Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 14.07.2014, Az.: 1 Ws 191/14
Kriminalprognose; Sozialprognose; Legalprognose; Gutachten; Bindungswirkung; Anlassurteil; Aussetzung des Strafrestes; Bedingte Strafaussetzung; Strafaussetzung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 14.07.2014
- Aktenzeichen
- 1 Ws 191/14
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 42499
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG - 31.03.2014 - AZ: 56 StVK 105/13
- LG - 31.03.2014 - AZ: 56 StVK 116/13
Rechtsgrundlagen
- § 57 Abs 1 Nr 2 StGB
- § 454 Abs 2 S 1 StPO
- § 454a Abs 1 StPO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Tatsachenfeststellungen des Anlassurteils sind für die im Rahmen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu treffende Prognoseentscheidung bindend.
2. Ein Sachverständigengutachten nach § 454 Abs. 2 S. 1 StPO ist nur einzuholen, wenn das Gericht eine positive Aussetzungsentscheidung in Betracht
zieht.
3. Eine Anordnung nach § 454a Abs. 1 StPO setzt grundsätzlich eine positive Kriminalprognose zum Zeitpunkt der Anordnung voraus.
4. Soweit aus verfassungsrechtlichen Gründen die Anwendung des § 454a Abs. 1 StPO auch ohne gesicherte Prognose in Betracht kommt, ist dies Ausnahmefällen vorbehalten, in denen eine positive Legalprognose nur noch von der Bewährung des Gefangenen im Rahmen vollzugsöffnender Maßnahmen abhängt und ihm diese zu Unrecht durch die Justizvollzugsbehörden verweigert werden.
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Braunschweig wird der Beschluss der 56. kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 31. März 2014 aufgehoben.
Es wird abgelehnt, die Strafreste aus den Urteilen des Landgerichts Braunschweig vom 28. Oktober 2008 (1 Ks 202 Js 20799/08 - 7/08) und des Amtsgerichts Braunschweig vom 16. Juni 2010 (2 Ls 907 Js 23486/09) zur Bewährung auszusetzen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Verurteilte zu tragen.
Gründe
I.
1. Mit seit dem 05.05.2009 rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Braunschweig - Schwurgericht - vom 28.10.2008 ist der Verurteilte wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchter besonders schwerer Brandstiftung und versuchter Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt worden. Nach den Feststellungen des Schwurgerichts hatte der Verurteilte am 10.04.2008 Gasschlauchleitungen in seinem Imbiss beschädigt und die Backöfen auf die höchste Temperatur eingestellt, um eine Explosion auszulösen und Versicherungsleistungen zu erhalten. Dabei hatte er billigend in Kauf genommen, dass sich in der Nähe der von ihm beabsichtigten Explosion aufhaltende Personen verletzt oder getötet werden könnten. Hierzu kam es nicht, weil ein Zeuge Gasgeruch wahrnahm und den örtlichen Gasinstallationsbetrieb informierte, woraufhin die Gaszufuhr unterbrochen wurde (Bl. 2 ff. Bd. I d. VH 202 Js 20799/08).
Im Rahmen der in der vorgenannten Sache gegen den Verurteilten vollzogenen Untersuchungshaft kam es am 20.04.2009 zu einer weiteren Straftat, die zur Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten durch das Amtsgericht Braunschweig am 16.06.2010 führte. Nach den Feststellungen hatte der Verurteilte zunächst ein Fehlverhalten von drei Mithäftlingen (A, B und C) einem Justizvollzugsbeamten gemeldet. Als diese dies von einem weiteren Mithäftling (D) erfahren hatten und einer der drei dem Verurteilten dann erzählte, dass niemand mehr mit ihm etwas zu tun haben wolle, wurde der Verurteilte „wütend und aggressiv“ und versetzte dem Mitgefangenen D einen Faustschlag, bevor er ihm mit einem Cuttermesser Schnittwunden am Hals und am Oberarm zufügte. Anschließend setzte er dem flüchtenden Geschädigten nach, und schnitt dann noch die zu Hilfe kommenden Mithäftlinge B (in den Arm) und A (mehrfach kreuz und quer über das Gesicht, wobei er auch dessen linkes Augenlid zerschnitt und dessen linke Ohrmuschel zertrennte). Danach nahm er den Mithäftling A in einen Würgegriff und schnitt auf den Oberkörper des Geschädigten ein. Das Messer ließ er erst nach mehrfacher Aufforderung der hinzugekommenen Justizbediensteten fallen (Bl. 1 ff. d. VH 207 Js 23486/09).
