Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 25.10.2021, Az.: L 12 P 37/20

Leistungen nach Pflegegrad 2 aus einem privaten Pflegeversicherungsvertrag; Anforderungen an eine Begutachtung; Ermittlung eines Hilfebedarfs

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
25.10.2021
Aktenzeichen
L 12 P 37/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 69270
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2021:1025.12P37.20.00

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 10.07.2020 - AZ: S 29 P 11/19

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 10. Juli 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt von der Beklagten Leistungen mindestens nach Pflegegrad 2.

2

Der im Jahr 1930 geborene Kläger leidet an einer Hüftkopfnekrose links, einer Gonarthrose sowie Koxarthrose beidseitig, einer Polyarthrose, einer passageren Paralyse am linken Arm, einer Herzinsuffizienz NYHA III-IV sowie einer Harn- und partiellen Stuhlinkontinenz und seit ca. 2020 an Demenz.

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Zwischen den Beteiligten besteht ein privater Pflegeversicherungsvertrag mit dem Tarif PVB. Am 24. September 2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Pflegeleistungen. Im Auftrag der Beklagten erstattete Dr. med. G. für die H. GmbH am 4. Oktober 2018 ein Gutachten über den Kläger und stellte einen Hilfebedarf im Umfang von 22,5 Punkten fest. Daraufhin bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen entsprechend Pflegegrad 1 ab 1. September 2018, lehnte aber die Gewährung von weitergehenden Leistungen ab. Nachdem der Kläger dagegen protestiert hatte, erstattete Dr. I. für H. GmbH am 21. November 2018 ein weiteres Gutachten, worin er den Hilfebedarf mit 16,25 Punkten angab. Am 23. November 2018 bekräftigte die Beklagte schriftlich die Ablehnung von höheren Leistungen als nach Pflegegrad 1.

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Am 16. Januar 2019 hat der Kläger dagegen Klage erhoben und sie, wie folgt, begründet: Er leide unter Herzinsuffizienz mit erheblicher körperlicher Schwäche sowie Hüftgelenksveränderungen mit Schmerzen und Einschränkungen der Gehstrecke. Er bewege sich innerhalb seiner häuslichen Umgebung schwerfällig mit einem Rollator. Aufgrund seiner Steh- und Gehunsicherheit sei der sturzgefährdet, auch könne er nicht ohne Hilfe aufstehen und sich hinsetzen. Hilfe benötige er auch beim Waschen, An- und Auskleiden, Duschen, der mundgerechten Zubereitung der Nahrung und dem Anreichen von Medikamenten.

5

Das Gericht hat einen Befundbericht des Allgemeinmediziners Dr. J. vom 10. April 2019 und von Dr. K. vom 21. April 2019 sowie L. vom 13. Mai 2019 eingeholt. Es hat außerdem diverse Arzt- und Krankenhausberichte, insbesondere einen Bericht der geriatrischen Reha im M. vom 5. Juni 2019 beigezogen. Es hat außerdem ein Sachverständigengutachten der Sachverständigen N. vom 14. Januar 2020 eingeholt, worin diese den Hilfebedarf auf insgesamt 32,5 Punkte eingeschätzt hat und den Zeitpunkt des Erreichens dieses Hilfebedarfs auf Mitte 2019 geschätzt hat.

6

Das Sozialgericht hat daraufhin die Beklagte mit Gerichtsbescheid vom 10. Juli 2020 dazu verurteilt, dem Kläger Leistungen nach Maßgabe des Pflegegrads 2 ab 1. Juli 2019 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

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Gegen den ihm am 14. Juli 2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 28. Juli 2020 Berufung mit folgender Begründung eingelegt: Er begehre die Gewährung von Pflegeleistungen entsprechend Pflegegrad 3 ab Antragstellung, bereits im April 2019 habe sich seine Mobilität trotz einer Hüft-Endoprothese erheblich verschlechtert. Im Übrigen wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen und beantragt die Einholung eines Sachverständigengutachtens.

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Der Kläger beantragt,

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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 10. Juli 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 01. September 2018 Leistungen entsprechend Pflegegrad 3 – unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen – zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie hält den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid für zutreffend und vertritt die Auffassung, dass die Einholung eines Gutachtens nach § 109 Sozialgerichtsgesetz in der Berufung rechtsmissbräuchlich sei, weil dieser Antrag schon in 1. Instanz hätte gestellt werden können.

