Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 25.05.2012, Az.: 1 Ausl 22/12

Vollstreckung einer in Polen verhängten Freiheitsstrafe wegen Verletzung der Unterhaltspflicht; Auslieferungsersuchen durch einen Europäischen Haftbefehl bei einem Strafverfahren im Ausland; Erfordernis einer sog. beiderseitigen Strafbarkeit

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
25.05.2012
Aktenzeichen
1 Ausl 22/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 16992
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2012:0525.1AUSL22.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hildesheim - 19.04.2012 - AZ: 23 StVK 153/12

Fundstelle

  • NStZ-RR 2013, 24-25

Amtlicher Leitsatz

Ist einem Ersuchen um Vollstreckung einer im Ausland rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe ein Auslieferungsersuchen durch Europäischen Haftbefehl zur Strafvollstreckung vorausgegangen, welches die Bewilligungsbehörde gemäß § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchst. b IRG abgelehnt hat, weil die verurteilte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ihrer Auslieferung nicht zugestimmt hat und weil schutzwürdige Interessen der verurteilten Person an einer Vollstreckung im Inland überwiegen, so steht der Vollstreckbarkeit in Deutschland nicht das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit i.S.v. § 49 Abs. 1 Nr. 3 IRG entgegen, weil diese Regelung gemäß § 83b Abs. 2 Satz 2 i.V.m. 80 Abs. 4 Satz 1 Alt. 2 IRG keine Anwendung findet.

In der Vollstreckungshilfesache
betreffend der polnischen Staatsangehörigen
T. C.,
geboren am xxxxxx 1959 in N. / Polen,
wohnhaft M., W.,
- Beistand: Rechtsanwalt W., H. -
wegen Verletzung der Unterhaltspflicht
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die sofortige Beschwerde
der Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim vom 19. April 2012 durch die Richter am Oberlandesgericht xxxxxx, xxxxxx und xxxxxx am 25. Mai 2012
beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten der Verurteilten als unbegründet verworfen.

Gründe

1

I.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer die Voll-streckung der gegen die Verurteilte in Polen durch das Amtsgericht Stalowa Wola mit rechtskräftigem Urteil vom 13. Dezember 2006 (Az.: II K 343/06) wegen Verletzung der Unterhaltspflicht verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr für zulässig erklärt, in Umwandlung des polnischen Erkenntnisses eine Freiheitsstrafe von einem Jahr festgesetzt und angeordnet, dass auf die festgesetzte Freiheitsstrafe 58 Tage wegen einer bereits gezahlten Geldstrafe und ein weiterer Tag wegen vorläufiger Festnahme anzurechnen sind.

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Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Verurteilten. Sie macht insbesondere geltend, dass das polnische Gericht nicht die Leistungsfähigkeit der Verurteilten festgestellt habe, dass Vollstreckungsverjährung eingetreten sei und dass ihre Tochter auf den Unterhalt verzichtet habe.

3

II.

Die gemäß § 55 Abs. 2 IRG statthafte und gemäß §§ 77 IRG, 306, 311 Abs. 2 StPO form- und fristgerecht erhobene sofortige Beschwerde ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

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Die Gründe der angefochtenen Entscheidung treffen zu. Das Beschwerdevorbringen greift ihnen gegenüber nicht durch.

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1. Insbesondere ist die Strafvollstreckungskammer zu Recht davon ausgegangen, dass das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit i.S.v. § 49 Abs. 1 Nr. 3 IRG nicht der Vollstreckbarkeit entgegensteht. Diese Regelung ist nämlich im vorliegenden Fall gemäß § 83b Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 4 Satz 1 Alt. 2 IRG nicht anzuwenden. Denn dem jetzigen Vollstreckungshilfeersuchen ist ein Auslieferungsersuchen der Republik Polen durch den Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in Tarnobrzeg vom 15. März 2010 (Az.: II Kop 9/10) zur Strafvollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Stalowa Wola vom 13. Dezember 2006 vorausgegangen, welches die Generalstaatsanwaltschaft Celle als Bewilligungsbehörde durch Entscheidung vom 14. Juni 2010 gemäß § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchst. b) IRG abgelehnt hat, weil die Verurteilte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, sie ihrer Auslieferung nicht zugestimmt hat und weil schutzwürdige Interessen der Verurteilten an einer Vollstreckung im Inland überwiegen. Daher ist hier gemäß § 83b Abs. 2 Satz 2 IRG die für deutsche Staatsangehörige geltende Regelung des § 80 Abs. 4 IRG entsprechend anzuwenden, wonach bei Ersuchen um Vollstreckung einer im Ausland rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe die Regelung des § 49 Abs. 1 Nr. 3 IRG u.a. dann keine Anwendung findet, wenn es zu dem Vollstreckungshilfeersuchen aufgrund der fehlenden Zustimmung der oder des Verfolgten zur Auslieferung kommt.

