Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 01.11.1993, Az.: 1 A 121/93
Rücknahme der Bewilligung von Unterhaltsleistung nach dem Unterhaltsvorschussgesetz; Voraussetzungen des Unterhaltsvorschussgesetzes ; Zielsetzung des Unterhaltsvorschussgesetzes
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 01.11.1993
- Aktenzeichen
- 1 A 121/93
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1993, 17594
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:1993:1101.1A121.93.0A
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 1 UVG
- § 2 UVG
- § 10 BKGG
- § 7 UVG
Verfahrensgegenstand
Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz
Prozessführer
minderjähriger ...,
gesetzlich vertreten durch seine Mutter,
Prozessgegner
Landkreis Verden,
vertreten durch den Oberkreisdirektor, Postfach 15 09, 27281 Verden,
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Nach der Zielsetzung des Unterhaltsvorschussgesetzes soll es den Schwierigkeiten begegnen, die alleinstehenden Elternteilen und ihren Kindern entstehen, wenn der andere Elternteil, bei dem das Kind nicht lebt, sich der Pflicht zur Zahlung von Unterhalt ganz oder teilweise entzieht und hierzu nicht oder nicht in hinreichendem Maße in der Lage ist.
- 2.
Die Verwaltungsvorschrift des § 7 UVG kann in den Fällen nicht zur Anwendung kommen, in denen das Unterbleiben von Unterhaltsleistungen des jeweiligen Elternteiles deshalb erfolgt, weil beide Elternteile aus wirtschaftlichen Gründen hierzu nicht oder nur bedingt in der Lage sind.
In der Verwaltungsrechtssache
hat die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Stade
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 1. November 1993,
an der teilgenommen haben:
Präsident des Verwaltungsgerichts Schmidt
Richter am Verwaltungsgericht Steffen
Richterin Teichmann-Borchers
Ehrenamtlicher Richter
Ehrenamtlicher Richter
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger mit Wirkung vom 1. Februar 1993 Unterhaltsvorschuß zu bewilligen.
Der Bescheid vom 5. Februar 1993 und der Widerspruchsbescheid vom 22. April 1993 werden aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme eines Bescheides, mit dem ihm eine Unterhaltsleistung nach dem Unterhaltsvorschußgesetz bewilligt worden war.
Die Eheleute ..., die Eltern des Klägers, leben seit dem 13. März 1992 getrennt. Von ihren 4 gemeinsamen ehelichen Kindern leben 3 Kinder im Haushalt der Mutter, und zwar Michael, geboren am ... 1977, Liane, geboren am ... 1984, und der Kläger, Clas, geboren am ... 1990. Das Kind Jean, geboren am ... 1981, lebt bei seinem Vater im Landkreis ... Weder die Mutter noch der Vater leisten für die nicht in ihrem Haushalt lebenden Kinder Unterhalt.
