Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 01.04.2020, Az.: L 4 KR 187/18
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 01.04.2020
- Aktenzeichen
- L 4 KR 187/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 71576
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG - 27.03.2018 - AZ: S 62 KR 536/16
Fundstellen
- SchuR 2022, 181
- SchuR 2024, 28
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 27. März 2018 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat auch in der Berufungsinstanz die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Spracherkennungssoftware „Dragon“ hat.
Die im Jahr 2006 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse (KK) familienversichert. Sie leidet infolge einer frühkindlichen Hirnblutung an einer infantilen spastischen Zerebralparese. Sie besucht eine Förderschule mit dem Schwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung. Unter dem 9. März 2016 stellten die Eltern der Klägerin über das Förderzentrum der F., G. einen Antrag auf Gewährung u.a. einer Spracherkennungssoftware. Dem Antrag war beigefügt ein Erprobungsbericht der H. GmbH vom 29. Februar 2016, aus dem hervorgeht, dass die Klägerin eine behindertengerechte PC-Ansteuerung benötige. Die Eingabe über eine Tastatur allein scheinen nicht zielführend zu sein, da sie damit zu langsam sei. Eine Kombination aus Sprachsteuerung (nach gezielter Übung) und Verwendung einer Cherry Tastatur mit Fingerführung erscheine sinnvoll. Vorgeschlagen wurde eine Versorgung mit dem Schulprogramm Multitext, mit der Spracherkennungssoftware Dragon Naturally Speaking und einer Cherry Tastatur mit Fingerführung. In einem Kostenvoranschlag der Firma H. GmbH werden die Kosten mit 1.950,-- Euro angegeben.
Mit Bescheid vom 23. März 2016 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Software Dragon Naturally Speaking ab. Bei der Software handele es sich um einen handelsüblichen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Hierzu würden die Gegenstände zählen, die allgemeine Verwendung finden und üblicherweise von einer großen Zahl von Menschen genutzt würden.
Dagegen richteten sich die Eltern der Klägerin mit Widerspruch vom 4. April 2016. Die Auffassung der Beklagten sei bereits deshalb nicht nachvollziehbar, weil typischerweise kein einziges Kind im Grundschulalter eine derartige Software üblicherweise verwenden würde. Nicht einmal bei Erwachsenen sei diese spezielle Software allgemein verbreitet und werde von einer großen Vielzahl von Menschen genutzt. Dies sei abwegig. Die Klägerin sei aus gesundheitlichen Gründen nicht wie andere Kinder in der Lage, mit der Hand zu schreiben. Sie leide unter einer spastischen Parese; neben den Beinen seien auch die Arme bzw. die Hände betroffen, weshalb es ihr wegen der motorischen Störung nicht möglich sei, in der Schule mitzuschreiben oder ihre Hausaufgaben handschriftlich zu verrichten. Die Software solle der Klägerin ermöglichen, schulisch behindertengerecht mitzuhalten und sowohl in der Schule als auch bei den Hausarbeiten über den Laptop unter Verwendung der speziellen Software am Unterricht teilnehmen zu können. Die angegebene Software sei ein anerkanntes Hilfsmittel und unter der Hilfsmittel-Nr. 16.99.06.3900 im Hilfsmittelverzeichnis eingetragen. Die Kosten für die Software würden deswegen nach Mitteilung der Firma H. GmbH regelmäßig von allen gesetzlichen KKen übernommen.
Die Beklagte beauftragte daraufhin den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Erstellung eines Sozialmedizinischen Gutachtens. In diesem Gutachten vom 29. April 2016 teilte der Sachverständige I. mit, dass die Klägerin infolge einer Hirnblutung an einer spastischen Zerebralparese leide. Die Sprachansteuerung des PCs könne problemlos über die übliche Windows-Software erfolgen. Vor diesem Hintergrund überschreite die Verordnung von Dragon Naturally Speaking das Maß des medizinisch Notwendigen und werde §§ 2 und 12 SGB V nicht gerecht.
