Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 17.09.1996, Az.: 4 B 4323/96

Kostenübernähme für eine stationäre Behandlung als Eingliederungshilfemaßnahme ; Feststellung des Ausmaßes der Pflegebedürftigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
17.09.1996
Aktenzeichen
4 B 4323/96
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1996, 24651
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:1996:0917.4B4323.96.0A

Fundstelle

  • NVwZ-RR 1997, 420-421 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Eingliederungshilfe für vorübergehende Wohnheimaufnahme

Antrag nach § 123 VwGO

Die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Braunschweig hat
am 17. September 1996
beschlossen:

Tenor:

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für die vorübergehende Wohnheimaufnahme der Antragstellerin vom 29.9. bis zum 28.10.1996 zu übernehmen.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1

I.

Die am 20.3.1961 geborene und durch ihre Mutter als Betreuerin vertretene Antragstellerin leidet u.a. zu einem organischen Hirnschaden mit geistiger Behinderung und Verhaltensstörungen. Bis zum 15. Lebensjahr besuchte sie die Sonderschule. Seitdem arbeitet sie in der ... Sie ist aufgrund ihrer geistigen Behinderung nicht in der Lage, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Außerhalb der ... wird sie von ihrer 1934 geborenen, verwitweten Mutter betreut. Beide leben zusammen in einer 50 qm großen Eigentumswohnung. Die Mutter der Antragstellerin bezieht eine Witwenrente in Höhe von 1.170,- DM. Die Antragstellerin selbst bestreitet ihren Lebensunterhalt neben dem Werkstattlohn und dem Kindergeld aus ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt. Ein Antrag auf Leistungsgewährung der Pflegeversicherung ist mit Bescheid vom 12.7.1995 bestandskräftig abgelehnt worden, da bei der Antragstellerin die Voraussetzungen für die Annahme erheblicher Pflegebedürftigkeit nicht vorlägen. Für die Zeit der Abwesenheit der Mutter der Antragstellerin vom 24.5. bis 29.5.1995 übernahm die Antragsgegnerin nach Vorlage des Grundanerkenntnisses durch das ... vom 22.5.1995 rückwirkend mit Bescheid vom 4.8.1995 die Kosten des stationären Aufenthaltes in Höhe von 218,- DM/tgl. als Maßnahme der Eingliederungshilfe gem. § 40 BSHG.

2

Da die Mutter der Antragstellerin beabsichtigt, in der Zeit vom 29.9. bis zum 28.10.1996 eine von ihrem Sohn finanzierte Reise nach Australien anzutreten, beantragte sie mit Schreiben vom 27.3.1996 erneut die Kostenübernahme für die vorübergehende stationäre Betreuung der Antragstellerin in dieser Zeit in einem an die ... angegliederten .... Der Tagespflegesatz beträgt nach Mitteilungen eines Mitarbeiters 113,- DM. Das ... lehnte mit Schreiben vom 18.6.1996 nunmehr jedoch die Erteilung eines Grundanerkenntnisses ab, da es sich nicht um eine Eingliederungshilfemaßnahme handele. Vielmehr solle lediglich die Versorgung des Hilfesuchenden während der vorübergehenden Abwesenheit der Pflegeperson sichergestellt werden. Da keine Verpflichtung eines vorrangigen Sozialleistungsträgers bestehe, käme allein eine Kostenübernahme nach §§ 70, 71 BSHG durch die Antragsgegnerin selbst in Betracht. Die Antragsgegnerin lehnte daraufhin die begehrte Kostenübernahme mit Bescheid vom 26.8.1996 aus den zuvor von dem ... angeführten Gründen ab. Die Mutter der Antragstellerin legte als Betreuerin für diese mit Schreiben vom 28.8.1996 gegen diesen Widerspruch ein. In dem Vorlagebericht an das ... weist die Antragsgegnerin ergänzend darauf hin, daß eine Kostenübernahme nach §§ 70, 71 BSHG bzw. als Hilfe zum Lebensunterhalt nicht in Betracht komme, da beide Hilfearten den Betreuungsbedarf der Antragstellerin nicht ausreichend befriedigen würden. Ein Widerspruchsbescheid ist bislang nicht ergangen.