Mit Anträgen vom 20. Mai 1992 machte die Mutter des Klägers die Bewilligung von Unterhaltsvorschußleistungen für den Kläger und ihre Tochter Liane geltend. Den Anträgen entsprach der Beklagte mit Bescheiden vom 8. September 1992. Mit einem weiteren Bescheid vom 5. Februar 1993 nahm der Beklagte den Bewilligungsbescheid für den Kläger mit Wirkung vom 1. Februar 1993 gemäß §45 SGB X zurück. Zur Begründung verwies der Beklagte darauf, daß die Kinder Jean und Clas bei je einem der Elternteile wohnten und jeder der Elternteile vereinbarungsgemäß für den vollen Unterhalt des bei ihm lebenden Kindes aufkomme, jedoch keinen Unterhalt für das andere Kind zahle. Daraus folge, daß jedes dieser Kinder so zu behandeln sei, als zahle der andere Elternteil regelmäßig den Mindestunterhalt. Gegen diesen Bescheid hat die Mutter des Klägers mit Schreiben vom 26. Februar 1993 Widerspruch eingelegt, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22. April 1993 als unbegründet zurückgewiesen hat. Am 21. Mai 1993 hat die Mutter des Klägers Klage erhoben, mit der sie geltend macht:
Der Rücknahmebescheid des Beklagten sei rechtswidrig. Es gebe keine gesetzliche Grundlage für den Ausschluß von Unterhaltsvorschußleistungen an den Kläger. Denn anspruchsberechtigt sei das Kind und nicht die Eltern. Es könne somit auch nicht dem Kinde zum Nachteil gereichen, wenn die Eltern ihre Unterhaltsverpflichtungen nicht erfüllten. Die vom Beklagten zur Begründung herangezogene Verwaltungsvorschrift sei mit der gesetzlichen Regelung nicht zu vereinbaren und somit ohne Rechtsgrundlage ergangen. Im übrigen hätten die Mutter des Klägers und ihr getrenntlebender Ehemann keinerlei Vereinbarung darüber getroffen, daß wechselseitig auf Unterhaltsleistungen verzichtet werde. Die Mutter des Klägers müsse vielmehr notgedrungen für den Unterhalt von Clas aufkommen, weil der Vater nicht zahle. Dieser sei dazu wahrscheinlich auch nicht in der Lage, da er Bezieher von Arbeitslosenhilfe sei. Die Mutter des Klägers selbst könne gegenüber ihrem anderen Sohn Jean, der bei seinem Vater lebe, auch keinen Unterhalt leisten, weil sie trotz der von ihr erzielten Einkünfte hierzu nicht in der Lage sei. Nach den Bestimmungen des Unterhaltsvorschußgesetzes müsse der Beklagte somit dem anspruchsberechtigten Kind Leistungen gewähren und bei Bestehen der Leistungsfähigkeit der unterhaltsverpflichteten Eltern den jeweils zur Unterhaltsleistung verpflichteten Elternteil heranziehen. Im übrigen sei auch darauf hinzuweisen, daß die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides nicht vorgelegen hätten, weil die Klägerin und ihr Sohn Clas auf den Bestand des Bewilligungsbescheides vertraut hätten. Grob fahrlässiges Verhalten der Mutter des Klägers bei der Beantragung der Unterhaltsvorschußleistungen sei nicht gegeben.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, ihm Unterhaltsvorschußleistungen beginnend ab dem 1. Februar 1993 zu bewilligen und den Bescheid vom 5. Februar 1993 und den Widerspruchsbescheid vom 22. April 1993 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, der Kläger habe keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschußleistungen. Nach den Verwaltungsvorschriften zum Unterhaltsvorschußgesetz sei der Kläger so zu behandeln, als ob er tatsächlich Unterhalt bekomme. Denn der Vater leiste Unterhalt für Jean, und die Mutter tue dasselbe im Hinblick auf Clas. Für das jeweils andere Kind leiste keiner der Elternteile. Ziel des Gesetzes sei es, einem alleinerziehenden Elternteil für begrenzte Zeit den aus welchen Gründen auch immer ausgefallenen Mindestunterhalt des anderen Elternteils in einem vereinfachten Verfahren zu ersetzen. Dabei solle der Nachrang öffentlicher Leistungen durch den Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Staat