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Der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des § 80 Abs. 4 IRG durch das am 2. August 2006 in Kraft getretene Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vom 20. Juli 2006 (BGBl. I, 1721) ganz bewusst und "bedingungslos" (vgl. Hackner/Schomburg/Lagodny/

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Gleß, NStZ 2006, 663, 668) das tradierte Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit sowohl für die Fälle einer Rücküberstellung nach vorangegangener Auslieferung als auch die Fälle der wegen Fehlens der Zustimmung der oder des Verfolgten abgelehnten Auslieferung - wie hier - abgeschafft. Grund hierfür war, dass nur der Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit es ermöglichte, "den zwingenden Vorgaben von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses nachzukommen" (BT-Drucks. 16/2015, S. 13). Als Alternative sei nach dem Rahmenbeschluss nur die Auslieferung zur Strafvollstreckung auch ohne Zustimmung der oder des Verfolgten in Betracht gekommen. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Wegfall der Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit bestehen nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat sogar ausdrücklich festgestellt, dass ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG "von vornherein" ausscheidet, sofern ein deutscher Staatsangehöriger wegen einer Auslandstat trotz fehlender beiderseitiger Strafbarkeit ausgeliefert wird (BVerfGE 113, 273, 308 [BVerfG 18.07.2005 - 2 BvR 2236/04]). Die Vollstreckung im Inland stellt demgegenüber den deutlich geringeren Eingriff dar (BT-Drucks. aaO).

8

Durch die in § 83b Abs. 2 Satz 2 IRG vorgeschriebene entsprechende Anwendung von § 80 Abs. 4 IRG werden die Staatangehörigen anderer EU-Mitgliedsstaaten, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben und deren schutzwürdige Interessen an einer Vollstreckung in Deutschland überwiegen, hinsichtlich Rücküberstellung und Übernahme der Vollstreckung deutschen Staatsangehörigen vollständig gleich gestellt (Hackner/Schomburg/Lagodny/Gleß, aaO). Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen daher auch insoweit nicht. Abgesehen davon ist ein Vorrang der aus dem EU-Recht folgenden Vollstreckungspflicht anzunehmen (Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß, IRG, 3. Aufl. 4. Lfg. Februar Januar 2008, § 80 Rn. 41). Der deutsche Staat übt mit der Vollstreckung des ausländischen Urteils nicht eigene Strafgewalt aus, sondern unterstützt die Strafrechtspflege eines anderen Staates. Demzufolge unterliegt die Vollstreckungshilfe nicht dem gleichen Maßstab wie die inländische Strafrechtspflege. Das Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit ist dabei - ebenso wie bei der Auslieferung (BVerfGE aaO) - nicht verfassungsrechtlich garantiert (vgl. Böse aaO Rn. 36).

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Als Begrenzungen der unionsrechtlichen Pflicht zur Vollstreckungshilfe kommen nur der europäische ordre-public-Vorbehalt nach § 73 Satz 2 IRG und Art. 1 Abs. 3 RB-EUHb (vgl. Böse aaO; Hackner/Schomburg/Lagodny/Gleß, aaO, 667) sowie Art. 6 EUV i.V.m. Art. 49 Abs. 3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 18. März 2010 - 1 Ws 9/10, OLGSt IRG § 83b Nr. 2) in Betracht. Auch diese stehen der Vollstreckbarkeit hier aber nicht entgegen. Insbesondere ist nicht festzustellen, dass die in Polen verhängte Freiheitsstrafe unerträglich hart ist; denn das deutsche Strafrecht sieht in § 170 StGB für Verletzung der Unterhaltspflicht eine Höchststrafe von drei Jahren vor.

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2. Ebenfalls zutreffend hat die Strafvollstreckungskammer den gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 IRG zu prüfenden Eintritt der Vollstreckungsverjährung nach deutschem Recht verneint. Denn gemäß § 79a Nr. 2 Buchst. b) ruhte die Verjährung, solange der Verurteilten Strafaussetzung zur Bewährung gewährt war. Die hier gemäß § 79 Abs. 3 Nr. 4 StGB fünf Jahre betragende Verjährungsfrist begann daher erst mit dem Widerruf der Strafaussetzung am 14. April 2008 zu laufen.

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3. Die weiteren Einwendungen der Beschwerde sind unerheblich. Sie richten sich gegen die sachliche Richtigkeit des polnischen Urteils, die hier nicht zu prüfen ist. Abgesehen davon steht es auch nach deutschem Recht nicht in der Macht des Unterhaltsberechtigten, mit dem Unterhaltspflichtigen eine Vereinbarung über den Unterhalt zu treffen, die zu Lasten der staatlichen Unterhaltskasse geht.

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III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 77 IRG i.V.m. § 473 Abs. 1 StPO.