Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 31.05.1988, Az.: 1 Ss 117/88

Erfolgsaussichten eines Revisionsverfahrens gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort; Ausgestaltung des Vorliegens eines Verfahrensfehlers in Form einer unzulässigen Verlesung von Schriftsätzen der Verteidiger i.R.e. Berufungshauptverhandlung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
31.05.1988
Aktenzeichen
1 Ss 117/88
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1988, 20381
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1988:0531.1SS117.88.0A

Verfahrensgang

vorgehend
StA Hildesheim - 29.01.1988 - AZ: 14 Js 24947/85

Fundstellen

  • NJW 1989, 992-993 (Volltext mit amtl. LS)
  • StV 1988, 425

Verfahrensgegenstand

Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort

Auf die Revision des Angeklagten gegen
das Urteil der 6. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hildesheim vom 29. Januar 1988
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
in der Sitzung vom 31. Mai 1988,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht ... als Vorsitzender,
Richter am Oberlandesgericht ...,
Richter am Oberlandesgericht ... als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt ... - während der Verhandlung -
Oberstaatsanwalt ... - während der Verkündung - als Beamte der Staatsanwaltschaft,
Justizangestellte ... als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine kleine Strafkammer des Landgerichts Göttingen zurückverwiesen.

Gründe

1

I.

Das Amtsgericht Alfeld hatte den Angeklagten am 2.4.1986 von dem Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort freigesprochen. Hiergegen richtet sich die Berufung der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Hildesheim. Nach zwischenzeitlichen Verurteilungen im Berufungsverfahren am 6.10.1986 (vom Senat aufgehoben und zurückverwiesen durch Beschluß vom 30.1.1987) und am 12.6.1987 (vom Senat aufgehoben und zurückverwiesen durch Beschluß vom 24.11.1987) hat die Berufungskammer den Angeklagten nunmehr wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort wie folgt verurteilt:

  • Gesamtgeldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 70 DM (Einzelgeldstrafe: 25 Tagessätze zu je 70 DM) unter Einbeziehung der vom Amtsgericht Lübeck durch Urteil vom 14.10.1987 - 714 Js 5793/87 StA Lübeck - verhängten Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je 70 DM,

  • Aufrechterhaltung der vom Amtsgericht Lübeck verhängten Entziehung der Fahrerlaubnis und Anordnung einer Sperre für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis,

  • Verhängung eines Fahrverbots von zwei Monaten.

2

Die Revision des Angeklagten rügt Verletzung des sachlichen Rechts und des Verfahrensrechts. Sie macht u.a. geltend, in der Berufungshauptverhandlung, in der der Angeklagte keine Angaben zur Sache gemacht habe, seien die Schriftsätze der Verteidiger vom 23.9., 25.11. und 3.12.1985 unzulässigerweise verlesen und ihr Inhalt zum Nachteil des Angeklagten verwertet worden. Dieser Verfahrensrüge war der Erfolg nicht zu versagen.

3

II.

1.

Das Landgericht hat festgestellt:

4

Am Abend des 7.9.1985 nahm der Angeklagte in A. an einer Feier teil und hielt sich dort ein bis zwei Stunden lang auf. Wo er bis zum nächsten Morgen um etwa 5.15 Uhr war, konnte die Strafkammer nicht aufklären. Sein Auto hatte er in der Nähe seiner Praxis abgestellt. Am Morgen um 5.40 Uhr fuhr er mit diesem Auto durch den A. Ortsteil ... in Richtung S. mitte. Auf der G. straße geriet er gegen ein dort abgestelltes Auto, das noch 3.300 DM wert war und an dem Totalschaden eintrat. Außerdem wurde eine Mauer beschädigt, gegen die das angefahrene Fahrzeug gedrückt worden war. Der Angeklagte bemerkte die angerichteten Schäden. Er wollte sich den Folgen seines Verhaltens entziehen. Trotz der erheblichen Beschädigung des eigenen Fahrzeuges ließ sich dieses noch fahren. Er fuhr zu seinem unweit gelegenen Haus und schloß das Auto in der Garage ein.

5

2.

Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung zur Sache nicht eingelassen.

