Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 25.02.2003, Az.: 4 A 321/01

Eingliederungshilfe; erhöhter Bedarf; geistige Behinderung; Hilfe zum Lebensunterhalt; konkreter Bedarf; notwendiger Lebensunterhalt; Pauschalbetrag; Pauschalsatz; Pflegefamilie; Pflegegeld; Pflegeperson; sozialhilferechtlicher Bedarf; Unterbringungskosten; Vollzeitpflege; Überdeckung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
25.02.2003
Aktenzeichen
4 A 321/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 47971
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die Klägerin begehrt von dem Beklagten laufende Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung eines monatlichen Bedarfs in Höhe von 1.056,00 DM.

2

Die 1974 geborene Klägerin ist geistig behindert. Seitdem sich ihr Vater K. -L. B. von ihrer Stiefmutter M. N. getrennt hat, lebt die Klägerin bei Frau N.. Vorher hatte sie bei ihrer leiblichen Mutter und anschließend im Kinderheim gelebt. Sämtliche Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft, zu denen neben der Klägerin und Frau N. auch die drei Töchter von Frau N. gehören, beziehen von dem Beklagten laufende Hilfe zum Lebensunterhalt.

3

Am 1. September 2000 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten, für sie einen erhöhten monatlichen Bedarf von 1.056,00 DM anzuerkennen. Sie bezog sich zur Begründung auf einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade vom 8. Mai 2000 (1 B 539/00), mit dem ein Sozialhilfeträger verpflichtet worden war, einer in einer Pflegefamilie untergebrachten Hilfeempfängerin vorläufig laufende Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung eines monatlichen Bedarfs in Höhe von 1.056,00 DM zu bewilligen. Dies entsprach dem ab dem 1. Januar 2000 für Kinder und Jugendliche in Vollzeitpflege festgesetzten Pauschalbetrag für die materiellen Aufwendungen (d.h. ohne Kosten der Erziehung) in der Altersstufe ab dem vollendeten 14. Lebensjahr. Das Verwaltungsgericht Stade führte in dem genannten Beschluss aus, dass sich die Höhe der Hilfeleistung nach § 3 Abs. 3 Regelsatzverordnung richte. Da die Ermittlung des konkreten Bedarfs bei einem in einer Pflegefamilie untergebrachten Hilfeempfänger im Einzelfall schwierig und nur mit hohem Verwaltungsaufwand möglich sei, komme die Gewährung der Hilfe in Form einer Pauschalierung in Betracht. Aufgrund der Sachkunde des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge spreche Überwiegendes dafür, dass die von diesem empfohlenen und im Bereich des Kinder- und Jugendhilferechts für verbindlich erklärten Pauschalen grundsätzlich geeignet seien, den anfallenden Bedarf zu decken, und auch nicht zu einer Überdeckung führten. Der für Jugendliche ab dem vollendeten 14. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr vorgesehene Pauschalsatz von 1.056,00 DM werde jedenfalls im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch für die 1975 geborene Antragstellerin für angemessen erachtet.

4

Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 16. März 2001 ab. Der dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade zugrunde liegende Sachverhalt beziehe sich grundsätzlich auf Jugendliche, die in einer Pflegefamilie untergebracht seien. Lediglich aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles sei der Satz auch auf eine erwachsene Hilfeempfängerin angewandt worden. Derartige Besonderheiten seien hier nicht erkennbar. Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid am 11. April 2001 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 5. November 2001 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. An die Gewährung einer Leistung nach § 39 SGB VIII seien erhöhte Anforderungen zu stellen. So sei Voraussetzung, dass die Pflegeperson einen Beruf erlernt habe, der sie in besonderem Maße als geeignet für die Vollzeitpflege und ggf. heilpädagogische Maßnahmen erscheinen lasse. Eine solche Ausbildung habe Frau N. nicht vorzuweisen.

5

Die Klägerin hat am 21. November 2001 Klage erhoben.

6

Zur Begründung trägt sie vor, dass sie unstreitig von Frau N. ordnungsgemäß betreut werde und sich in deren Obhut positiv entwickelt habe. Insofern könne es nicht auf die fehlende sozialpädagogische Ausbildung ankommen. Es werde auch kein Pflegerinnengehalt gefordert sondern ein pauschaler Betrag, in dem die Pflegetätigkeit, die Miete und ihre sonstigen Bedürfnisse enthalten seien. Sie sei aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage, ihre Belange selbst wahrzunehmen und auf ihre Pflegemutter als Ansprechpartnerin, Vermittlerin, Begleiterin und Vertrauensperson angewiesen. Diese Leistungen durch die Pflegmutter und deren Familie könnten nicht mit dem Regelsatz eines Haushaltsangehörigen abgegolten werden.

