisionsort zum Stillstand bringen können.

4

Der zur Unfallzeit achtjährige Kläger befuhr mit seinem Kinderfahrrad, einem BMX-Rad, den für Fahrräder und Fußgänger zugelassenen Warnekamp in Richtung Sielkamp. Der Warnekamp verläuft über eine kleine Anhöhe, die der Kläger herabfuhr. Wie weiter zwischen den Parteien nunmehr unstreitig ist, hielt der Kläger beim Erreichen des Sielkamps nicht an, sondern versuchte unmittelbar und ohne auf den fließenden Fahrzeugverkehr zu achten, diese Straße zu überqueren. Durch den Zusammenstoß mit dem Fahrzeug der Erstbeklagten erlitt der Kläger schwere Verletzungen.

5

Die Berufung macht geltend, die Erstbeklagte habe den Kläger erst wahrnehmen und erkennen können, als dieser sich praktisch schon auf der Straße "Sielkamp" befand. Die beklagte Versicherung hält den Kläger wegen des von ihm schuldhaft begangenen Verkehrsverstoßes für fast allem verantwortlich dafür, daß der Unfall eingetreten ist. Sie meint ihm anlasten zu sollen, daß es ihm darum gegangen sei, möglichst schnell auf kürzestem Weg sein Ziel auf der gegenüberliegenden Straße erreichen zu können, beim Überqueren der Fahrbahn sei jedoch von ihm zu erwarten gewesen, ähnlich wie ein Erwachsener zu reagieren.

6

Daß den Kläger grundsätzlich eine Mitschuld an dem Unfall trifft, ist zwischen den Parteien nicht mehr im Streit. Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile überwiegt jedoch die den Beklagten zuzurechnende Last derart, daß dem Kläger die in der landgerichtliche Entscheidung zugrundegelegte Haftungsquote von 4/5 zusteht.

7

Die Erstbeklagte hat nicht nur die generell zugelassene Geschwindigkeit nicht eingehalten, sondern sie hat sich auch auf die konkrete Örtlichkeit, die ihr als Anwohnerin bekannt gewesen ist, nicht eingestellt. In Höhe der Unfallstelle befindet sich ein Hinweiszeichen auf Kinder, das einen "Schulweg" kennzeichnet. Zur Unfallzeit ist zwar nicht ohne weiteres mit - zumal kleineren- Kindern auf einem Schulweg zu rechnen gewesen. Angesichts der Wohnbebauung und der allen Anwohnern bekannten Gefahren für Kinder, die zu allen üblichen Tageszeiten den Warnekamp benutzen, hat sich die Erstbeklagte aber den verstärkten Gefahrabwendungspflichten des § 3 Abs. 2 a StVO ausgesetzt gesehen. Als Anwohnerin ist ihr bekannt gewesen, daß verschiedene Anwohner seit langer Zeit darum bemüht sind, für den ... eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h zu erreichen, da Kinder gerade auch an der Unfallstelle immer wieder in erhebliche Gefahr kommen. Der Erstbeklagten mußte bekannt gewesen sein, daß der Unfallort nach den konkreten Gegebenheiten in diesem Siedlungsgebiet als Ort erhöhter Unfallgefahr hervortritt. An solchen Orten können selbst 30 km/h noch zu schnell sein, wenn sich der Fahrer bewußt ist oder sein muß, daß kleine Kinder mit den Gefahren des fließenden Fahrzeugverkehrs konfrontiert werden (vgl. OLG Karlsruhe VersR 1989, 925 = NZV 1989, 188 m. BGH NA-Beschluß vom 11.10.1988). Die Erstbeklagte wird deswegen nicht dadurch entlastet, daß sie den Kläger erst im letzten Moment konkret gesehen hat. Sie hat sich auf unachtsame kleinere Kinder einzustellen gehabt.

8

Demgegenüber ist bei einem achtjährigen Kind wie dem Kläger, das mit einem Fahrrad unterwegs ist, für die Gefahrensituation "Überqueren einer (Vorfahrts-)Straße" nicht darauf abzustellen, daß ein solches Kind wie ein Erwachsener zu reagieren hat. Bei Kindern als Radfahrern ist der Eigenverantwortungsanteil geringer als bei Erwachsenen in vergleichbaren Situationen zu gewichten, die Frage nach einem Mitverschulden ist verkehrskonform auszurichten (vgl. OLG Hamburg VRS 75, 274 m. BGH NA-Beschluß vom 07.06.1988), Das unachtsame Verhalten des Klägers ist kindtypisch. In seinem Verhalten hat sich der mangelnde oder jedenfalls nur geringe Lern- und Eingewöhnungsprozeß in den allgemeinen Straßenverkehr niedergeschlagen. Erst nach einer mehrjährigen Schulzeit neigen Kinder wegen der dann gewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen nicht mehr zu einer solchen Vorfahrtsverletzung, wie sie hier geschehen sind. Im Alter von acht Jahren haben Kinder die erforderlichen Einschätzungsmöglichkeiten jedoch noch nicht hinreichend sicher gewonnen. Erst etwa mit zehn Jahren ist von Kindern zu verlangen und zu erwarten, daß die gewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen sachgerecht umgesetzt werden. Die besonderen Risiken im Straßenverkehr, die durch das allgemein zugelassene Auftreten von kleineren Kindern im Straßenverkehr erwachsen, hat -wie § 3 Ab s. 2 a StVO herausstellt- dagegen der allgemeine Straßenverkehr zu tragen.

9

Zu einer Mitschuld von nur 20 % ist z. B. auch das OLG München bei einer fast neunjährigen Radfahrerin gekommen, die die Geschwindigkeit eines PKW's unterschätzt hat (NZV 1989, 154 mit BGH NA-Beschluß vom 22.11.1988).

10

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97; 708 Nr. 10, 713; 546 Abs. 2 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Die Beklagten sind in Höhe von 40.487,96 DM beschwert.