Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 30.05.2012, Az.: 32 Ss 52/12
Vorliegen eines Falles der notwendigen Verteidigung bei Drohen eines Bewährungswiderrufs
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 30.05.2012
- Aktenzeichen
- 32 Ss 52/12
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 19198
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2012:0530.32SS52.12.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- StA Hannover - 03.01.2012 - AZ: 7451 Js 50858/11
Rechtsgrundlagen
- § 56 Abs. 1 StGB
- § 140 Abs. 2 StPO
- § 338 Nr. 5 StPO
Fundstellen
- NJW-Spezial 2012, 537
- StRR 2012, 322
- StRR 2012, 424-425
- StV 2013, 12
- VRR 2012, 323
- ZAP 2012, 1164
- ZAP EN-Nr. 662/2012
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Es liegt gemäß § 140 Abs. 2 ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn neben den Rechtsfolgen für die verfahrensgegenständliche Tat sonstige schwerwiegende Nachteile für den Angeklagten infolge der Verurteilung zu gewärtigen sind. Zu diesen Nachteilen gehört ein drohender Bewährungswiderruf jedenfalls dann, wenn die zu erwartende Verbüßungsdauer der in früheren Verurteilungen verhängten Freiheitsstrafen ein Jahr überschreitet.
- 2.
Die Rüge der Verletzung von § 140 Abs. 2 i.V.m. § 338 Nr. 5 StPO berücksichtigt das Revisionsgericht selbst dann, wenn diese zwar nicht in einer den Anforderungen von § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechenden Weise ausgeführt ist, bei zugleich zulässig erhobener Sachrüge sich die die Verfahrensrüge ausfüllenden Tatsachen aber vollständig aus dem Urteilsinhalt ergeben.
- 3.
Zur Frage der Wirksamkeit einer Rechtsmittelrücknahme durch den unverteidigten Angeklagten selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung.
In der Strafsache
gegen M. S.,
geboren am xxxxxx 1969 in B.,
wohnhaft H.-B.-Straße, B.
- Verteidigerin: Rechtsanwältin S., B. -
wegen Erschleichens von Leistungen
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft
durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxx, den Richter am Oberlandesgericht
xxxxxx und den Richter am Oberlandesgericht xxxxxx am 30. Mai 2012 einstimmig
beschlossen:
Tenor:
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 3. Januar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hannover zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Angeklagte war durch das Amtsgericht Hannover wegen "Beförderungserschleichung" zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt worden. Das Amtsgericht hatte die Vollstreckung dieser Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt.
Die weder im Verfahren vor dem Amtsgericht noch im Berufungsrechtszug verteidigte Angeklagte hatte gegen das amtsrichterliche Urteil zunächst unbeschränkt Berufung eingelegt, dieses Rechtsmittel aber mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft in der Berufungshauptverhandlung auf die Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt. Das Rechtsmittel blieb ohne Erfolg. Das Berufungsgericht, das von einer wirksamen Beschränkung auf die Aussetzungsfrage ausgegangen ist, hat eine für die Aussetzung gemäß § 56 Abs. 1 StGB erforderliche positive Sozialprognose verneint. Zur Begründung hat die Strafkammer vor allem darauf abgestellt, dass die Angeklagte die hier verfahrensgegenständliche Tat während des Laufs von Bewährungsfristen aus drei verschiedenen Urteilen begangen hat.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Angeklagte mit der Revision. Sie erhebt außer der allgemeinen Sachrüge auch mehrere Verfahrensrügen. Die Angeklagte macht unter mehreren Aspekten die Verletzung der Amtsaufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO geltend. Zudem rügt sie die Verletzung von § 140 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 338 Nr. 5 StPO. Dazu trägt die Revision vor, die Angeklagte sei in der Berufungshauptverhandlung unverteidigt gewesen, obwohl die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vorgelegen hätten. Nach Auffassung der Revision ergibt sich die Notwendigkeit der Verteidigung aus dem Umstand, dass in einem früheren gegen die Angeklagte geführten Strafverfahren ein Sachverständigengutachten eingeholt worden sei. Aus diesem ergebe sich das Vorliegen der Eingangskriterien der §§ 20, 21 StGB bei der Angeklagten. Infolgedessen sei diese nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen und sachgerechte Anträge zu stellen.
