Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 04.08.2022, Az.: 1 A 17/22

Asylfolgeverfahren; Familienflüchtlingsschutz; Feststellungsinteresse; Feststellungsklage; Fortsetzungsfeststellungsklage

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
04.08.2022
Aktenzeichen
1 A 17/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59758
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Klage auf Feststellung, dass die im Asylfolgeverfahren getroffenen Unzuläs-sigkeitsentscheidung des Bundesamtes von der Antragstellung bis zum während des gerichtlichen Verfahrens eingetretenen Tods des als Flüchtling anerkannten Stammhalters rechtswidrig war, ist mangels Feststellungsinteresse unzulässig.

Tatbestand:

Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihres Asylfolgeantrags als unzulässig.

Die 35 Jahre alte Klägerin zu 1) und ihre fünf minderjährigen Kinder, die Kläger zu 2) bis 6), sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Die Kläger zu 2) bis 5) sind in der Russischen Föderation geboren, die Klägerin zu 6) ist in der Bundesrepublik Deutschland. Die Klägerin zu 1) hat ein sechstes Kind, das ebenfalls in Deutschland geboren worden ist. Die Kläger zu 1) bis 5) reisten gemeinsam mit dem Familienvater nach eigenen Angaben über Polen im November 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten im März 2017 Asylanträge. Mit Bescheid vom 24.01.2018 wurden die Anträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) abgelehnt. Im Klageverfahren wurde die Beklagte mit Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 21.01.2020 – 4 A 136/18 – verpflichtet, dem Familienvater die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Hinsichtlich der Kläger im vorliegenden Verfahren wurde lediglich das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgehoben. Mit Bescheid vom 02.03.2020 wurde dem Familienvater Flüchtlingsschutz gewährt.

Am 22.10.2020 beantragten die Kläger die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag) und verwiesen auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Familienvater. Mit Bescheid vom 23.11.2020 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 24.01.2018 bezüglich der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, 7 AufenthG ab (Ziffer 2) und ordnete ein auf drei Monate ab dem Tag der Ausreise befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an (Ziffer 3). Zur Begründung verwies das Bundesamt im Wesentlichen darauf, dass der Antrag nach Ablauf der gesetzlichen Drei-Monats-Frist aus § 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 3 VwVfG gestellt worden sei.

Die Kläger haben am 08.12.2020 Klage erhoben.

Der Familienvater verstarb am XX.XX.2022 an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung.

Die Kläger tragen zur Begründung ihrer Klage nunmehr vor, die Klägerin zu 1) sei alleinerziehende Mutter von sechs Kindern und könne im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation dort keine ausreichende Lebensgrundlage für sich und die Kinder schaffen. Ihre Familie habe keine überschüssigen Mittel, um sie zu unterstützen.

Die Kläger beantragen,

1. festzustellen, dass die Ablehnung des Antrags als unzulässig gemäß Ziff. 1 des Bescheids vom 23.11.2020 für den Zeitraum vom 22.10.2020 bis zum XX.XX.2022 (Todestag des Stammhalters) rechtswidrig war,

2. unter Aufhebung von Ziff. 2 und 3 des Bescheids vom 23.11.2020 die Beklagte zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufentG festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist darauf, dass die sozioökonomische Lage in der Russischen Föderation zwar schwierig sei, es aber auf niedrigem Niveau Sozialleistungen gebe. Außerdem könnten die Kläger Rückkehrhilfen beanspruchen; insoweit werde auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.04.2022 – 1 C 10.21 – verwiesen.

Die Kammer hat mit Beschluss vom 01.07.2022 den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Die Klägerin zu 1) ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört worden. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akten der Beklagten und der zuständigen Ausländerbehörde verwiesen.

Entscheidungsgründe

Das Verfahren war im Umfang der sinngemäß erklärten Klagerücknahme einzustellen (hierzu I.3.). Im Übrigen hat die Klage keinen Erfolg. Sie ist mit dem Antrag zu 1) bereits unzulässig (hierzu I.1, 2), mit dem Antrag zu 2) zulässig, aber unbegründet (hierzu II.).

I.