6

Die Strafkammer stützt ihre Überzeugung, daß sich der Unfall überhaupt ereignet hat und daß er mit dem Auto des Angeklagten herbeigeführt worden ist, auf die Aussagen von Zeugen über die Beschädigungen der Fahrzeuge und der Mauer sowie auf ein Gutachten des Landeskriminalamts Niedersachsen über die farbliche und chemische Übereinstimmung der an der Unfallstelle gefundenen Lacksplitter mit dem Lack des Autos des Angeklagten einerseits sowie des an dessen Fahrzeug vorgefundenen Lackabriebs mit dem Lack des angefahrenen Autos andererseits.

7

Die Überzeugung der Strafkammer, daß der Angeklagte und kein anderer sein Fahrzeug gesteuert hat, beruht auf einer kritischen Würdigung der drei bestreitenden Sachdarstellungen, die die Verteidiger mit Schriftsätzen vom 23.9., 25.11. und 3.12.1985 zu den Akten gebracht haben.

8

III.

1.

Die Rüge der Revision, die Strafkammer habe den Inhalt der vorerwähnten Schriftsätze durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt, trifft ausweislich des Protokolls zu.

9

Diese Verlesung ist nicht in zulässiger Weise zum Zwecke des Vorhalts an den Angeklagten geschehen. Der verwertete Inhalt der Schriftsätze kann nicht über die Angaben des Angeklagten in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein, weil er überhaupt keine Angaben zur Sache gemacht hat.

10

In Betracht kommt allein die Verlesung der Schriftstücke als "Urkunden" nach § 249 StPO. Sie sind indes keine Urkunden i.S. des Strafprozeßrechts und durften nicht verlesen werden.

11

Entschließt sich ein Angeklagter, in der Hauptverhandlung zu schweigen, so sind Schriftstücke, die seine früheren Erklärungen enthalten, nur dann als Urkunden verlesbar, wenn er selbst sie verfaßt hat. Erklärungen, die der Verteidiger für ihn abgegeben hat, gehören hierzu nicht (vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO, 38. Aufl., § 163 a Rz. 14; KK-R. Müller, StPO, 2. Aufl., § 163 a Rz. 14; XMR-Paulus, StPO, 7. Aufl., § 243 Rz. 39). Die Unterscheidung ist erforderlich, weil der Verteidiger im geltenden Strafprozeßrecht von dem Angeklagten unabhängig ist und, wenn auch unter bestimmten Beschränkungen, eigene Rechte und Aufgaben wahrnimmt. Bei Schriftsätzen des Verteidigers, die Erklärungen des Angeklagten wiedergeben, steht deshalb nicht fest, ob der Angeklagte diese Erklärungen selbst so abgegeben hätte.

12

Für diese Beurteilung der Aufgaben des Verteidigers ist es nicht erforderlich, seine Rechtsstellung als die eines "Organs der Rechtspflege" i.S. des § 1 BRAO umfassend zu bestimmen. Maßgeblich ist vielmehr seine Ausstattung durch die Straßprozeßordnung mit Rechten und Pflichten, die eine Behandlung seiner Erklärungen als solche des Angeklagten verbieten.

13

Der Verteidiger darf zwar ausschließlich zugunsten des Angeklagten tätig werden. Er ist in vielfacher Hinsicht durch diesen in seinem Handeln beschränkt, weil er abgewählt werden kann (§ 143 StPO), weil sein Wille bei der Einlegung von Rechtsmitteln (§ 297 StPO), und beim Verzicht auf Rechtsmittel (§ 302 Abs. 2 StPO) dem des Angeklagten untergeordnet ist und weil sein Wille auch sonst vielfach nicht den Ausschlag gibt, weil es daneben auf den des Angeklagten selbst ankommt (z.B. §§ 61 Nr. 5, 251 Abs. 1 Nr. 4 StPO). Gleichwohl kann der Verteidiger eine andere Prozeßtaktik verfolgen, als der Angeklagte es wünscht, und er muß dies sogar tun, wenn er befürchtet, daß der Angeklagte durch verfehltes Agieren "in sein Unglück läuft", etwa, weil er jemand vor Strafverfolgung schützen will. Deshalb kann der Verteidiger Erklärungen abgeben, die der Angeklagte so gegenüber dem Gericht nicht äußern will, und er kann Beweisanträge auch gegen den Willen des Angeklagten stellen (RGSt 17, 315; BGHSt 21, 124; BGH NJW 1953, 1314 [BGH 10.04.1953 - 1 StR 145/53]; OLG Hamburg NJW 1978, 1172); LR-Gollwitzer, StPO, 24. Aufl., § 244 Rz. 96; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. S. 352, 377; Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 129 f).

