Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 28.07.2010, Az.: 4 A 575/10

Dauerunterbringung eines Jugendlichen bei einer Profifamilie zur Betreuung, Erziehung und Förderung der Entwicklung außerhalb des bisherigen Umfeldes; Wohnsitz der Eltern oder der der Profifamilie als Kriterium für die örtliche Zuständigkeit des Jugendamts bei einem Jugendhilfefall

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
28.07.2010
Aktenzeichen
4 A 575/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 29091
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2010:0728.4A575.10.0A

Fundstellen

  • Jugendhilfe 2011, 253
  • ZfF 2011, 165

Verfahrensgegenstand

Hilfe zur Erziehung,
hier: Örtliche Zuständigkeit

In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Stade - 4. Kammer -
ohne mündliche Verhandlung
am 28. Juli 2010
durch
die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Schröder,
die Richterin am Verwaltungsgericht Teichmann,
die Richterin Pape sowie
die ehrenamtlichen Richter A. und B.
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kostenforderung abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass für den Jugendhilfefall des Minderjährigen C. D. der Beklagte örtlich zuständig ist.

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Der Jugendliche C. D. ist am 31. Dezember 1995 geboren worden. Seine leiblichen Eltern E. D. und F. G. leben getrennt in der Stadt Münster. Das Amt für Kinder, Jugendliche und Familien der Klägerin ist zum Amts-/Personensorgerechtspfleger bestellt.

3

Durch Bescheid vom 7. Oktober 2003 gewährte die Klägerin dem Personensorgerechtspfleger für den Jugendlichen ab dem 24. Juli 2003 Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34 Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) durch die Gesellschaft für familienorientierte Sozialpädagogik H. (GfS H.), I.. Seither lebt der Jugendliche in der sogenannten Profifamilie J. K. -L. und M. in der Stadt N.. Für die Unterbringung und Betreuung des Jugendlichen zahlt die Klägerin ein Entgelt an die GfS H., das im April 2010 bei ca. 3.400,-- EUR lag.

4

Durch Schreiben vom 29. Mai 2008 bat die Klägerin den Beklagten, den Hilfefall zum nächstmöglichen Zeitpunkt in seine Zuständigkeit zu übernehmen, weil es sich um eine Dauerunterbringung des Jugendlichen bei der Profifamilie L. handele und daher gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII das Jugendamt des Beklagten für die Hilfegewährung zuständig sei. Gleichzeitig sicherte die Klägerin die Erstattung der Aufwendungen des Beklagten nach § 89a SGB VIII zu. Die Übernahme des Hilfefalles lehnte der Beklagte durch Schreiben vom 25. Juni 2008 ab, weil es sich bei dem Hilfefall um eine Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB VIII handele und in Niedersachsen Erziehungsstellen, die Heimen angegliedert seien, nicht als Pflegestellen angesehen würden. Hierauf antwortete die Klägerin durch Schreiben vom 17. Juli 2008 und wies unter anderem auf Folgendes hin: Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen habe mit Entscheidung vom 7. Juni 2005 (12 A 2677/02) rechtskräftig entschieden, dass auch bei einer Erziehungsstelle nach§ 34 SGB VIII ein Zuständigkeitswechsel gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII eintreten könne. Für die Anwendung dieser Sonderzuständigkeitsregelung sei es unerheblich, ob eine Hilfe nach

5

§ 33 SGB VIII oder nach § 34 SGB VIII gewährt werde. Ausschlaggebend sei allein, ob die Kriterien des § 86 Abs. 6 SGB VIII erfüllt seien. Wer als Pflegeperson anzusehen sei, lege § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht ausdrücklich fest. Aus der Legaldefinition in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ergebe sich aber, dass Pflegeperson sei, wer ein Kind oder einen Jugendlichen außerhalb des Elternhauses in seiner Familie regelmäßig betreuen oder ihm Unterkunft gewähren wolle. Entscheidend sei eine dauerhafte Einbindung des Kindes in eine andere Familie (Pflegefamilie) und die damit typischerweise einhergehende Ausbildung besonderer persönlicher und familiärer Bindungen zwischen dem Kind und den Pflegepersonen als den zentralen und längerfristig zur Verfügung stehenden Bezugspersonen. Im vorliegenden Fall sei diese Voraussetzung erfüllt. Die Unterbringung habe den Zweck, dem Kind C. D. eine auf Dauer in einer anderen Familie angelegte Lebensform zu bieten.

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Nachdem der Beklagte durch Schreiben vom 19. August 2008 die Übernahme des Hilfefalles erneut abgelehnt hatte, hat die Klägerin am 29. September 2008 Klage erhoben (4 A 1531/08), zu deren Begründung sie auf den bisherigen Schriftverkehr, die Hilfeplanfortschreibung vom 17. April 2008 und die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 2005 Bezug nimmt.