II.
Das Rechtsmittel hat auf die im Ergebnis zulässig erhobene Rüge der Verletzung von § 140 Abs. 2 i.V. mit§ 338 Nr. 5 StPO hin Erfolg. Auf die weiteren Verfahrensrügen und die Sachrüge kommt es deshalb nicht an.
1.
Zur Zulässigkeit der Verfahrensrüge hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme ausgeführt:
"Zwar entspricht die von der Angeklagten erhobene Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO nicht den ... Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO, allerdings ist das Revisionsgericht nicht gehindert, bei der Prüfung einer Verfahrensrüge - wie hier §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO - bei zugleich erhobener (zulässiger) Sachrüge den Urteilsinhalt ergänzend zu berücksichtigen (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 344, Rn. 20). ...
Unter Heranziehung des Urteilsinhalts , insbesondere der dort aufgeführten Vorstrafen des Angeklagten, dürfte ... das Revisionsgericht über die Tatsachen verfügen, die zur Prüfung der Frage erforderlich sind, ob der Angeklagten ein Pflichtverteidiger hätte beigeordnet werden müssen."
Auf der Grundlage dieser Auffassung, der der Senat zustimmt, ist der Senat wegen der zulässig erhobenen allgemeinen Sachrüge berechtigt, im Rahmen der Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 5 i.V. mit § 140 Abs. 2 StPO denjenigen Urteilsinhalt zu berücksichtigen, der für die Beurteilung der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 oder 2 StPO relevant ist. Dieser besteht in den Feststellungen über drei zuvor gegen die Angeklagte ergangenen Urteilen, die dort ausgesprochenen Freiheitsstrafen sowie dem Umstand, dass in Bezug auf sämtliche dieser Freiheitsstrafen die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war und die jetzt verfahrensgegenständliche Tat während des Laufs aller drei Bewährungsfristen begangen worden ist. Im Einzelnen handelt es sich um die Urteile des Amtsgerichts Wennigsen vom 2. September 2008 sowie vom 31. August 2010, mit Verurteilungen jeweils wegen zahlreicher Betrugstaten, und das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 8. Februar 2011. Durch dieses Urteil war die Angeklagte wegen Erschleichens von Leistungen in 9 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden. Für den Fall des Widerrufs (§ 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB) der Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer Verurteilung im jetzigen Verfahren hat die Angeklagte aus den drei genannten Urteilen in der Summe die Vollstreckung von 29 Monaten Freiheitsstrafe zu gewärtigen.
2.
Die damit zulässige Verfahrensrüge ist begründet. Es liegt wegen des Fehlens der Mitwirkung eines Verteidigers in der Berufungshauptverhandlung der absolute Revisionsgrund aus § 338 Nr. 5 StPO vor. Es handelt sich gemäß § 140 Abs. 2 StPO um einen Fall notwendiger Verteidigung im Hinblick auf den drohenden Widerruf zuvor gewährter Strafaussetzungen zur Bewährung aus drei unterschiedlichen Urteilen. Die von dem Senat in seinem Beschluss vom 23. Februar 2012 (2 Ws 52/12) über die Beiordnung von Rechtsanwältin S. als (notwendige) Verteidigerin für den Revisionsrechtszug genannten Gründen für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO lagen (spätestens) auch bereits in der Berufungshauptverhandlung vor. Dort hat der Senat ausgeführt:
Die Beiordnung eines Verteidigers war jedoch aus einem anderen Grunde geboten. Zwar kann der Beiordnungsgrund nicht unmittelbar in der Schwere der Tat erblickt werden - die Angeklagte ist wegen Erschleichens von Leistungen zu einem Monat Freiheitsstrafe verurteilt worden -, es ist jedoch anerkannt, dass neben der Rechtsfolge für die verfahrensgegenständliche Tat auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen sind, die die Angeklagte infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 140 Rdnr. 25 m.w.N.). Hierzu gehört insbesondere auch ein drohender Bewährungswiderruf (vgl. BayObLG NJW 1995, 2738; OLG Brandenburg NJW 2005, 521; OLG Düsseldorf StraFo 98, 341; Laufhütte in KK-StPO, 6. Aufl., § 140 Rdnr. 21 m.w.N.).