Die als (Fortsetzungs-)Feststellungsklage fortgeführte Anfechtungsklage gegen Ziffer 1 des Bescheids vom 23.11.2020 ist unzulässig.

1.

Die ursprünglich erhobene Anfechtungsklage gegen Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids kann nicht als Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) fortgeführt werden.

§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist nicht direkt anwendbar, weil sich der Unzulässigkeitsausspruch durch den Tod des als Flüchtling anerkannten Familienvaters („Stammhalters“) nicht erledigt hat, sondern vielmehr – in Ermangelung anderer nachträglich eingetretener Umstände, die die Flüchtlingseigenschaft der Kläger begründen könnten – rechtmäßig geworden ist.

Aber auch eine analoge Anwendung von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO kommt vorliegend nicht in Betracht. Grundsätzlich ist § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog anwendbar auf solche Konstellationen, in denen eine nach Erlass des Bescheids eingetretene Änderung der Sach- oder Rechtslage dem Begehren materiell-rechtlich den Boden entzogen hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 113 Abs. 109).

Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt der Übergang von einem Verpflichtungs- zu einem Feststellungsbegehren nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO voraus, dass der Streitgegenstand nicht ausgewechselt oder erweitert wird. Das ergibt sich aus dem Zweck, dem die Fortsetzungsfeststellungsklage dient. Sie soll verhindern, dass ein Kläger, der infolge eines erledigenden Ereignisses seinen ursprünglichen, den Streitgegenstand kennzeichnenden Antrag nicht weiterverfolgen kann, um die „Früchte“ der bisherigen Prozessführung gebracht wird. Er darf daher das in der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage subsidiär enthaltene Feststellungsbegehren als Hauptantrag fortführen, wenn er ein entsprechendes Feststellungsinteresse vorweisen kann. Ohne weiteres zulässig ist eine solche Fortsetzungsfeststellungsklage mithin nur, wenn der Streitgegenstand von dem bisherigen Antrag umfasst war (BVerwG, Urt. v. 24.01.1992 - 7 C 24.91 -, BVerwGE 89, 354, 355, juris Rn. 7; Urt. v. 16.05.2007 - 3 C 8.06 -, BVerwGE 129, 27, 30, Rn. 18, juris Rn. 18). Daran fehlt es, wenn das ursprüngliche Verpflichtungsbegehren einen anderen Zeitpunkt betrifft als das spätere Feststellungsbegehren. Bestandteil des Streitgegenstands der Verpflichtungsklage ist nicht die Feststellung, dass der Verwaltungsakt, in dem die Ablehnung nach außen Gestalt gefunden hat, rechtswidrig ist, sondern die Feststellung, dass die Weigerung der Behörde in dem für das Verpflichtungsbegehren entscheidenden Zeitpunkt, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen, die Rechtsordnung verletzt. Eine Weiterführung des Verfahrens mit dem Antrag, der ablehnende Bescheid sei rechtswidrig gewesen, ist daher auf der Grundlage des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nur zulässig, wenn der für eine solche Feststellung maßgebliche Zeitpunkt sich mit dem des bisherigen Verpflichtungsbegehrens deckt. Andernfalls geht der Fortsetzungsfeststellungsantrag über den ursprünglichen Streitgegenstand hinaus. Richtet sich nach dem einschlägigen materiellen Recht die Begründetheit der Verpflichtungsklage nach dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, so muss auch der Fortsetzungsfeststellungsantrag diesen Zeitpunkt betreffen (BVerwG, Urt. v. 24.01.1992, a.a.O., S. 356, juris Rn. 8). Weicht der Feststellungsantrag hiervon ab, so ist er nicht schon nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Vielmehr liegt dann eine Klageänderung vor, die nur unter den Voraussetzungen des § 91 VwGO zulässig ist (BVerwG, Urt. v. 28.04.1999 - 4 C 4.98 -, BVerwGE 109, 74, 78, juris Rn. 16 f.; Urt. v. 16.05.2007, a.a.O., Rn. 18).

Diese Rechtsprechung ist auf die hier ursprünglich erhobene Anfechtungsklage übertragbar, weil nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ist. Auch in den Konstellationen wie der vorliegenden, in denen der den Schutzanspruch tragende Umstand, nämlich die Flüchtlingsanerkennung des Familienvaters, erst im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens durch dessen Tod weggefallen ist, ist nicht auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.10.2006 - 1 B 175.06 -, juris Rn. 4).