13

Im Auftrag des Klägers hat der Senat das Gutachten der Fachärztin für Inneres und Kardiologie Dr. O. vom 1. August 2021 eingeholt, darin berechnet sie den Hilfebedarf mit 66 Punkten und empfiehlt die Gewährung von Leistungen entsprechend Pflegegrad 4.

14

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes sowie der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze wird auf die Gerichtsakte verwiesen, die dem Senat vorgelegen hat und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

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Der Senat konnte in der Besetzung als sogenannter kleiner Senat entscheiden, denn die Berufung wurde der Berichterstatterin mit Beschluss des Senats vom 8. Januar 2021 übertragen. Auch haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung i.S.v. § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt, so dass es keiner mündlichen Verhandlung bedurfte.

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Die Berufung des Klägers ist zwar zulässig, aber unbegründet.

17

Zu Recht hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 10. Juli 2020 für den Zeitraum vom 24. September 2018 bis zum 30. Juni 2019 die Klage abgewiesen, denn der Kläger erfüllte erst ab 01. Juli 2019 die Voraussetzungen des Pflegegrades 2. Zur Vermeidung von Wiederholungen schließt sich der Senat gem. § 153 Abs. 2 SGG den zutreffenden Ausführungen des SG an. Auch der Senat hält das Gutachten der Sachverständigen N. für schlüssig und nachvollziehbar. Entgegen der Auffassung des Klägers, dass er seit April 2019 – der seiner Ansicht nach erfolglosen Hüft-Operation – erheblich in seiner Mobilität eingeschränkt sei, weist der Bericht des P. vom 5. Juni 2019, wo er sich im Anschluss an die Hüft-TEP vom 17. Mai bis 6. Juni 2019 aufgehalten hat, gute funktionelle Fortschritte bei der Gelenkbeweglichkeit im Hüftgelenk aus. Es kam danach zu einer Verbesserung der alltagsrelevanten Aktivitäten und Selbsthilfefähigkeiten, so war der Kläger bei der Entlassung in der Lage, den Transfer vom Liegen zum Sitz bis hin zum Stand selbständig durchzuführen. Zwar wurde auch festgestellt, dass eine deutliche Sturzgefahr bestand, die kognitiven Fähigkeiten wurden aber als altersentsprechend bezeichnet. Nach dem Bericht bestand weiter ein Hilfebedarf bei den Toilettengängen sowie beim Duschen. Im Bereich der unteren Extremitäten werde zwar eine Strumpfanziehhilfe und eine Greifzange benutzt, bei Bedarf müsse jedoch die Ehefrau helfen. Die Gehstrecke am Rollator betrage mit Begleitung ca. 40 m. Auch aus dem Befundbericht der Q. vom 29. Juli 2019 ergeben sich „keine Einschränkungen“ bei kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen und bei der Gestaltung des Alterslebens und sozialer Kontakte.