Die Angeklagte hätte bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung den Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten (Gesamt-)Freiheitsstrafen aus den Urteilen vom 02.09.2008, 31.08.2010 und 08.02.2011 zu erwarten. Mit der gegen die Angeklagte wegen der Tat verhängten Freiheitsstrafe von einem Monat hätte sie im Falle des Widerrufs der zur Bewährung ausgesetzten Strafen insgesamt 29 Monate Freiheitsstrafe zu verbüßen. In der Rechtsprechung wird jedoch bei einer Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe und darüber in der Regel die Mitwirkung eines Verteidigers als notwendig angesehen, ohne dass es sich hierbei um eine starre Grenze handelt (vgl. Meyer-Goßner, § 140 Rdnr. 23 m.w.N.). Die im Widerrufsfalle zu verbüßenden 29 Monate Freiheitsstrafe liegen derart deutlich über der Richtgrenze von einem Jahr Freiheitsstrafe, sodass es geboten ist - und auch bereits im Verfahren vor dem Amtsgericht und dem Landgericht notwendig war -, der Angeklagten einen Verteidiger beizuordnen.
Das Urteil war wegen dieses Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache an eine andere kleine Strafkammer zurück zu verweisen.
III.
1.
In der neuen Hauptverhandlung wird das nunmehr zuständige Gericht auch zu prüfen haben, ob die von der Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung vom 3. Januar 2012 ohne Anwesenheit eines Verteidigers erklärte Beschränkung ihrer Berufung auf die Aussetzung der Vollstreckung der einmonatigen Freiheitsstrafe zur Bewährung rechtlich wirksam ist (vgl. OLG Stuttgart v. 4.6.1999 - 2 Ss 196/99, VRS 98 [2000], 360 f.). Zweifel an der Wirksamkeit dieser Beschränkung, die sich als Teilrücknahme der zunächst unbeschränkt eingelegten Berufung erweist, ergeben sich aus dem Umstand, dass die Angeklagte die Teilrücknahme ihres Rechtsmittels trotz Vorliegens der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung aus § 140 Abs. 2 StPO in der Berufungshauptverhandlung erklärt hat, ohne die Möglichkeit einer vorherigen Beratung durch einen Verteidiger erhalten zu haben.
Da das angefochtene Berufungsurteil wegen des absoluten Revisionsgrundes aus § 338 Nr. 5 StPO vollumfänglich einschließlich der Feststellungen aufzuheben war, braucht der Senat nicht selbst über die Wirksamkeit der Teilrücknahme (Beschränkung) der Berufung der Angeklagten zu entscheiden. Ob ein Angeklagter in Konstellationen notwendiger Verteidigung wirksam einen Verzicht auf sein oder eine Rücknahme seines Rechtsmittel(s) erklären kann, wird in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt (näher Radtke, in: Radtke/ Hohmann, StPO, 2011, § 302 Rn 18; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., 2011, § 302 Rn. 25a jeweils m.w.N.). Das gilt auch bei der Rechtsmittelbeschränkung eines trotz notwendiger Verteidigung nicht verteidigten Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung (siehe OLG Düsseldorf v. 30.9.1994 - 5 Ss 362/94, VRS 88 [1995], 211; OLG Köln v. 3.12.1996 - 1 Ss 595/96, StV 198, 645; vgl. auch OLG Stuttgart a.a.O.).
Der Senat neigt der Auffassung zu, eine Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts bzw. der Rechtsmittelbeschränkung anzunehmen. Anderenfalls würde der gesetzgeberischen Wertung, dass ein Angeklagter jedenfalls in den Fällen der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO ohne Verteidigung zu einer sachgerechten Wahrnehmung seiner Verteidigungsinteressen nicht in der Lage ist, nicht ausreichend Rechnung getragen. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Unwiderruflichkeit von Verzichts- oder Rücknahmeerklärungen in Bezug auf ein Rechtsmittel.
2.
Das neue Tatgericht wird im Übrigen bei der nach Auffassung des Senats gebotenen vollständig neuen Strafzumessung den drohenden Widerruf der bislang gewährten Strafaussetzung zur Bewährung in drei Fällen und die damit bereits in
Aussicht stehende Verbüßung von insgesamt 29 Monaten Freiheitsstrafe durch die Angeklagte zu berücksichtigen haben.