Die Kläger haben nach dieser Maßgabe den Streitgegenstand der ursprünglich erhobenen Anfechtungsklage geändert, indem sie den gesamten Zeitraum des Asylfolgeverfahrens ab Antragstellung bis zum Tod des Familienvaters zum Gegenstand der Feststellungsklage gemacht haben, ohne dass es auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz ankommen soll.

2.

Der geänderte Klageantrag ist auch nicht als Feststellungsklage nach § 43 VwGO zulässig.

Der Übergang auf die hier statthafte Feststellungsklage durch Antragstellung in der mündlichen Verhandlung stellt eine Klageänderung dar, die den Anforderungen an § 91 VwGO genügen musste. Nach § 91 Abs. 1 VwGO ist eine Änderung der Klage zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält. Hier liegt in dem Klageabweisungsantrag der Beklagten in der mündlichen Verhandlung keine rügelose Einlassung i.S.d. § 91 Abs. 2 VwGO, weil sich der Beklagtenvertreter zum Feststellungsantrag inhaltlich nicht geäußert hat, sondern sogleich Klageabweisung beantragt hat (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 91 Rn. 17). Die Klageänderung ist hier allerdings sachdienlich, weil ein weiterer Prozess vermieden wird, dem kein anderer Prozessstoff zugrunde läge wie dem vorliegenden.

Der Klage fehlt es aber am Feststellungsinteresse, § 43 Abs. 1 VwGO. Das berechtigte Interesse schließt jedes als schutzwürdig anzuerkennende Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art ein (Kopp/Schenke, a.a.O., § 43 Rn. 23). Hier berufen sich die Kläger darauf, dass ihnen die Feststellung bei möglichen, in der Zukunft liegenden Anträgen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis rechtliche Vorteile bringen könnte. Diese Vorteile sind nicht ersichtlich.

Soweit der Erwerb oder die Ausübung eines Rechts oder eine Vergünstigung von der Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet abhängig ist, wird grundsätzlich nach § 55 Abs. 3 AsylG die Zeit eines Aufenthalts, in der der Ausländer über eine Aufenthaltsgestattung verfügte (§ 55 Abs. 1 AsylG: ab Stellung eines Asylantrags für die Dauer des Asylverfahrens), nur dann angerechnet, wenn der Ausländer als Asylberechtigter anerkannt ist oder ihm internationaler Schutz zuerkannt wurde. Der Gesetzgeber knüpft nach dem Wortlaut der Norm ausdrücklich an die Asylanerkennung oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes an (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.03.2007 - 5 C 8.06 -, BVerwGE 128, 254, 256, Rn. 10, juris Rn. 10; Hess. VGH, Beschl. v. 07.02.2012 - 5 D 2410/11 -, juris Rn. 4; Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 4: Asylrecht, Stand Juni 2022, § 55 AsylG, Rn. 41). An einer solchen fehlt es hier und wird von den Klägern auch nicht mehr angestrebt.

Soweit das Aufenthaltsgesetz Ausnahmen von § 55 Abs. 3 AsylG bei der Anrechnung von Zeiten vorangegangener Asylverfahren kennt (vgl. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 Nr. 1, Abs. 4 Satz 3 AufenthG), kommt es dabei nicht darauf an, ob ein Anspruch auf Asylanerkennung oder Zuerkennung internationalen Schutzes bestanden hätte. Es genügt vielmehr, dass ein Asylverfahren durchgeführt worden ist und die weiteren Voraussetzungen vorliegen.

3.

In der Klageänderung lag sinngemäß die Rücknahme der ursprünglichen Anfechtungsklage, soweit sie sich auf Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids bezog. Insoweit war die Klage einzustellen, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO.

II.

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Norm lässt auch die Berücksichtigung von Gefahren zu, die nicht vom Staat oder staatsähnlichen Organisationen ausgehen.