2. Die Strafe aus dem Urteil der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Braunschweig vom 28.10.2008 wurde bis zum 2/3-Termin am 09.05.2012 vollstreckt. Seitdem wird die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 16.06.2010 vollstreckt. Der 2/3-Termin war am 08.11.2013 erreicht (Bl. 37 ff. Bd. II d. VH 202 Js 20799/08). Seit dem 04.09.2013 befand sich der Verurteilte zur Erleichterung von Besuchskontakten zu seinem Bruder in der JVA Celle (Bl. 33 Bd. II d. VH 202 Js 20799/08), von wo aus er am 28.03.2014 in die JVA Rosdorf zurückverlegt wurde, da aus Sicht des Vollzugs der Versuch der „Familienzusammenführung“ gescheitert war (Bl. 96, 116 Bd. II d. VH 202 Js 20799/08).
3. Nach Einholung des forensisch-psychiatrischen Kriminalprognosegutachtens der Sachverständigen … vom 30.12.2013 (Sonderheft „Gutachten“) hat die 56. kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Beschluss vom 31.03.2014 die Vollstreckung der Reststrafen mit Wirkung zum 01.07.2014 zur Bewährung ausgesetzt (Bl. 20 ff. Bd. II d. VH d. VH 202 Js 20799/08). Dabei hat sich die Strafvollstreckungskammer auf die Einschätzung der Sachverständigen gestützt, wonach individualprognostisch nicht festzustellen sei, dass die in den Taten zutage getretene Gefährlichkeit noch fortbestehe. Bei der versuchten Gasexplosion habe es sich wie bei der Körperverletzung um ein situatives Handeln eines zuvor unbescholtenen Mannes gehandelt. Dem Verurteilten sei zuzugestehen, dass er durch die Bestrafung gelernt habe und spezialpräventiv erreicht worden sei. Die diagnostizierte psychische Erkrankung (eine reaktiv depressive Erkrankung vom Schweregrad einer depressiven Psychose mit zusätzlichen zoenästhetischen wahnhaften Symptomen, ICD 10: F 32.30) habe nicht zur Entstehung der Taten beigetragen. Eine konkrete Rückfallgefahr sei nicht ersichtlich. Es bestehe nur ein leicht erhöhtes Rückfallrisiko für Straftaten aus dem Betäubungsmittelbereich, des Betruges oder der Körperverletzung. Die Kammer führt weiter aus, dass die im Gutachten der Sachverständigen für vorzugswürdig gehaltene „couragierte“ Lockerung zur Entlassungsvorbereitung seitens der JVA nicht zu erwarten sei, weshalb die Entlassung bereits jetzt mit Entlassungszeitpunkt zum 01.07.2014 angeordnet worden sei. Die Kammer wies den Verurteilten unter anderem an, sich um die Aufnahme einer psychiatrischen oder psychologischen Behandlung zu bemühen und jeglichen Konsum von Alkohol oder illegalen Drogen zu unterlassen.