7

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

festzustellen, dass der Beklagte für die weitere Gewährung der Jugendhilfeleistungen für C. D. zuständig ist.

8

Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Er erwidert:

10

Die für C. D. seit 2003 gewährte Hilfe zur Erziehung werde von der Einrichtung GfS H. durchgeführt. Untergebracht sei der Junge bei der Profifamilie K. -L.. Verantwortlich für die Durchführung der Hilfeleistungen sei die Einrichtung GfS H.. Soweit sich die Klägerin auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes Nordrhein-Westfalen berufe, sei dem nicht zu folgen. So sei auch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 24. Oktober 2008 (7 A 10444/08) der von dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen vertretenen Rechtsaufassung entgegengetreten. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz führe unter anderem aus, dass entscheidend sei, ob das zu betreuende Kind bzw. der zu betreuende Jugendliche an die betreuende Person selbst vermittelt worden sei, die deshalb umfassend allein persönlich verantwortlich sei - dann sei von einer Vollzeitpflege im Sinne des § 33 SGB VIII auszugehen - oder ob das Kind bzw. der Jugendliche nicht unmittelbar an die betreuende Person vermittelt worden sei und ob die Verantwortung daher in einem formalen Zusammenhang wahrgenommen bzw. mit anderen geteilt werde und angesichts des organisatorischen Hintergrundes gegebenenfalls unabhängig von der betreuenden Person weiterbestehen würde - dann sei vom Bestehen einer Einrichtung oder einer sonstigen betreuten Wohnform im Sinne des § 34 SGB VIII auszugehen. Auch die Klägerin habe hier mit der Betreuung nicht die Eheleute K. -L. betraut, sondern die Einrichtung GfS H.. So seien auch die Jugendhilfeleistungen der Klägerin nach § 34 SGB VIII ausgestaltet worden und bei den Eheleuten K. -L. handele es sich somit nicht Pflegepersonen im Sinne des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII, so dass diese Vorschrift hier keine Anwendung finden könne.

11

Die Kammer hat auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten durch Beschluss der Berichterstatterin vom 13. Januar 2009 das Ruhen des Verfahrens angeordnet, weil gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Rheinland-Pfalz vom 24. Oktober 2008 die in der Entscheidung zugelassene Revision eingelegt und bei dem Bundesverwaltungsgericht unter dem Aktenzeichen 5 C 345/08 anhängig gewesen ist. Zu einer Revisionsentscheidung ist es nicht (mehr) gekommen, weil in dem dortigen Verfahren die Hilfe nach § 34 SGB VIII in eine Hilfe nach § 33 SGB VIII umgewandelt worden ist. Daraufhin ist das bei der Kammer anhängige Verfahren am 5. Mai 2010 unter dem Aktenzeichen 4 A 575/10 fortgeführt worden.

12

Die Beteiligten haben durch Schriftsätze vom 20. Mai 2010 (Beklagter) und vom 5. Juli 2010 (Klägerin) auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Klägerin (Beiakte B) und des Beklagten (Beiakte A) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14

Die nach § 43 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässige Feststellungsklage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (vgl.§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet.

15

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung, dass der Beklagte gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für den Jugendhilfefall des Jugendlichen C. D. örtlich zuständig ist.

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Gemäß § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII ist oder wird, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher zwei Jahre bei einer Pflegeperson lebt und sein Verbleib bei dieser Pflegeperson auf Dauer zu erwarten ist, abweichend von Absätzen 1 bis 5 dieser Bestimmung derjenige Träger der öffentlichen Jugendhilfe zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die örtliche Zuständigkeit nach dieser Vorschrift setzt danach voraus, dass für ein Kind oder einen Jugendliche eine Pflegeperson vorhanden ist, dass das Kind oder der Jugendliche bei dieser Pflegeperson bereits zwei Jahre lang lebt und dass das Kind oder der Jugendliche bei dieser Pflegeperson voraussichtlich auf Dauer verbleiben wird. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt, weil es sich bei den Eheleuten K. -L., bei denen der inzwischen 14-jähige C. D. seit sieben Jahren lebt und bis zu seiner Verselbständigung voraussichtlich auch weiterhin leben wird, im Verhältnis zu ihm nicht um Pflegepersonen im Sinne des § 86 Abs. 6 SGB VIII handelt. Vielmehr wird der Jugendliche durch die Gesellschaft für familienorientierte Sozialpädagogik H. (GfS H.) in einer sonstigen betreuten Wohnform im Sinne des § 34 SGB VIII von der Profifamilie K. -L., nicht aber in Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII betreut.