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Auch das in der Berufung erstmals geäußerte Begehren, dem Kläger Leistungen entsprechend des Pflegegrades 3 zu gewähren, ist unbegründet. Zwar war der Antrag des Klägers bereits in erster Instanz – entgegen der Annahme des SG – nicht auf die Gewährung von Leistungen entsprechend dem Pflegegrad 2 begrenzt, denn er hatte beantragt, ihm „mindestens Leistungen entsprechend Pflegegrad 2 – zu gewähren (vgl. zur Begrenzung von Anträgen in den Instanzen, die später nur nach einem Höherstufungsantrag erweitert werden können: Beschluss des Bundessozialgerichts B 3 P 15/14 B Rdnr. 15), der Senat hat aber keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass nach dem 1. Juli 2019 bis zur Entscheidung am 20. Oktober 2021 die Voraussetzungen des Pflegegrades 3 vorgelegen haben. Entsprechende Anhaltspunkte ergeben sich insbesondere – entgegen der Auffassung des Klägers – nicht aus dem von ihm veranlassten Gutachten von Dr. O. vom 1. August 2021. Dieses Gutachten ist nach der Überzeugung des Senats nicht als pflege-sachverständige Beurteilung des Pflegebedarfs zu verwerten. Es ist bereits zweifelhaft, ob die Begutachtung im erforderlichen Umfang im häuslichen Bereich des Klägers durchgeführt wurde (vgl. Richtlinien zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem 11. Buch des Sozialgesetzbuchs – Begutachtungsrichtlinie – BRi vom 15. April 2016, geändert durch Beschluss vom 31. März 2017 Nr. 3.2.2.3). Die Sachverständige hat ausgeführt, die Begutachtung sei im Haushalt des Klägers und in ihrer Praxis erfolgt. Auch ist das Gutachten nicht frei von Widersprüchen, so schildert die Sachverständige auf Seite 1 ihres Gutachtens „mittelschwere Demenz“, auf Seite 7 ihres Gutachtens bei der Frage, welche Erkrankungen oder Behinderungen sich auf die Pflegebedürftigkeit auswirken, „beginnende Demenz“. Im Weiteren begründet sie nicht, weshalb sie bei manchen Kriterien, so insbesondere im Bereich des Moduls 4 bei 4.4.1 bis 4.4.6 ein „unselbständig“ (3 Punkte) angenommen hat. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, weshalb sie beim Kriterium „Essen“ schreibt, das Essen werde mundgerecht klein geschnitten und der Kläger esse es selbständig, trotzdem aber von 3 Punkten (gewichtet 9 Punkten) ausgeht. Dies entspricht nicht den Voraussetzungen der Begutachtungs-Richtlinie (vgl. F 4.4.8 BRi unselbständig: Die Nahrung muss nahezu komplett gereicht werden). Des Weiteren ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Sachverständige im Modul 2 bei zeitlicher Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse und Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen angenommen hat, diese seien nur „im geringen Maß vorhanden“ (je 2 Punkte). In dem Bericht des R. vom 9. Februar 2021 wird vielmehr ausgeführt, dass der Kläger – trotz zuvor erlittener Schädelprellung – wach und voll orientiert gewesen sei. Auch die weiteren in diesem Modul genannten Kriterien vom Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen und Verstehen von Aufforderungen, die sie mit „größtenteils vorhanden bis in geringem Maß vorhanden“ (ohne sich dazwischen zu entscheiden) angenommen hat, kann nicht nachvollzogen werden, denn auch insoweit hat sie dafür keine Erklärungen in der Beschreibung des Hilfebedarfs des Klägers gegeben. Sie verweist vielmehr auf den Minimal-Mental-Test. Schließlich ermittelt die Sachverständige 66 Punkte und übersieht dabei, dass sie die von ihr angenommenen Punkte noch gewichten muss, dies ergibt 60 Punkte, was dem Pflegegrad 3 entspricht. Die Sachverständige hat jedoch empfohlen, den Pflegegrad 4 zu bewilligen. Auch erläutert sie nicht, von welchem Zeitpunkt an der von ihr festgestellte Hilfebedarf besteht und wann ggf. der Hilfebedarf die Grenze zum Pflegegrad 3 überschritten hat. Die von ihr getroffenen Feststellungen können damit frühestens vom 13. Juli 2021 angenommen werden, dies war das Datum der Untersuchung des Klägers. Ihre Ausführungen zum Barthel-Index und zum Minimal-Mental-Test sind zwar nachvollziehbar und schlüssig, jedoch besagen diese nichts für den Hilfebedarf i.S.d. gesetzlichen Pflegeversicherung.

19

Selbst wenn man die Darstellung der Sachverständigen Dr. O. im Sinne eines Befundberichts über die Entwicklung des Krankheitsbildes wertet, so ergebe sich daraus keine Erhöhung des Pflegegrades. Folgt man dem von ihr ermittelten Hilfebedarf im Modul 1 wegen einer erfolgten weiteren Verschlechterung der Mobilität, wären gewichtet 2,5 Punkte zusätzlich zum Gutachten N. zu ergänzen. Im Bereich des Modul 4 käme der Senat nach kritischer Prüfung allenfalls auf 17, bzw. gewichtet 20 Punkte, was der Einschätzung der Sachverständigen N. entspricht. Im Modul 5 hat die Sachverständige Dr. O. keinen Hilfebedarf angenommen, allenfalls im Modul 6 könnte man ihrer Einschätzung unter dem Aspekt einer mehr als geringfügigen Demenz folgen, daraus ergäben sich 9 Punkte, dies wären gewichtet 11,25 Punkte, was insgesamt einer Erhöhung von 6,5 Punkten im Vergleich zu dem Gutachten der Sachverständigen B. bedeuten würde, so dass 39 Punkte erreicht würden. Der Pflegegrad 3 würde damit jedoch weiterhin verfehlt werden. Bei dieser Sachlage bestand für den Senat kein weiterer Aufklärungsbedarf.

20

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

21

Gründe für die Zulassung der Revision i.S.v. § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.