4. Gegen diesen ihr erst am 14.05.2014 zugestellten (Bl. 20 Bd. II d. VH 202 Js 20799/08) Beschluss wendet sich die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit ihrer am 16.05.2014 bei Gericht eingegangenen sofortigen Beschwerde vom gleichen Tag (Bl. 62 Bd. II d. VH 202 Js 20799/08). In der Begründung ihrer sofortigen Beschwerde vom 31.05.2014 (Bl. 55 ff. Bd. II d. VH 202 Js 20799/08) führt die Staatsanwaltschaft an, dass bei besonders gefährlichen vorausgegangenen Taten die Aussetzung in der Regel weniger leicht zu verantworten sei. Durch die vorrangige Konzentration auf die vom Gutachter prognostizierte vermeintliche Ungefährlichkeit des Verurteilten habe sich das Gericht den Blick auf die notwendige Gesamtbeurteilung der gegenwärtigen Situation des Verurteilten verstellt. Eine Entlassungsvorbereitung habe nicht stattgefunden, insbesondere habe der Verurteilte nur sehr begrenzte Außenkontakte zu seinem Bruder gepflegt. Auch habe er die Teilnahme an für notwendig befundenen Therapie- und Behandlungsmaßnahmen abgelehnt. Insbesondere seien auch die Weisungen nicht geeignet, eine ausreichend günstige Legalprognose zu begründen. Angesichts des Persönlichkeitsbildes des Verurteilten, dass von Apathie und Verweigerungshaltung geprägt sei, werde die Weisung, sich um die Aufnahme einer psychiatrischen Therapie zu bemühen „fast zwangsläufig“ zum Widerruf der Bewährung führen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt wie erkannt (Bl. 75 ff. Bd. II d. VH 202 Js 20799/08). Neben den von der Staatsanwaltschaft Braunschweig angeführten Umständen wird hervorgehoben, dass der Verurteilte wegen der Ermöglichung von Besuchskontakten zu seinem Bruder und einen Bekannten in die JVA Celle verlegt worden sei, Besuche dann aber nahezu nicht stattgefunden hätten. Der Verurteilte habe angegeben, sich eine eigene Wohnung mieten zu wollen. Es bestünden berechtigte Zweifel an der Annahme der Sachverständigen, der Bezug zum Bruder sei wieder gegeben. Des Weiteren erscheine es dringend erforderlich, zunächst im Rahmen von Vollzugslockerungen eine Antwort auf die Frage zu finden, ob sich aus der psychischen Erkrankung Risiken für die Allgemeinheit ergeben. Eine Konstellation, in der § 454a StPO nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht auch ohne gesicherte Prognose zur Anwendung komme, liege nicht vor, da dies voraussetze, dass eine positive Legalprognose nur noch von der Bewährung des Gefangenen im Rahmen vollzugsöffnender Maßnahmen abhänge und ihm diese zu Unrecht durch die Justizvollzugsbehörden verweigert werden. Da nach den Ausführungen des Sachverständigen ein großer Teil der Haftzeit darauf verwandt wurde, den körperlichen Beschwerden des Verurteilten nachzugehen und der Verurteilte ein Training zur Stärkung seiner sozialen Kompetenz und die Durchführung eines Anti-Aggressionstraining abgelehnt habe, könne nicht festgestellt werden, dass dem Verurteilten seitens der Justizvollzugsanstalt zu Unrecht vollzugsöffnende Maßnahmen verweigert worden seien und auf diese Weise die Entscheidungsgrundlage unnötig zu schmal angelegt worden sei.
Der Verteidiger des Verurteilten hat hierzu in seinem Schriftsatz vom 23.06.2014 Stellung genommen (Bl. 85 ff. Bd. II d. VH 202 Js 20799/08). Es komme allein darauf an, dass die in den Anlasstaten zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten nicht mehr bestehe. Dem Verurteilten sei nicht anzulasten, dass der Vollzug keine entlassungsvorbereitenden Maßnahmen getroffen habe. Es dürfe ihm auch nicht zum Nachteil gereichen, dass vollzuglich angebotene Maßnahmen unter Zugrundelegung des konkreten Zustands des Betroffenen nicht tragfähig gewesen seien. Die Weisung, sich um eine psychiatrische Behandlung zu bemühen, sei wegen der erheblichen Relevanz der Kostenfrage nicht zu beanstanden.
II.
Die nach § 454 Abs. 3 StPO statthafte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig und begründet.
Die Voraussetzungen einer Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung liegen nicht vor. Diese setzt gem. § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB voraus, dass die Aussetzung des Strafrestes unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Entscheidend für die hierfür vorzunehmende Prognose ist eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des erlittenen Strafvollzugs für das künftige Leben des Verurteilten in Freiheit einerseits und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits. Je nach der Schwere der Straftaten, die vom Verurteilten nach Erlangung der Freiheit im Falle eines Bewährungsbruchs zu erwarten stünden (§ 57 Abs. 1 S. 2 StGB) sind unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Wahrscheinlichkeit für ein künftiges strafloses Leben des Verurteilten zu stellen (BGH, Beschl. v. 25.04.2003 - StB 4/03, 1 AR 266/03 -, juris, m. w. N.). Mindestvoraussetzung dafür, die Aussetzung des Strafrestes unter Wahrung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantworten zu können, ist eine reelle Chance dafür, dass die verurteilte Person künftig keine Straftaten mehr begehen wird, also eine begründete Aussicht auf einen Resozialisierungserfolg (Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, 29. Aufl., § 57 Rn. 14 m. w. N.).