In Betracht kommt aufgrund des Vortrags der Kläger, sie könnten im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation weder aus eigener Kraft noch durch Unterstützungsleistungen der Großfamilie eine (für das Überleben) ausreichende Lebensgrundlage erlangen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Danach darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können in besonderen Ausnahmefällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen. Es sind allerdings strengere Maßstäbe anzulegen, sofern es an einem verantwortlichen (staatlichen) Akteur fehlt: Schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur in ganz außergewöhnlichen Fällen begründen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen. Solche ganz außergewöhnlichen Umstände können auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt, welche Träger des gleichen Merkmals sind oder sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (vgl. EGMR, Urt. v. 13.12.2016, - Nr. 41738/10, R. /Belgien -, NVwZ 2017, 1187 Rn. 183, juris). In einem solchen Fall kann ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausnahmsweise etwa dann vorliegen, wenn die Abschiebung, wenngleich nicht unmittelbar zum Tod des Betroffenen, so doch zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ aufweisen. Diese kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, BVerwGE 166, 113, Rn. 12, juris Rn. 12, m.w.N.; Nds. OVG, Beschl. v. 20.12.2019 - 10 LA 192/19 -, juris Rn. 21). Bei Familien mit Kindern kann sich eine Gefährdung ihrer geschützten Rechte auch daraus ergeben, dass der bzw. die Betroffene(n) nicht zugleich die eigene Existenz und die seiner bzw. ihrer Familie sichern können würden (BVerwG, ebd., Rn. 25 bis 28).

Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen, somit durch eigene Arbeit oder die Inanspruchnahme der Hilfe- oder Unterstützungsleistungen Dritter wie etwa Angehörigen oder nichtstaatliche Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen auslösen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.09.2021 - 1 C 3.21 -, juris Rn. 25 ff.; Urt. v. 21.04.2022 - 1 C 10/21 -, juris Rn. 17).

Hieran gemessen besteht keine tatsächliche Gefahr, dass die Klägerin zu 1) und ihre Kinder im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation ihre elementarsten Bedürfnisse nicht mehr befriedigen könnten. Die humanitären Bedingungen für kinderreiche Familien sind in der Russischen Föderation auch unter den Bedingungen der aktuellen, durch die internationalen Sanktionen gegen das Land verschärfte Wirtschaftskrise schon nicht so schlecht, dass sie extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse darstellen. Den Klägern wird im Fall ihrer Rückkehr der Zugang zu den bestehenden Sozialleistungen offenstehen, nämlich zum Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Es gibt insbesondere ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren, aber auch an Kinder bis zu 18 Jahren, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (Auswärtiges Amt, Lagebericht Russische Föderation, Stand Oktober 2020, vom 02.02.2021 i.d.F. vom 21.05.2021, S. 21). Nicht berücksichtigen kann die Einzelrichterin hingegen mögliche Rückkehrhilfen, weil zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht feststand, ob die Kläger hierfür in Betracht kommen.

Im Übrigen können die Kläger auch mit nichtstaatlicher Unterstützung rechnen. Es ist zwar fernliegend davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1), die nach eigenen Angaben über keine Berufsausbildung verfügt und nach eigenen Angaben noch nie in berufstätig war, als alleinerziehende Mutter von sechs zum Teil sehr jungen Kindern in absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit aufnehmen könnte. Aufgrund ihrer Angaben in der mündlichen Verhandlung ist aber davon auszugehen, dass sie im Fall ihrer Rückkehr Obdach und Versorgung durch Angehörige erfahren könnte. So antwortete sie in der mündlichen Verhandlung auf die ausdrückliche Frage, ob ihre Wohnung im Haus der Schwiegereltern noch zur Verfügung stehe, lediglich, dass das Haus nach dem Tod ihrer Schwiegereltern auf einen Schwager übergehen werde. Dass die Wohnung belegt sei oder der Schwager sie nicht aufnehmen würde, gab sie nicht an. Ihre eigenen zahlreichen Geschwister und Schwager verfügen jeweils zwar über eigene Familien, haben nach ihren Angaben aber auch Gärten, die der Versorgung dienen. Der enge Familienverband in Tschetschenien dürfte ausschließen, dass sie mit ihren Kindern nicht in die Versorgung jedenfalls mit Lebensmitteln einbezogen werden würde.

Das unter Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnet aus den Gründen des Bescheids, die sich die Einzelrichterin zu eigen macht, ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.