7

Die Klägerin beantragt,

8

den Bescheid des Beklagten vom 16. März 2001 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 5. November 2001 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihr ab dem 1. September 2000 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung eines monatlichen Bedarfs in Höhe von 1.056,00 DM zu bewilligen.

9

Der Beklagte beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Er trägt vor, dass der Tatbestand der geeigneten Pflegeperson nur dann erfüllt sei, wenn der betreuende Pflegeelternteil eine sozialpädagogische Ausbildung habe. Zwar lasse sich dem Beschluss des Verwaltungsgerichtes Stade nicht entnehmen, dass eine besondere Ausbildung vorhanden sein müsse. Ein Pauschalbetrag sei aber nur deshalb zuerkannt worden, weil der konkrete Bedarf nicht ermittelt werden konnte. Dies sei hier anders. Die gesamte Familie erhalte Hilfe zum Lebensunterhalt. Ein konkreter Bedarf sei ermittelt worden. Es würden Regelsatz, Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit und anteilige Unterkunftskosten anerkannt sowie einmalige Beihilfen bewilligt werden.

12

Die Kammer hat der Klägerin mit Beschluss vom 7. Januar 2003 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt G.-B. zur Vertretung in diesem Verfahren beigeordnet.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

14

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.

15

Die Klägerin hat in dem streitigen Zeitraum vom 1. September 2000 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2001 keinen Anspruch auf höhere laufende Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung eines monatlichen Bedarfs von 1.056,00 DM.

16

Nach § 11 Abs. 1 BSHG ist Hilfe zum Lebensunterhalt dem zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Dabei umfasst der notwendige Lebensunterhalt nach § 12 Abs. 1 BSHG besonders Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Gem. § 22 Abs. 1 Satz 1 BSHG werden laufende Leistungen zum Lebensunterhalt außerhalb von Anstalten, Heimen und gleichartigen Einrichtungen nach Regelsätzen gewährt. Nach Satz 2 sind sie abweichend von den Regelsätzen zu bemessen, soweit dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten ist. Gem. § 3 Abs. 3 der Verordnung zur Durchführung des § 22 BSHG (Regelsatzverordnung) werden, wenn jemand in einer anderen Familie oder bei anderen Personen als bei seinen Eltern oder einem Elternteil untergebracht wird, in der Regel die laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt abweichend von den Regelsätzen in Höhe der tatsächlichen Kosten der Unterbringung gewährt, sofern sie einen angemessenen Umfang nicht übersteigen. Diese Vorschrift gilt sowohl für Pflegekinder als auch für die Unterbringung Erwachsener in fremden Familien (Schellhorn, BSHG, 16. Auflage, § 3 RegelsatzVO Rn. 10).

17

Ob die Klägerin in diesem Sinne im streitigen Zeitraum in einer anderen Familie untergebracht gewesen ist, so dass § 3 Abs. 3 Regelsatzverordnung anzuwenden ist, kann dahingestellt bleiben. Zweifel bestehen deshalb, weil der Wortlaut ("wenn jemand in einer anderen Familie ... untergebracht wird") dafür spricht, dass die Vorschrift nicht schon dann eingreifen soll, wenn jemand in einer anderen Familie lebt, sondern voraussetzt, dass die Aufnahme in die andere Familie auf einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder der eines Betreuers beruht. Da die 1974 geborene Klägerin im streitigen Zeitraum volljährig gewesen ist und damit über ihren Aufenthalt grundsätzlich selbst bestimmen konnte, ist fraglich, ob das Tatbestandsmerkmal der Unterbringung hier erfüllt ist. Dies kann letztendlich aber offen bleiben, weil die Klägerin auch bei Anwendung von § 3 Abs. 3 Regelsatzverordnung keine höhere laufende Hilfe zum Lebensunterhalt beanspruchen könnte.