17

Für die hier zu treffende Entscheidung folgt die Kammer der - gegenüber dem Urteil des Oberverwaltungsgerichtes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 2005 (12 A 2677/02, JAmt 2006, 95; zitiert nach [...]) - überzeugenderen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichtes Rheinland-Pfalz (Urt. v. 24.10.2008 - 7 A 10444/08 -, JAmt 2009, 92; zitiert nach [...]), die den Beteiligten bekannt ist und hinsichtlich deren Einzelheiten zur Vermeidung von Wiederholungen auf das Urteil vom 24. Oktober 2008 Bezug genommen wird. Danach ist Pflegeperson im Sinne des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII nur, wer der Sache nach auf der Grundlage des § 33 SGB VIII Vollzeitpflege leistet und nicht etwa gemäß § 34 SGB VIII ein Kind oder einen Jugendlichen in einer Einrichtung oder einer sonstigen betreuten Wohnform betreut.

18

Unter Berücksichtigung der in dem Urteil vom 24. Oktober 2008 im Einzelnen benannten Abgrenzungskriterien liegt hier keine Vollzeitpflege im Sinne des § 33 SGB VIII, sondern eine familienähnlich ausgestaltete Hilfeform in einer Einrichtung bzw. einer sonstigen betreuten Wohnform im Sinne des § 34 SGB VIII vor. Zum einen hat die Klägerin mit der Betreuung des Jugendlichen C. D. nicht die Eheleute K. -L., sondern allein die GfS H. betraut, was zugleich bedeutet, dass die GfS H., falls die Eheleute K. -L. ausfallen sollten, die anderweitige Betreuung und Unterbringung des Jugendlichen sicherstellen müsste. Zum anderen ist die "Kostenübernahmegarantie für Heimunterbringung" der Klägerin vom 22. Oktober 2003 ausschließlich gegenüber der GfS H. erfolgt und die monatlichen Betreuungskosten, die mit ca. 3.400,-- EUR (April 2010) deutlich über den Kosten einer Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII (z. Zt. in Niedersachsen für Jugendliche ab 14 Jahren: 848,-- EUR) liegen, werden von der Klägerin nicht an die Betreuer, die Eheleute K. -L., sondern an die Einrichtung selbst gezahlt. Darüber hinaus sprechen aber auch folgende Punkte aus der "Konzeption Profifamilie" (vgl. www.profifamilie.de) des Kinder- und Jugendhilfeverbundes Backhaus (KJHB), zu dem unter anderem die GfS H. gehört, für das Vorliegen einer Einrichtung bzw. sonstigen betreuten Wohnform im Sinne des § 34 SGB VIII:

  • In den Profifamilien werden junge Menschen aufgenommen, die in ihrer Lebenssituation so sehr belastet sind, dass eine Betreuung, Erziehung und Förderung der Entwicklung außerhalb ihres bisherigen Umfeldes in einer Einrichtung über Tag und Nacht notwendig und geeignet ist.

  • Die Mitarbeiter in den Profifamilien bilden zusammen mit den Erziehungsleitern ein vertrauensvolles, professionelles Kollegium, das in einer großen Methodenvielfalt individuell und nach Maßgabe des Hilfeplanes arbeitet.

  • Um der Individualität des Kindes und der Profifamilie gerecht zu werden, achtet die Einrichtung sehr genau darauf, welches Kind in welche Profifamilie kommt. Im Leiterteam der Einrichtung wird unter anderem geprüft, welche Hilfen das Kind benötigt und welche Profifamilie hierfür evtl. geeignet sein könnte.

  • Ein Elternteil in der Profifamilie verfügt über eine pädagogische Ausbildung entsprechend derHeim richtlinien der verschiedenen Bundesländer.

  • Für die Betreuung eines jungen Menschen in einer Profifamilie liegt ein Stellenplan von 1 : 2 zugrunde, das heißt, eine pädagogische Fachkraft nimmt höchstens zwei junge Menschen in der eigenen Familie auf. Diese Fachkraft stellt ihreArbeits kraft durchgängig zur Verfügung und bietet sich somit im Rahmen des Bindungskonzeptes als ständige Bezugsperson dem jungen Menschen an, aber auch der gesamte Familienverband ist der Bezugsrahmen für das Kind.

  • Die Profifamilie ist weisungsgebunden. Der Dienstweg ist einzuhalten, damit die Einrichtung klar und sicher den Erziehungsauftrag gewährleisten kann. Zusammenarbeit mit den Jugendämtern, das Abfassen von Berichten und das Stellen von Anträgen usw. erfolgt über die Erziehungsleitung derEinrichtung.

  • Die Einrichtung stellt jedem Kind in der Profifamilie ein Kinderzimmer zur Verfügung, welches bei der Aufnahme mit dem Kind kindgerecht ausgestattet wird.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß

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§ 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben, weil es sich im vorliegenden Fall nicht um eine Erstattungsstreitigkeit zwischen Sozialleistungsträgern handelt. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus§ 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

21

Die Zulassung der Berufung erfolgt gemäß §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO.

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Rechtsmittelbelehrung

23

Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig.

24

...

Schröder
Teichmann
Pape