Unter dem 21. April 2016 beteiligte die beklagte KK im Rahmen der Amtshilfe den Landkreis J. als Träger der Sozialhilfe. Die von der Klägerin beantragte Dragon Naturally Speaking Software gehe über eine Hilfsmittelversorgung zur Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht in Niedersachsen hinaus. Der Grund hierfür sei, dass es sich bei der Software um einen handelsüblichen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handeln würde. Die Kostenübernahme für Gebrauchsgegenstände sei gemäß § 33 Abs.1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) von der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgeschlossen. Es sei zu prüfen, ob und welche Leistungen vom Träger der Sozialhilfe in diesem Einzelfall zu erbringen wären.
Mit Bescheid vom 9. Juni 2016 lehnte auch der Landkreis J. die Übernahme der Kosten für die Spracherkennungssoftware im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ab. Eine Übernahme der Kosten im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung sei ebenfalls nicht möglich, weil im Rahmen der Sozialhilfe gemäß § 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) nicht über die Entscheidung der KK hinaus geleistet werden könnte. Ob eine Übernahme im Rahmen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft möglich wäre, werde von hier nicht geprüft, da diese Maßnahme vom Einkommen und Vermögen der Eltern abhängig sei. Nach den hier vorliegenden Erkenntnissen lägen die Eltern mit ihrem Einkommen über der Einkommensgrenze.
Unter dem 30. Juni 2016 wurde die Klägerin von der Firma H. GmbH mit der Sprachsoftware Dragon Naturally Speaking Professional für Schüler privat versorgt. Ausweislich der Rechnung vom 4. Juli 2016 beliefen sich die Kosten für die Versorgung auf einen Betrag in Höhe von 595,-- Euro.
Mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 2016 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Spracheingabesoftware sei ein handelsüblicher Gebrauchsgegenstand, der nachweislich nicht ausschließlich zum Gebrauch durch Behinderte und Kranke bestimmt sei. Diese Spracherkennungssoftware sei für einen nennenswerten Teil der Bevölkerung konzipiert und solle sowohl im Beruf als auch im Alltag eine schnelle und genaue Dokumentation gewährleisten sowie ein effizienteres Arbeiten ermöglichen. Sie werde von nicht behinderten Menschen erworben und genutzt. Damit sei sie, unabhängig von der Erkrankung oder Behinderung, von der Verordnung und Bewilligung zulasten der GKV gänzlich ausgeschlossen. Die Beklagte habe zur Überprüfung des Leistungsantrages den MDK eingebunden. Dieser habe in seiner gutachterlichen Beurteilung mitgeteilt, dass die Software aus medizinischer Sicht nicht erforderlich sei. Die Klägerin könne die übliche Windows-Software zur Sprachsteuerung nutzen. Zur Beurteilung, ob die Kosten für die Spracheingabesoftware zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach den Vorschriften des SGB XII getragen werden könnten, habe die Beklagte den Landkreis J. eingebunden. Dieser habe jedoch mitgeteilt, dass eine Kostenübernahme im Rahmen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht möglich sei, da das Einkommen der Eltern über der Einkommensgrenze liege. Der Hinweis, dass andere KKen und auch die Beklagte in anderen Fällen die Kosten getragen hätten, könne leider keinen Einfluss auf die Entscheidung haben. Ein Rechtsanspruch aus Entscheidungen, die etwa aufgrund anderer Sachverhalte oder auch aufgrund von Fehlentscheidung getroffen worden seien, sei nicht ableitbar.
Die Eltern der Klägerin haben am 7. Dezember 2016 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben. Sie haben weiterhin die Erstattung der Kosten für die Spracheingabesoftware „Dragon“ in Höhe von 595,-- Euro begehrt. Die Klägerin sei wegen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht wie andere Kinder in der Lage, mit der Hand zu schreiben. Das Halten eines Stiftes und Schreiben gelinge nur unter größter Anstrengung mit großer Konzentration, die wiederum dann für den Unterrichtsstoff selbst verloren gehe. Das Schreibtempo der Klägerin sei sehr langsam und die Schrift zunehmend unleserlich. Die Klägerin sei besonders stark in den Beinen, daneben aber auch in der Motorik der Hände beeinträchtigt und benötige deshalb individuelle Hilfe. Vorgelegt wurde im erstinstanzlichen Verfahren ein Beratungsgutachten zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung sowie eine ergänzende Stellungnahme vom 9. Juni 2017. Insbesondere aus dem Beratungsgutachten gehe hervor, dass die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung keine formklare, gut lesbare Handschrift habe. Längere Schreibaufträge übernehme daher die Integrationskraft für die Klägerin. Ein Sprachcomputer wäre eine gute Möglichkeit, selbstständig zu arbeiten. Leider sei es ihr und ihrer Familie in der Grundschulzeit nicht gelungen, den Computer gebrauchsfertig einzurichten.