Nach diesen Maßstäben kann die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung unter Wahrung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden.
Angesichts der vom Verurteilten in Kauf genommenen Tötung einer unbestimmten Anzahl von Personen durch die versuchte Gasexplosion sowie der in der Tat vom 20.04.2009 zum Ausdruck gekommenen Gewaltbereitschaft und Gefährlichkeit des Verurteilten bedarf es für die Aussetzung hier eines hohen Maßes an Wahrscheinlichkeit dahingehend, dass sich derartige Straftaten nicht mehr wiederholen.
Eine derart günstige Prognose kann für den Verurteilten nach Beurteilung des Senats derzeit nicht gestellt werden.
1. Insbesondere kann das Gutachten des Sachverständigen … vom 30.12.2013 eine hinreichend günstige Prognose nicht begründen.
Zwar ist der Sachverständige im Ergebnis zu der Beurteilung gelangt, dass „individualprognostisch nicht festzustellen“ sei, dass die in den Anlasstaten zutage getretene Gefährlichkeit noch fortbestehe, da es sich bei der versuchten Gasexplosion ebenso wie bei der Tat 2009 um ein situatives Geschehen eines zuvor unbescholtenen Mannes gehandelt habe (S. 40 d. Gutachtens). Dieser Formulierung lässt sich jedoch nur entnehmen, dass der Sachverständige nicht positiv feststellen konnte, dass die damalige Gefährlichkeit fortbesteht. Für die Aussetzung des Strafrestes nach § 57 StGB muss jedoch umgekehrt mit (je nach Schwere der zu befürchtenden Straftaten) hinreichender Wahrscheinlichkeit die zukünftige Straffreiheit prognostiziert (vgl. Fischer, StGB, 61. Auflage, StGB, § 57 Rn. 12, 14), also mit entsprechender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Gefährlichkeit noch besteht. Prognoseunsicherheiten gehen mithin grundsätzlich (mit Ausnahme in staatlicher Verantwortung liegender Prognosedefizite) zu Lasten des Verurteilten.
Abgesehen davon können die Beurteilungen der Sachverständigen in weiten Teilen für die hier zu treffende Prognose nicht herangezogen werden, weil diesen Annahmen zu den Anlasstaten zugrunde liegen, die mit den in den Anlassurteilen getroffenen Feststellungen nicht vereinbar sind. Die Tatsachenfeststellungen des Anlassurteils sind jedoch für die im Rahmen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu treffende Prognoseentscheidung bindend (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 04.05.2009, 2 Ws 80/09, juris Rn. 20; KG, Beschluss vom 02.08.2013, 2 Ws 385/13, juris, Rn. 9; OLG Braunschweig, Beschluss vom 11.03.1983, Ws 75/83, juris, sowie Beschluss vom 08.07.2014, 1 Ws 170/14, nicht veröffentlicht; Fischer, StGB, 61. Aufl., § 57 Rdn. 18).
So führt der Sachverständige aus, es stehe im Hinblick auf die Gasexplosion „aus forensisch-psychiatrischer Sicht […] ausreichend sicher fest, dass der Proband […die Möglichkeit der Tötung unbeteiligter Personen] nicht ausreichend bedachte“. Die Tat sei i. S. d. HCR-20 nicht „gewalttätig gemeint“ (S. 24 d. Gutachtens). Abgesehen davon, dass die Formulierung „ausreichend sicher“ darauf hindeutet, dass hier Prognoseunsicherheiten zugunsten des Verurteilten gewertet worden sind, widerspricht diese Annahme unbedachten (und somit lediglich fahrlässigen) Handelns den Urteilsfeststellungen, wonach der Angeklagte billigend in Kauf genommen hatte, dass sich in der Nähe des Gebäudes aufhaltende Personen hätten verletzt oder getötet werden können“ (S. 8 des Anlassurteils).
