Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 10.11.2020, Az.: 13 UF 33/20

Zulässigkeit der Entziehung der elterlichen Sorge wegen Passivität des sorgeberechtigten Elternteils

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
10.11.2020
Aktenzeichen
13 UF 33/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 64812
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG Nordhorn - 20.05.2020 - AZ: 11 F 84/20 SO

Amtlicher Leitsatz

Wenn eine reine Passivität des sorgeberechtigten Elternteils für sich gesehen bei einer dem Jugendamt erteilten umfassenden Vollmacht keine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für das Kindeswohl darstellt, ist eine Entziehung der elterlichen Sorge unverhältnismäßig und daher nicht zulässig.

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Beschwerde der Mutter und Antragsgegnerin wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Nordhorn vom 20. Mai 2020 aufgehoben und der Antrag des Jugendamtes des Landkreises (...), der Mutter das Recht der elterlichen Sorge für ihre Kinder BB, geb. am TT. MM 2002, AA, geb. am TT. MM 2005, und CC, geb. am TT. MM 2009, zu entziehen, zurückgewiesen.

  2. 2.

    Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben. Jeder Beteiligte trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.

  3. 3.

    Der Verfahrenswert für die Beschwerdeinstanz wird auf 3.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Durch hiermit vollinhaltlich in Bezug genommenen Beschluss vom 20. Mai 2020 hat das Amtsgericht der alleinsorgeberechtigten Mutter und Antragsgegnerin (nachfolgend Mutter) die elterliche Sorge für ihre Kinder BB, geb. am TT. MM 2002, AA, geb. am TT. MM 2005, und CC, geb. am TT. MM 2009, entzogen und auf das Jugendamt des Landkreises (...) als Vormund übertragen. Hiergegen wendet sich die Mutter mit ihrer Beschwerde, mit welcher sie die Aufhebung des vorgenannten Beschlusses begehrt und hinsichtlich deren Begründung auf die Beschwerdeschrift vom 26. Mai 2020 verwiesen wird.

Das zulässige Rechtsmittel ist in Bezug auf die Kinder AA und BB begründet. In Bezug auf BB ist aufgrund ihrer zwischenzeitlich eingetretenen Volljährigkeit keine Entscheidung veranlasst.

Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht nach § 1666 Abs. 1 BGB die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.

Dabei ist eine Kindeswohlgefährdung immer dann anzunehmen, wenn eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt, wenngleich die zu erwartenden schädigenden Folgen nicht unmittelbar bevorstehen müssen (vgl. OLG Hamm FamRZ 2010, 1745-1746 m. w. N.). Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Defizite auf einem Verschulden oder einem unverschuldeten Versagen der Eltern bei der Erziehung beruhen. Das elterliche Fehlverhalten muss daher ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (vgl. BVerfG FamRZ 1982, 567-570). Wenn Eltern das Sorgerecht für ihr Kind entzogen und damit zugleich die Aufrechterhaltung der Trennung des Kindes von ihnen gesichert wird, darf dies zudem nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (vgl. BVerfG a. a. O.). Dieser gebietet es, dass Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grad des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Der Staat muss daher nach Möglichkeiten suchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen (vgl. BVerfG a. a. O.).

Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen bestand für die Entziehung der elterlichen Sorge und die Übertragung auf das Jugendamt als Vormund nach §§ 1666, 1666a BGB kein Grund. Eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Entwicklung von AA und CC, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls der Kinder mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt, ist nicht ersichtlich. AA und CC leben seit 2013 in unterschiedlichen Pflegefamilien, in denen sie sich nach eigenen Angaben sehr wohl fühlen und auch nach Angaben des Jugendamtes und der Verfahrensbeiständin gut betreut und versorgt werden. Ob die von BB und AA in ihrer jeweiligen Anhörung durch das Amtsgericht geschilderten Zustände im Haushalt der Mutter seinerzeit eine teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge gerechtfertigt hätten, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Soweit die Kinder bereits Schädigungen an ihrem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl erlitten haben, lassen sich diese Folgen durch den nachträglichen Entzug der elterlichen Sorge nicht beseitigen. Dass insbesondere AA auch bei ihrer Anhörung durch den Senat den Wunsch geäußert hat, mit der Vergangenheit abschließen zu wollen und wünscht, dass die Mutter keinen Einfluss mehr auf ihre Entziehung und Entwicklung hat, lässt ebenfalls keine gegenwärtige Gefahr für deren Wohl erkennen, da ein tatsächlicher Einfluss der Mutter gerade aufgrund ihres durch das Jugendamt kritisierten Desinteresses nicht erkennbar ist. Auch dass die Mutter AAs Wünsche, ihren Namen zu ändern und sich taufen zu lassen, nicht unterstützt hat, bewirkt nach dem durch ihre Anhörung durch den Senat gewonnenen Eindruck keine Gefahr im oben ausgeführten Maße. CC hat gegenüber dem Senat keine Vorwürfe gegenüber der Mutter geäußert, wobei nicht aufzuklären war, ob die Mutter ihn sehr selten (so seine Schilderung) oder alle zwei Wochen (so die Schilderung der Mutter) kontaktiert. Auch eine drohende Gefahr aufgrund eines Rückführungsbegehrens der Mutter besteht seit Aufgabe dieses Begehrens im gerichtlichen Termin vom 3. Juli 2017 nicht mehr.

Vielmehr hat die Mutter am 23. Juli 2018 zur Abwehr einer Entziehung der elterlichen Sorge dem Jugendamt eine umfassende Sorgerechtsvollmacht für die seinerzeit drei minderjährigen Kinder erteilt, wodurch dieses in Bezug auf AA und CC weiterhin in der Lage ist, in allen wesentlichen Bereichen am Wohl der Kinder orientierte Entscheidungen zu treffen. Zwar ist unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen GG im Verfahren 11 F 69/17 SO Amtsgericht - Familiengericht - Nordhorn anzunehmen, dass die Mutter nicht zur Betreuung und Erziehung der Kinder in der Lage ist und eine Fremdunterbringung zur Abwehr einer schwerwiegenden Gefahr für das Wohl der Kinder weiterhin erforderlich ist. Gleichwohl kann ein Sorgerechtsentzug, selbst wenn eine Fremdunterbringung geboten ist, zur Abwendung einer dem Kind drohenden Gefahr insbesondere dann entbehrlich sein, wenn der sorgeberechtigte Elternteil die Fremdunterbringung mitträgt. Ist der sorgeberechtigte Elternteil willens, die Gefahr für sein Kind im Wege der Fremdunterbringung abzuwenden, ist familiengerichtliches Einschreiten grundsätzlich nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig (vgl. BVerfG FamRZ 2015, 2120-2123, juris Rdnr. 22).

Die vom Jugendamt kritisierte und auch von AA und CC in ihrer jeweiligen Anhörung ohne wirkliches Bedauern geschilderte Passivität der Mutter stellt für sich gesehen keine Gefahr für das Wohl der Kinder dar. Dass die Mutter hier entgegen der erteilten Vollmacht im Kindeswohlinteresse liegende Entscheidungen zu "torpedieren" versucht, ergibt sich weder aus dem Antrag noch aus den Berichten des Jugendamtes oder der Verfahrensbeiständin. Folglich unterscheidet sich die Sachlage hier deutlich von der, die der durch das Amtsgericht zitierten Entscheidung des OLG Bremen vom 5. Januar 2018 (FamRZ 2018, 689-692, juris) zugrunde lag. Wenn eine reine Passivität des sorgeberechtigten Elternteils für sich gesehen bei einer dem Jugendamt erteilten umfassenden Vollmacht keine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für das Kindeswohl darstellt, ist eine Entziehung der elterlichen Sorge unverhältnismäßig und daher nicht zulässig. Folglich war der angefochtene Beschluss aufzuheben.

Die Kostenentscheidung für die Beschwerdeinstanz beruht auf §§ 20 FamGKG, 81 Abs. 1 Satz 2 FamFG. Die Festsetzung des Verfahrenswertes findet ihre rechtliche Grundlage in §§ 40, 45 FamGKG.