14

Der Verteidiger ist nach alledem nicht Vertreter des Angeklagten. Er ist nicht, wie der Rechtsanwalt in anderen Verfahrensordnungen, Prozeßbevollmächtigter (vgl. Beulke, a.a.O., S. 53 ff, 163), sondern er kann grundsätzlich unabhängig von dem Angeklagten und selbständig neben ihm vorgehen. Seine Erklärungen zur Sache, ob schriftlich oder in der Hauptverhandlung, sind nicht Erklärungen des Angeklagten. Deshalb dokumentieren die Schriftsätze vom 23.9., 25.11. und 3.12.1985 nicht das, was der Angeklagte selbst zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen äußert, sondern sie sind prozeßrechtlich Darstellungen des Verteidigers. Sie sind damit in keiner Hinsicht Beweismittel, die als Urkunden zum Gegenstand einer Beweiserhebung gemacht werden können. Sie waren nicht verlesbar.

15

Vereinzelt wird allerdings die Auffassung vertreten, die vom Verteidiger abgegebene Einlassung sei dann als Urkunde verlesbar, wenn sie insoweit in Vertretung des Angeklagten abgegeben ist, als dessen gedankliche Urheberschaft feststeht (OLG Hamm JR 1980, 82; LR-Gollwitzer, a.a.O., § 249 Rz. 13; Günter DRiZ 1971, 381). Aus dem von der Revision zutreffend mitgeteilten Wortlaut der Schriftsätze ergibt sich dementgegen, daß es sich um Formulierungen der Verteidiger und damit um Verteidigererklärungen handelt. Allein der Satz in dem Schriftsatz vom 23.9.1985: "Hierzu erklärt unser Mandant, daß er gegen 2.30 Uhr, von A. zu Fuß kommend, zu Hause eingetroffen ist und sich, wie erwähnt, gegen 2.30 Uhr schlafen gelegt hat", könnte nach seinem Wortlaut als von dem Angeklagten als Urheber herrührend angesehen werden. Dieser Satz trägt die Beweisführung des angefochtenen Urteils allein nicht.

16

Außerdem hält der Senat die Differenzierung zwischen Erklärungen des Angeklagten und des Verteidigers Innerhalb von dessen schriftlichen Ausführungen und die Behandlung der ersteren als verlesbare Urkunde für verfehlt. Sachverhalte, die dem strafprozeßrechtlichen Strengbeweis unterliegen, dürfen grundsätzlich nur unter Wahrung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit in die Hauptverhandlung eingeführt werden (§ 250 StPO). Wenn die Beweisaufnahme sich darauf erstrecken soll, was der Angeklagte seinem Verteidiger zwecks Weitergabe an das Gericht gesagt hat, so kann deshalb nicht dessen Schriftsatz als Urkunde darüber Auskunft geben. Zulässige Beweismittel hierüber sind nur die Erklärungen des Angeklagten selbst und die Bekundungen seines Verteidigers als Zeuge (vgl. Fezer JR 1980, 83). Dieser kann die Aussage darüber freilich verweigern (§ 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO). Eine "Vertretung" bei der Abgabe von schriftlichen Erklärungen zur Sache i.S. des § 163 a Abs. 1 Satz 2 StPO kommt ebensowenig in Betracht wie bei einer Vernehmung zur Sache (vgl. RGSt 44, 284).

17

IV.

Der Senat hält es für angebracht, die Sache nunmehr an eine kleine Strafkammer eines anderen Landgerichts, nämlich des Landgerichts Göttingen, zurückzuverweisen.