Das SG hat mit Urteil vom 27. März 2018 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2016 verurteilt, die Kosten für die Spracheingabesoftware „Dragon“ in Höhe von 595,-- Euro zu erstatten. Der Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides sei rechtswidrig. Die Beklagte habe zu Unrecht die Erstattung der Kosten abgelehnt. Die zu prüfende Anspruchsgrundlage für einen Kostenerstattungsanspruch sei allein § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Der Anspruch sei nur dann gegeben, wenn die KK die Erfüllung eines Naturalleistungsanspruchs rechtswidrig abgelehnt und der Versicherte sich die Leistung selbst beschafft habe, wenn weiterhin ein Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung bestehe, die selbstbeschaffte Leistung notwendig sei und die Selbstbeschaffung eine rechtlich wirksame Kostenbelastung des Versicherten ausgelöst habe. Dieses sei hier der Fall. Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V seien gegeben. Der Anspruch auf Versorgung mit der Spracheingabesoftware „Dragon“ ergebe sich aus § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach hätten Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich seien, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 3 ausgeschlossen seien. Die Klägerin benötige die hier in Rede stehende Eingabesoftware, um die bei ihr bestehende Behinderung auszugleichen. Die Beklagte könne im vorliegenden Fall nicht damit gehört werden, „Dragon“ stelle ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dar. Die Eigenschaft „allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens“ sei nicht an einem bestimmten Prozentsatz der Verbreitung innerhalb der privaten Haushalte der gesamten Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland zu messen, sondern es sei allein auf die Zweckbestimmung des Gegenstands abzustellen. Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt sowie hergestellt worden seien und die ausschließlich oder ganz überwiegend von diesem Personenkreis benutzt würden, seien nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen. Dies gelte selbst dann, wenn sie millionenfach verbreitet seien. Umgekehrt sei ein Gegenstand auch trotz geringer Verbreitung in der Bevölkerung und trotz hoher Verkaufspreise als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens einzustufen, wenn er schon von der Konzeption her nicht vorwiegend für Kranke und Behinderte gedacht sei. Nach dieser Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) wäre der Erstattungsanspruch der Klägerin abzulehnen. Im vorliegenden Fall sei jedoch zu beachten, dass die Klägerin noch nicht einmal das zwölfte Lebensjahr vollendet habe. Hier solle daher der betroffene behinderte Mensch zum Ausgangspunkt der Beurteilung genommen und gefragt werden, ob der maßgebende Gegenstand für diesen ein Hilfsmittel oder ein Gebrauchsgegenstand sei. Für ein Kind im Alter der Klägerin stelle „Dragon“ gerade keinen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dar. Da die Eingabesoftware darüber hinaus nach § 34 Abs. 4 SGB V als Hilfsmittel auch nicht ausgeschlossen sei, sei der Klage stattzugeben. Das SG hat im Urteil die Berufung zugelassen.