18

Nach § 3 Abs. 3 Regelsatzverordnung ist die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe der tatsächlich anfallenden Kosten der Unterbringung zu gewähren, sofern diese einen angemessenen Umfang nicht übersteigen. Erforderlich sind danach grundsätzlich Ermittlungen zur Höhe der tatsächlichen Kosten jedes einzelnen Bedarfspostens. Da derartige Ermittlungen regelmäßig schwierig zu führen sind und einen hohen Verwaltungsaufwand fordern, zumal sie in jedem Einzelfall wiederholt werden müssten, wird es als rechtmäßig angesehen, wenn die nach § 3 Abs. 3 Regelsatzverordnung zu erbringenden Leistungen pauschaliert werden. Dabei bestehen - jedenfalls für Kinder und Jugendliche - keine Bedenken dagegen, die Pauschale ebenso hoch anzusetzen wie die Pauschalsätze für das Pflegegeld nach § 39 SGB VIII ohne den darin enthaltenen Erziehungsbeitrag. Dies folgt daraus, dass diese Pauschalsätze auf den Ermittlungen des als sachkundig anerkannten Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge beruhen und daher davon auszugehen ist, dass damit der notwendige Lebensunterhalt eines in einer fremden Familie untergebrachten Kindes gedeckt werden kann (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6.12.1990 - 12 A 11538/90 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.3.1983 - 8 A 313/82-, NDV 1983, 280; Schellhorn, BSHG, 16. Auflage, § 3 RegelsatzVO Rn. 10 f.; Fichtner, BSHG, § 22 Rn. 28).

19

Hier konnte der Beklagte die Unterbringungskosten der Klägerin jedoch konkret ermitteln, so dass kein Anlass bestand, auf die Pauschalsätze zurückzugreifen. Entscheidend ist, dass im vorliegenden Fall sämtliche Mitglieder der Familie, in der die Klägerin lebt, Sozialhilfeleistungen beziehen. Dies bedeutet, dass der notwendige Lebensunterhalt der Familie, d.h. insbesondere der Bedarf der einzelnen Familienmitglieder an Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönlichen Dingen des täglichen Lebens von dem Beklagten durch laufende und einmalige Leistungen der Sozialhilfe sichergestellt wird. Die tatsächlich anfallenden Kosten der Unterbringung der Klägerin entsprechen damit den ihr auf der Grundlage ihres konkreten Bedarfs gewährten Sozialhilfeleistungen. Der Klägerin ist im streitigen Zeitraum (z.B. bis Juni 2001) laufende Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung eines monatlichen Gesamtbedarfs von 829,20 DM gewährt worden. Dieser setzte sich zusammen aus 440,00 DM als Regelsatz für einen Haushaltsangehörigen, 88,00 DM als Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit, 291,20 DM für anteilige Mietkosten sowie 10,00 DM für anteilige Heizkosten. Dass der ermittelte Bedarf damit unter der Pauschale des § 39 SGB VIII von 1.056,00 DM liegt, ist unerheblich. Denn diese Pauschale deckt regelmäßig einen Bedarf, der über dem sozialhilferechtlich anzuerkennenden Bedarf liegt, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Haushalt, in dem die Fremdunterbringung stattfindet, insgesamt auf Sozialhilfeleistungen angewiesen ist. Vielmehr ist für den Regelfall davon auszugehen, dass die Mitglieder der fremden Familie keine Sozialhilfeleistungen beziehen und höhere Aufwendungen für den Lebensunterhalt tätigen als sozialhilferechtlich angemessen wäre, so dass auch für die Unterbringung insgesamt höhere Kosten anfallen. Da davon auszugehen ist, dass sich der Lebensstandard des in der Fremdfamilie Untergebrachten an diesem Lebensstandard orientiert, ist es sachgerecht, als Unterbringungskosten die - höhere - Pauschale anzusetzen. Etwas anderes gilt jedoch, wenn - wie hier - alle Haushaltsmitglieder Sozialhilfeleistungen beziehen. Denn dann lebt und wirtschaftet die gesamte Familie auf der Grundlage ihres sozialhilferechtlich anerkannten und vom Sozialhilfeträger gedeckten Bedarfs, so dass auch für den in dieser Familie untergebrachten Hilfeempfänger keine höheren Unterbringungskosten anfallen. Im Übrigen sind mit der Pauschale Bedarfe abgedeckt, für die sonst einmalige Hilfeleistungen erbracht werden.

20

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.