Des Weiteren führt er in Bezug auf den Vorfall vom 20.04.2009 aus, dass die Umstände dieser Tat rein situativ anmuteteten. Es sei „durchaus vorstellbar, dass er [der Verurteilte] von Mitgefangenen verbal unter Druck gesetzt wurde und glaubte, dass ihm ein Leid geschehen würde, würde er nicht ‚die Flucht nach vorne‘ ergreifen“ (S. 24 f. d. Gutachtens). In der Exploration hatte der Verurteilte diesbezüglich geäußert, es habe Ärger mit Kollegen gegeben, die ihn als Verräter beschimpft hätten, er habe dann zwei Leute verletzt, die auf ihn losgegangen seien (S. 17 d. Gutachtens). Auch hier ist ein lediglich „durchaus vorstellbarer“ Umstand zu Gunsten des Verurteilten für die weitere Prognose als zutreffend unterstellt worden. Auch dieser widerspricht den Feststellungen des Amtsgerichts Braunschweig, wonach der Verurteilte aus Wut und Verärgerung und somit nicht aus Furcht gehandelt hatte.
Die vorgenannten mit den bindenden Urteilsfeststellungen nicht zu vereinbarenden Umstände liegen auch den weiteren Einschätzungen des Sachverständigen hinsichtlich der Gefahr weiterer den Anlasstaten entsprechenden Straftaten zugrunde (so z. B., dass 2009 eine „subjektive Notwehrsituation“ vorgelegen habe, weshalb die Tat prognostisch nicht besonders schwer zu gewichten sei, S. 27 d. Gutachtens), so dass die dortige Prognoseentscheidung auf die hier anzustellende Kriminalprognose im Rahmen des § 57 StGB nicht übertragen werden kann. Auch die Feststellung, dass Dissozialität in diesem Fall kein Delinquenzfaktor war (S. 29 d. Gutachtens) dürfte von der Zugrundelegung dieser Umstände mit beeinflusst gewesen sein.
Hinzu kommt, dass mehrere weitere Feststellungen und Einschätzungen der Sachverständigen nicht zutreffen oder jedenfalls nicht nachvollziehbar sind. So wird konstatiert, dass der Verurteilte vor den Anlasstaten strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei (S. 27 Gutachtens). Der Verurteilte ist jedoch auch wegen Verschaffens falscher amtlicher Ausweise und fahrlässiger Trunkenheitsfahrt belangt worden (Bl. 3 Bd. I d. VH 202 Js 20799/08). Des Weiteren wird nicht plausibel erläutert, warum einerseits ausgeführt wird, die forensische Bedeutung der Erkrankung des Verurteilten könne nicht eingeschätzt werden, trotz dieser fehlenden Einschätzbarkeit dann aber ein „leicht erhöhtes“ Risiko neuer Straftaten angenommen wird (S. 28 d. Gutachtens).
Nicht nachvollziehbar belegt ist die Einschätzung, der Verurteilte habe ein Problembewusstsein hinsichtlich der Anlasstat und des Alkohol- und Drogenkonsums entwickelt (S. 36 d. Gutachtens). In der im Gutachten dargestellten Exploration hat der Verurteilte lediglich die Anlasstaten (und zwar gegenüber den getroffenen Feststellungen verharmlosend) eingeräumt und über seinen Alkohol- und Drogenkonsum berichtet. Ein Problembewusstsein i. S. einer Auseinandersetzung mit seinen Taten, auch und gerade im Hinblick auf die Gefährdung des Lebens und die Verletzung des Körpers anderer Menschen, oder die Bedenklichkeit des Gebrauchs von Rauschmitteln wird an keiner Stelle erkennbar. Bezüglich des Alkoholkonsums ergibt sich aus der wiedergegebenen Exploration viel mehr, dass der Verurteilte den Konsum einer halben Flasche Whiskey als „normale Trinkmenge“ bezeichnet hat (S. 15 d. Gutachtens). Demgegenüber berichtet die JVA Celle, beim Verurteilten sei fehlende Empathie und fehlende Verantwortungsübernahme für eigenes Handeln auffällig geworden (Bl. 9 Bd. II d. VH 202 Js 20799/08). Die Angabe des Verurteilten während der Exploration, er habe „diese Scheiße gebaut“, um seine Schulden zu begleichen, ist jedenfalls nicht geeignet, Empathie oder Verantwortungsübernahme zu belegen.