Gegen das am 25. April 2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 2. Mai 2018 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen Bremen eingelegt. Die streitgegenständliche Spracherkennungssoftware sei für einen nennenswerten Teil der Bevölkerung konzipiert und solle sowohl im Beruf als auch im Alltag eine schnelle und genaue Dokumentation gewährleisten sowie ein effizienteres Arbeiten ermöglichen. Dies belege auch der Internetauftritt des Herstellers. Die Software werde von nicht behinderten Menschen erworben und genutzt. Damit sei sie, unabhängig von der Erkrankung oder Behinderung, von der Verordnung und Bewilligung zulasten der GKV gänzlich ausgeschlossen. Die Beurteilung als „Hilfsmittel für Kinder“ aber „Gebrauchsgegenstand für Erwachsene“ liefe außerdem dem Gleichheitssatz des Art. 3 Grundgesetz (GG) zuwider. Die Software würde zudem für den Unterricht benötigt. Es stelle sich zudem die Frage, warum der Schulträger diese Software nicht zur Verfügung stelle. Diese Frage sei insbesondere vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Niedersächsische Schulgesetz in § 4 bestimme, dass die öffentlichen Schulen allen Schülerinnen und Schülern einen barrierefreien und gleichberechtigten Zugang ermöglichen und damit inklusive Schulen seien. Dabei sei das Land verpflichtet, im Rahmen seiner Möglichkeiten das Schulwesen so zu fördern, dass alle in Niedersachsen wohnenden Schülerinnen und Schüler ihr Recht auf Bildung verwirklichen könnten, wobei die Schulträger das notwendige Schulangebot und die erforderlichen Schulanlagen vorzuhalten hätten. Folglich sei die Gemeinde als Schulträger zuständig die Schule, die die Klägerin besuche, so auszustatten, dass es ihr ermöglicht werde, vollständig am Unterricht teilzunehmen. Dies ergebe sich zudem aus dem Hinweis „Einführung der inklusiven Schule in Niedersachsen“, der vom niedersächsischen Kultusministerium herausgegeben worden sei. Dort seien unter Punkt 3.2 inklusive Schulen benannt und der Begriff Barrierefreiheit definiert. Danach bedeute Barrierefreiheit die uneingeschränkte Zugänglichkeit zu den Inhalten, den Methoden und den Medien des Unterrichts. Daraus ergebe sich die Pflicht der Gemeinde, die Schule der Klägerin mit einer solchen Spracheingabesoftware auszustatten. Bei der Spracheingabesoftware handele sich auch nicht um eine personenbezogene Ausstattung, da die Grundschule diese für jedes körperlich eingeschränkte Kind nutzen könne, dass die Schule besuche.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 27. März 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Eltern der Klägerin beantragen schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Soweit die Beklagte bemüht sei, mit dem Hinweis auf die Eintrittspflicht des Schulträgers von der eigenen Verpflichtung abzulenken, könne dem nicht gefolgt werden. Für eine vorrangige Verpflichtung der Behörde fehle bereits eine Anspruchsgrundlage. Die Beklagte sei für den Fall, dass sie von der vorrangigen Eintrittspflicht einer anderen Behörde ausgehe, verpflichtet, die Sache weiterzuleiten. Hier dürften für Teilhabeleistungen die Bestimmungen des SGB IX gelten. Die Beklagte wäre daher gemäß § 14 SGB IX verpflichtet gewesen, den Antrag der Klägerin binnen zwei Wochen an die zuständigen Schulträger weiterzuleiten. Dies habe die Beklagte unstreitig versäumt. Fraglich sei zudem, ob es sich bei der Software überhaupt um eine „Schulanlage“ oder eine „notwendige Einrichtung“ im Sinne der von der Beklagten angeführten Bestimmungen handele. Die Klägerin wäre dann jedenfalls nicht berechtigt gewesen, diese „Einrichtung“ mit nach Hause zu nehmen. Somit könne sich die Beklagte nicht auf eine Leistung des Schulträgers berufen, da die Klägerin die streitbefangene Software natürlich nicht nur in der Schule nutze, sondern auch außerhalb der Schule.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den gesamten Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe
Vorliegend konnte eine Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin nach § 155 Abs. 3 und 4 SGG und ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG getroffen werden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben.
Die zulässige Berufung der Beklagte ist nicht begründet. Das SG hat im Ergebnis zutreffend der Klage stattgegeben und der minderjährigen Klägerin einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die bereits angeschaffte Spracherkennungssoftware Dragon Naturally Speaking Professionell für Kinder in Höhe von in 595,-- Euro zuerkannt.
Wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, kommt als Anspruchsgrundlage für einen Kostenerstattungsanspruch allein § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V in Betracht. Konnte die KK eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch und setzt voraus, dass die selbstbeschaffte Leistung zu den Leistungen gehört, die die KK allgemein als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen hat. Der Anspruch ist nur dann gegeben, wenn die KK die Erfüllung eines Naturalleistungsanspruchs rechtswidrig abgelehnt und der Versicherte sich diese Leistung selbst geschafft hat, wenn weiterhin ein Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung besteht, die selbstbeschaffte Leistung notwendig ist und die Selbstbeschaffung eine rechtlich wirksame Kostenbelastung des Versicherten ausgelöst hat.