3

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gegenseitig gewechselten Schriftsätze sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin, die Gegenstand der Beratung waren, Bezug genommen.

4

II.

Der zulässige Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet, da die Antragstellerin den für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch, die überwiegende Wahrscheinlichkeit für die materielle Berechtigung ihres Begehrens, glaubhaft gemacht hat und darüber hinaus auch ein Anordnungsgrund, nämlich die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Entscheidung, vorliegt, da andernfalls die notwendige Unterbringung der Antragstellerin während der urlaubsbedingten Abwesenheit ihrer sie in dem notwendigen Umfang versorgenden Mutter nicht sichergestellt ist.

5

Bei der im Rahmen dieses vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nur möglichen summarischen Überprüfung der Rechtslage spricht nämlich Überwiegendes dafür, daß der Antragstellerin ein Anspruch auf die begehrte Kostenübernähme für ihre stationäre Behandlung als Eingliederungshilfemaßnahme nach §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 1 BSHG zusteht. Eine vorrangige Leistungsverpflichtung eines anderen Sozialleistungsträgers besteht insoweit nicht. Insbesondere sind nicht die Voraussetzungen der §§ 38 SGB V, 29 SGB VI, 20 SGB VIII und 56 Abs. 2 Ziff. 4 AFG gegeben. Leistungen nach § 39 SGB XI kann die Antragstellerin nicht in Anspruch nehmen, da sie nach dem Bescheid vom 12.7.1995 nach den damaligen Feststellungen nicht, wie dies erforderlich ist, erheblich pflegebedürftig ist. Da dieser Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach dem 11. Buch Sozialgesetzbuch gem. § 68 a BSHG Bindungswirkung auch für die Entscheidung im Rahmen der Hilfe zur Pflege nach dem BSHG zukommt, somit die Antragstellerin auch insoweit als nicht erheblich pflegebedürftig gilt, sind auch die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nach § 69 b Abs. 1 Satz 2 BSHG schon aus diesem Grund nicht gegeben. Die Kammer weist allerdings darauf hin, daß nach Aktenlage das Ausmaß der geistigen Behinderung der Antragstellerin insbesondere unter Berücksichtigung der im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. u.a. Urt. v. 8.6.1993 - 1 RK 43/92 -, FEVS 45; weitere Nachweise bei Rademacker, RdJB 1996, 223, 227 f.) nunmehr in § 68 Abs. 3 BSHG bzw. § 14 Abs. 3 SGB XI enthaltenen Regelung, wonach der Hilfebedarf gerade auch in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens bestehen kann, wohl doch eine erhebliche Pflegebedürftigkeit der Antragstellerin bedingt und insoweit eine Überprüfung der Feststellungen der Pflegebedürftigkeit sinnvoll erscheint.

6

Ob vorliegend der begehrte Anspruch auf §§ 70, 71 BSHG gestützt werden kann und dessen Voraussetzungen vorliegen, kann hingegen dahinstehen, da es sich insoweit um einen eigenen Anspruch der Mutter der Antragstellerin handelt, der einen Anspruch der Antragstellerin als Haushaltsangehörige auf Hilfe für ihre Betreuung aus einer anderen Vorschrift nicht ausschließt oder einschränkt (vgl. Urt. d. BVerwG v. 2.9.1993 - 5 C 18.90 -, FEVS 44, Nr. 48, S. 241 ff.).