Der Sachverständige führt weiter aus, der Verurteilte arbeite mit den Behörden zusammen und sei bereit, Hilfen anzunehmen (S. 28 d. Gutachtens). Aus der Stellungnahme der JVA Celle vom 13.03.2014 geht jedoch hervor, dass dem Verurteilten ein Training zur Stärkung der sozialen Kompetenz sowie ein Anti-Aggressivitätstraining empfohlen worden sei, das dieser abgelehnt hatte (Bl. 9 d. Bd. II d. VH 202 Js 20799/08).
Er geht des Weiteren davon aus, dass inzwischen der Bezug zum Bruder wieder gegeben und als sozialer Empfangsraum diskutabel sei (S. 40 Gutachtens). Dem liegt zugrunde, dass der Bruder des Verurteilten auf Nachfrage angegeben hatte, dass sein Bruder „zunächst“ bei ihm wohnen könne. Von da aus könne man weiter sehen (S. 21 Gutachtens). Eine vorübergehende Aufnahmemöglichkeit ist jedoch nicht mit einem sozialen Empfangsraum gleichzusetzen und belegt auch keine engere Bindung, die sich prognostisch günstig auswirken könnte. Vielmehr spricht der Verlauf des bisherigen Vollzugs gegen eine engere Bindung zwischen den Geschwistern. Obwohl der Verurteilte in die JVA Celle verlegt wurde, um Besuchskontakte zu seinem Bruder zu erleichtern, ist es ausweislich des Berichts der JVA Celle vom 13.03.2014 im Zeitraum vom 04.09.2013 bis zum 13.03.2014 nur zu einem einzigen Besuch im Oktober 2013 gekommen. Auch der sonstige Kontakt (3 - 4 Telefonate pro Monat) und sporadische postalische Kontakte (der Bruder hat einen einzigen Brief geschrieben) sprechen gegen eine engere soziale Bindung. Dies war auch der Grund, warum der Verurteilte wieder nach Rosdorf zurückverlegt wurde.
2. Die gebotene Gesamtwürdigung der in § 57 Abs. 1 S. 2 StGB genannten Umstände ergibt, dass dem Verurteilten eine für eine bedingte Entlassung hinreichende Prognose nicht gestellt werden kann.
Zwar ist der Verurteilte Erstverbüßer und kann bei Verurteilten, die erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßen, im Regelfall davon ausgegangen werden kann, dass die Strafe ihre spezialpräventiven Wirkungen entfaltet hat und es verantwortbar ist, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, wenn die Führung während des Vollzugs keinen Anlass zu gewichtigen Beanstandungen gibt (BGH, Beschluss vom 25. April 2003 – StB 4/03, 1 AR 266/03, juris, Rn. 4 m. w. N.).
Hier besteht jedoch die Besonderheit, dass der Verurteilte bereits während des Vollzugs der im Verfahren wegen der versuchten Gasexplosion angeordneten Untersuchungshaft die gefährlichen Körperverletzungen begangen hatte, die zu dem Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 16.06.2010 führten. Auch hat er an den ihm empfohlenen Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen zur Aufarbeitung der im Vollzug festgestellten delinquenzursächlichen Persönlichkeitsproblematik nicht teilgenommen. Insoweit waren im Rahmen einer Behandlungsuntersuchung fehlende Empathie und Verantwortungsübernahme für eigenes Handeln aufgefallen. Wie bereits dargestellt ist auch aktuell nichts dafür ersichtlich, dass der Verurteilte sich seither ausreichend mit den Ursachen und möglichen und tatsächlichen Folgen seiner Straftaten auseinandergesetzt hat. Aus dem Vollzugsplan vom 12.03.2014 folgt vielmehr, dass der Verurteilte sich nicht um Schuldenregulierung bemühte (Bl. 109 Bd. II d. VH 202 Js 20799/08), was hier deshalb von nicht unerheblicher Bedeutung ist, weil gerade die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse des Verurteilten ursächlich für das erste Anlassdelikt waren. Auch eine Aufarbeitung einer Alkohol- und Drogenproblematik, der auch die Sachverständigen deliktogene Bedeutung beimessen (S. 24 d. Gutachtens), ist nicht erkennbar.