Der Leistungsanspruch der Klägerin folgt aus § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Für Hilfsmittel im Sinne des für die KKen gleichermaßen bedeutsamen Rechts der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen konkretisiert § 31 Abs. 1 SGB IX den Anspruch weitgehend inhaltsgleich. Soweit das Hilfsmittel nicht dazu dient, die beeinträchtigte Körperfunktion unmittelbar wiederherzustellen oder auszugleichen, ist es nach ständiger Rechtsprechung des BSG im Rahmen eines nur die Folgen der Behinderung betreffenden, mittelbaren Behinderungsausgleichs von der GKV allerdings nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Dazu gehören das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (stRspr, vgl. z.B. BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 34, Rn. 32, zitiert nach juris). Zu den seit langer Zeit anerkannten Aufgaben der GKV gehört die Herstellung und die Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung (vgl. dazu u.a. BSG, Urteil vom 22. Juli 2004, B 3 KR 13/03R, zitiert nach juris). Benötigt ein Schüler aufgrund einer Krankheit oder Behinderung ein – von der Schule nicht vorzuhaltendes – Hilfsmittel, um am Unterricht in der Schule erfolgreich teilzunehmen bzw. die Hausaufgaben erledigen zu können, hat die KK dieses Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, weil es um die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit geht. Schulfähigkeit bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung ist als ein allgemeines Grundbedürfnis eines Schülers anerkannt. Betroffen sind Kinder und Jugendliche, die als Grund- und Hauptschüler, Realschüler, Gymnasiasten oder Sonderschüler den Unterricht noch im Rahmen ihrer Schulpflicht besuchen.
Insgesamt ist bei Kindern und Heranwachsenden ein großzügigerer Maßstab anzulegen, um ihrer weiteren Entwicklung Rechnung zu tragen (vgl. Beck/Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl., § 33 SGB V, Stand: 28. August 2019, Rn. 30).
Die Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung ergibt sich insbesondere aus dem Gesichtspunkt der Integration des behinderten Jugendlichen in das Lebensumfeld nicht behinderter Gleichaltriger (vgl. BSG, SozR 2200 § 182 B Nr. 13). In der Entwicklungsphase von Kindern und Jugendlichen, zumindest bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres, lassen sich die Lebensbereiche nicht in der Weise trennen wie bei Erwachsenen, nämlich in die Bereiche Beruf, Gesellschaft und Freizeit. In der Rechtsprechung des BSG ist stets nicht nur die Teilnahme am allgemeinen Schulunterricht als Grundbedürfnis von Kindern und Jugendlichen anerkannt worden (BSG, SozR 2200 § 182 Nr. 73: Sportbrille; SozR 3-2500 § 33 Nr. 22: Computer), sondern anerkannt worden ist auch ein Grundbedürfnis der Teilnahme an der sonstigen üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger als Bestandteil des sozialen Lernprozesses (BSG, SozR 3-2500 § 33 Nr. 27). Der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist auf eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes bzw. Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger ausgerichtet. Er setzt nicht voraus, dass das begehrte Hilfsmittel nachweislich unverzichtbar ist, eine Isolation des Kindes zu verhindern. Denn der Integrationsprozess ist ein multifaktorielles Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachtet und bewertet werden können. Es reicht deshalb aus, wenn durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert wird.
Die Klägerin leidet unter einer spastischen Zerebralparese, die sowohl die Beweglichkeit der Beine als auch der Hände beeinträchtigt. Aufgrund der dadurch eingeschränkten Gehfähigkeit ist sie auf einen Rollstuhl oder einen Rollator angewiesen. Zum Zwecke der Betreuung während der Unterrichtszeit ist ihr durch den Landkreis Friesland Eingliederungshilfe in Form von Übernahme der Kosten für eine Integrationshelferin gewährt worden (vgl. Bescheid vom 11. Juli 2017). Aufgabe der Integrationshelferin ist es u.a. längere Schreibaufträge (z.B. Aufsätze) für die Klägerin zu übernehmen. Ausweislich des Beratungsgutachtens der K. -Schule, Förderzentrum ist die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage, so schnell zu reagieren und so schnell zu reden wie andere Kinder. Sie habe aufgrund ihrer Erkrankung keine formklare, gut lesbare Handschrift. Die Integration der Klägerin in den Kreis der gleichaltrigen Schüler rechtfertigt vorliegend die Gewährung der begehrten Spracherkennungssoftware.