7

Ohne daß dies im vorliegenden Verfahren abschließend geklärt werden kann, geht die Kammer aber aus den nachfolgend angeführten Gründen davon aus, daß es sich bei der von der Antragstellerin begehrten vorübergehenden Unterbringung in dem Wohnheim um eine Maßnahme der Eingliederungshilfe i.S. der §§ 39, 40 BSHG handelt. Die Kammer geht dabei zunächst davon aus, daß entsprechend der Systematik des BSHG und insbesondere auch der Pflegeversicherung zwischen Maßnahmen der Eingliederungshilfe und solchen zur Pflege zu unterscheiden ist. Die Abgrenzung hat dabei nach der Zielrichtung der Maßnahme zu erfolgen. Da es zu den Aufgaben der Eingliederungshilfe gehört, dem Behinderten auch soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen sowie die Folgen einer vorhandenen Behinderung zu beseitigen, ist vorrangig Eingliederungshilfe zu gewähren, solange noch Fortschritte in der selbständigen Lebensführung des Behinderten erreicht werden können (vgl. Mergler/Zink, BSHG-Kommentar, § 39 BSHG, Rdnr. 70 m.w.N.). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß häufig, wenn nicht sogar regelmäßig im Rahmen der Eingliederungshilfe auch Pflegemaßnahmen mit durchgeführt werden. In diesem Fall ist danach zu unterscheiden, ob die Pflegeleistungen als selbständige Leistungen anzusehen sind oder es sich lediglich um eine Annexleistung handelt. Ist letzteres der Fall, so gehen die Pflegeleistungen in den Leistungen der Eingliederungshilfe mit auf und es finden demnach nur die §§ 39, 40 BSHG Anwendung. Anderenfalls ist zwischen den einzelnen Hilfearten je nach Bedarf zu unterscheiden (vgl. Mrozynski, SGb 1995, 104, 108). Nimmt daher ein Hilfeempfänger in einer Einrichtung Eingliederungshilfe in Anspruch und bedarf er als Annex auch gewisser Pflegeleistungen, so handelt es sich mangels Trennbarkeit insgesamt um Eingliederungshilfe (Mrozynski, a.a.O., S. 108; s. ferner Mergler/-Zink, a.a.O., Rdnr. 70). Dementsprechend sollen nach den der Kammer vorliegenden Unterlagen die Angebote für behinderte Menschen bislang überwiegend als Maßnahmen der Eingliederungshilfe gewährt werden (vgl. die Nachweise bei Rademacker, a.a.O., S. 228).

8

Nach diesen Grundsätzen spricht vorliegend im Rahmen der nur möglichen summarischen Prüfung Überwiegendes dafür, daß es sich auch bei der vorübergehenden Unterbringung der Antragstellerin um eine Annexleistung zu der unstreitig eine Eingliederungsmaßnahme darstellende Förderung in der ... darstellt. Nach den übereinstimmenden Angaben der Parteien in diesem Verfahren kann anders nämlich nicht die gebotene Förderung der Antragstellerin sichergestellt werden. Deshalb steht auch der in § 3 a BSHG i.d.F. des Gesetzes vom 23.7.1996 (BGBl. I, S. 1088) geregelte Vorrang der offenen Hilfe einer Verpflichtung der Antragsgegnerin nicht entgegen. Eine anderweitige Möglichkeit, die Antragstellerin während der urlaubsbedingten Abwesenheit ihrer Mutter zu fördern und zu betreuen, besteht nach den Angaben der Parteien nämlich nicht; insbesondere ist es jedenfalls kurzfristig auch nicht möglich, jemanden zu finden, der außerhalb der Zeiten, in denen sich die Antragstellerin in der Werkstatt für Behinderte befindet, diese in ihrer Wohnung umfassend in dem erforderlichen Umfang fördert und betreut. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, daß durch die vorübergehende stationäre Aufnahme unverhältnismäßige Mehrkosten entstehen. Hiergegen spricht schon, daß in der Vergangenheit für eine vergleichbare Maßnahme sogar statt des jetzt geltend gemachten Pflegesatzes in Höhe von 113,- DM ein Tagespflegesatz in Höhe von 218,80 DM übernommen worden ist.

9

Inwieweit die Antragstellerin nach §§ 43 Abs. 1, 85 BSHG zu den Kosten der Unterbringung heranzuziehen ist, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

10

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

11

Rechtsmittelbelehrung

12

Gegen diesen Beschluß ist die Beschwerde an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg statthaft.

13

...

Ungelenk
Hachmann
Kurbjuhn