Angesichts der unklaren forensischen Bedeutung der psychiatrischen Erkrankung des Verurteilten liegt auch hierin ein in seinen Auswirkungen nicht einschätzbarer Risikofaktor, wobei bei dem Verurteilten eine reduzierte Belastungs- und Konfliktfähigkeit besteht (S. 26 d. Gutachtens).
Schließlich hat der Verurteilte - wie dargestellt auch zu seinem Bruder - keine tragfähigen Sozialkontakte, die eine prognostisch günstige Wirkung entfalten könnten.
Unter zusammenfassender Würdigung aller Umstände kann eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung derzeit unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit nicht verantwortet werden. Da die Pflicht, unter den Voraussetzungen des § 454 Abs. 2 S. 1 StPO ein Sachverständigengutachten einzuholen, nur dann besteht, wenn das Gericht eine positive Aussetzungsentscheidung in Betracht zieht (vgl. BGH, Beschluss vom 28.01.2000, StB 1/00, juris, Rn. 4; OLG Celle, Beschluss vom 29.07.1998, 2 Ws 201/98), hat der Senat trotz der aufgezeigten Mängel des von der Strafvollstreckungskammer eingeholten Gutachtens keinen Anlass, vor der Entscheidung ein weiteres Gutachten einzuholen
3. Auch eine Anordnung nach § 454a Abs. 1 StPO kommt nicht in Betracht.
Die Generalstaatsanwaltschaft weist zu Recht darauf hin, dass auch § 454a Abs. 1 StPO eine günstige Sozialprognose zum Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung voraussetzt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Auflage, § 454a Rn. 1), die wie vorstehend ausgeführt nicht besteht.
Soweit darüber hinaus aus verfassungsrechtlichen Gründen die Anwendung des § 454a Abs. 1 StPO auch in Fällen ohne gesicherte Prognose in Betracht kommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.11.2011, 2 BvR 1758/10, juris, Rn. 35 f.), ist dies Ausnahmefällen vorbehalten, in denen eine positive Legalprognose nur noch von der Bewährung des Gefangenen im Rahmen vollzugsöffnender Maßnahmen abhängt und ihm diese zu Unrecht durch die Justizvollzugsbehörden verweigert werden (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 06.06.2013, 3 Ws 343/13 m. w. N.).
Beide Voraussetzungen liegen nicht vor.
Zwar weist der Sachverständige darauf hin, dass durch die Gewährung von Vollzugslockerungen die Auswirkungen der psychiatrischen Erkrankung besser beurteilt werden könnten, die Annahme einer positiven Legalprognose scheitert jedoch nicht allein an einer diesbezüglichen Unsicherheit. Entscheidend ist vielmehr die fehlende Aufarbeitung der Straftaten, die im Rahmen der vorgeschlagenen Behandlungsmaßnahmen im Vollzug erfolgen kann.
Des Weiteren ist auch nicht ersichtlich, dass die Versagung von Vollzugslockerungen rechtswidrig war. Im Vollzugsplan vom 12.03.2014 wird diesbezüglich nachvollziehbar im Wesentlichen darauf abgestellt, dass der Verurteilte bislang keine Bereitschaft gezeigt hat, am Vollzugsziel mitzuwirken (Bl. 113 Bd. II d. VH 202 Js 20799/08), was nachvollziehbar und rechtlich nicht zu beanstanden ist. Hinzu kommt, dass die von den Sachverständigen angedachten Beurlaubungen des Verurteilten zu seinem Bruder angesichts der fehlenden engeren Bindung und der nur vorübergehenden Aufnahmebereitschaft auch keine Erprobung in einen für die Entlassung auf Dauer in Betracht kommenden Empfangsraum ermöglicht, die näheren Aufschluss für die Legalprognose erlauben würde. Nach der Stellungnahme der JVA Rosdorf vom 03.07.2014 hat der Verurteilte auch von sich aus zu keinem Zeitpunkt auf Vollzugslockerungen gerichtete Wünsche geäußert oder diesbezügliche Anträge gestellt (Bl. 101 Bd. II d. VH 202 Js 20799/08). Dies ändert zwar nichts an der Verpflichtung der JVA über die Gewährung von Vollzugslockerungen von Amts wegen zu entscheiden (§ 13 NJVollzG), bestätigt aber den Eindruck nicht tragfähiger sozialer Bindungen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 465 Abs. 1 StPO.