Die Integration in den Kreis gleichaltriger Jugendlicher ist nicht schon dann erreicht, wenn der Jugendliche überhaupt in der Lage ist, den Schulbesuch zu absolvieren. Die Teilnahme an Schulbesuchen reduziert sich nicht nur darauf, an den schulischen Pflichtveranstaltungen teilzunehmen; benötigt ein behinderter Jugendlicher erheblich mehr Zeit, um den Anforderungen des Schulunterrichts gerecht zu werden, so ist nach allgemeiner Lebenserfahrung die Bereitschaft seiner in der Klasse anwesenden Altersgenossen als sehr begrenzt anzusehen, mit einem Maß an Toleranz und Rücksichtnahme zu reagieren. Mit der Spracheingabesoftware kann die Klägerin wenigstens im Bereich des Verfassens von Kurz- oder Langtexten in die Lage versetzt werden, entsprechend ihrer Fähigkeiten dem Unterricht zu folgen und trotz der eingeschränkten Beweglichkeit der Hände den schriftlichen Anforderungen im Schulunterricht gerecht zu werden. Dadurch kann sie im Klassenverbund, der ausweislich des Beratungsgutachtens aus insgesamt 10 Schülern mit und ohne Förderbedarf im Bereich Lernen besteht, eine einigermaßen gleichgestellte Leistungsfähigkeit erreichen.
Die Versorgung ist im Einzelfall der Klägerin auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Hilfsmittel als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen ist. Bei der hier begehrten Spracherkennungssoftware handelt es sich ausweislich der Produktinformationen des Herstellers „Nuance“ um eine besonders leistungsstarke Spracherkennung, die den Anwender insbesondere bei der Bewältigung von Büroaufgaben beim Dokumentieren und Schreiben auf dem Computer produktiver machen soll. Sie soll das Erstellen und Bearbeiten von Dokumenten auch außerhalb des Büros ermöglichen. Für die zum Zeitpunkt der Anschaffung 9-jährige und inzwischen 13-jährige Schülerin handelt es sich nach der herstellereigenen Zweckbestimmung und aus der Sicht der Nutzer nicht um ein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es darauf an, ob das Mittel spezifisch der Bekämpfung einer Krankheit und dem Ausgleich einer Behinderung dient. Was daher regelmäßig auch von Gesunden benutzt wird, fällt auch bei hohen Kosten nicht in die Leistungspflicht der Krankenversicherung (vgl. dazu Beck/Pitz, a.a.O., Rdnr. 45ff, m.w.N.). Bei der Ermittlung des Vorliegens der Eigenschaft eines Hilfsmittels der Krankenversicherung ist danach allein auf die Zweckbestimmung des Gegenstandes abzustellen, die einerseits aus der Sicht der Hersteller, andererseits aus der Sicht der tatsächlichen Benutzer zu bestimmen ist. Im Einzelfall der Klägerin soll allerdings das Hilfsmittel dazu dienen, ihre Behinderung, insbesondere die motorischen Einschränkungen der Hände auszugleichen und so eine einigermaßen gleichgestellte Leistungsfähigkeit im schulischen Bereich zu ermöglichen. Es soll der Gewährleistung gleichwertiger Entwicklungsmöglichkeiten dienen. Zu diesem Zwecke wird die Spracherkennungssoftware Dragon Naturally Speaking üblicherweise nicht von Kindern genutzt.
Die Voraussetzungen für einen Ausschluss gemäß § 34 Abs. 4 SGB V liegen ebenfalls nicht vor. Zudem kann die Klägerin nicht auf die Sprachsteuerung ihres Computers verwiesen werden, die jedenfalls im Mitte 2016 noch nicht so entwickelt war, dass bereits das Erstellen und Verfassen von Kurz- und Langtexten für ein Kind unproblematisch möglich war; es ist nicht ausgeschlossen, dass dieses unter Berücksichtigung der Weiterentwicklung z.B. der Windows Sprachsteuerung heute anders zu bewerten wäre (vgl. etwa Liste der Sprachbefehle Windows- Spracherkennung, Microsoft). Dies muss allerdings vom Senat nicht entschieden werden.
Aus den genannten Gründen handelt es sich auch nicht um einen Gegenstand der üblicherweise vom Schulträger zur Verfügung zu stellen ist.
Insgesamt konnte die Berufung keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gründe, die eine Zulassung der Revision rechtfertigen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht ersichtlich.