wiederhergestellt werden. Die Verwaltungsvorschriften schlössen den Anspruch auf Unterhaltsvorschuß aus, wenn getrenntlebende oder geschiedene Elternteile sich die Betreuung und den Barunterhalt mehrerer Kinder teilten und wechselseitig entweder keine Unterhaltsansprüche geltend machten oder aufrechneten. Dieses Ergebnis sei auch gerechtfertigt, weil nach §1 Abs. 1 UVG nur dann ein Anspruch des Berechtigten bestehe, wenn der andere Elternteil nicht mindestens den Mindestunterhalt leiste. In diesem Fall flössen zwar keine Unterhaltsgelder hin und her, durch Verzicht oder Aufrechnung komme der jeweils andere Elternteil aber seiner Unterhaltsverpflichtung nach, vorausgesetzt, er ist leistungsfähig. Folgte man der Auffassung des Klägers, müßte dem einen Elternteil ein Unterhaltsvorschuß gewährt werden und dieser beim anderen Elternteil wieder eingezogen werden. Derartiges könne nicht Aufgabe des Staates sein. Solange die Eltern selbst keine Hilfe zum Lebensunterhalt in Anspruch nähmen, müsse davon ausgegangen werden, daß sie ihren Kindern den Mindestunterhalt gewährten, ohne daß es hierzu einer förmlichen Vereinbarung zwischen den Elternteilen bedürfe. Der Kläger könne sich im übrigen nicht auf Vertrauensschutz berufen. Denn in dem Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschußleistungen sei nicht der Hinweis enthalten gewesen, daß der Vater für Jean Unterhalt leiste und die Mutter für Jean nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger daher in seinen Rechten. Der Beklagte hat zu Unrecht die Bewilligung von Unterhaltsvorschußleistungen mit Wirkung vom 1. Februar 1993 zurückgenommen. Dazu im einzelnen:
Nach §1 Abs. 1 des Gesetzes zur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfalleistungen (Unterhaltsvorschußgesetz - UVG -) i.d.F. der Bekanntmachung vom 4. Januar 1993 (BGBl. I, S. 38 ff.) hat Anspruch auf Unterhaltsvorschuß, wer das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, im Geltungsbereich des Gesetzes bei einem seiner Elternteile lebt, der ledig, verwitwet oder geschieden ist oder von seinem Ehegatten dauernd getrenntlebt, und nicht oder nicht regelmäßig Unterhalt vom anderen Elternteil mindestens in der in §2 Abs. 1 und 2 UVG bezeichneten Höhe erhält. Der Umfang der Unterhaltsleistung bestimmt sich gemäß §2 Abs. 1 UVG nach der Höhe des Regelbedarfs für nichteheliche Kinder nach §1 Nr. 1 der Regelunterhaltsverordnung vom 25. Juni 1970 (BGBl. I, S. 1010) in der jeweils geltenden Fassung. Nach der am 31. März 1992 in Kraft getretenen 4. Verordnung über die Anpassung und Erhöhung von Unterhaltsrenten für Minderjährige vom 19. März 1992 (BGBl. I, S. 535) beträgt der Regelbedarf eines Kindes bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres für die Zeit vom 1. Januar 1989 bis 30. Juni 1992 monatlich 251,- DM und für die Zeit ab dem 1. Juli 1992 monatlich 291,- DM. Nach §2 Abs. 2 UVG mindert sich diese Unterhaltsleistung um die Hälfte des für ein erstes Kind zu zahlenden Kindergeldes nach §10 des Bundeskindergeldgesetzes, also um 35,- DM. Damit ergibt sich für Claas ein Mindestunterhalt in der Zeit bis Juni 1992 in Höhe von 216,- DM und in der Zeit danach in Höhe von 256,- DM.
Der Kläger erfüllt im vorliegenden Fall die gesetzlichen Voraussetzungen des Unterhaltsvorschußgesetzes und hat damit einen Rechtsanspruch auf Bewilligung der ihm zustehenden Leistungen nach diesem Gesetz auch über den 1. Februar 1993 hinaus. Soweit der Beklagte bei Anwendung der Richtlinien des Bundesministeriums für Familie und Senioren zur Durchführung des Unterhaltsvorschußgesetzes - Stand 1. März 1993 - (MBl. 1993, S. 675 ff.) einen Anspruch des Klägers auf Unterhaltsvorschuß ausschließt, folgt die Kammer dieser Auslegung des Gesetzes durch die genannte Verwaltungsvorschrift nicht. Dort ist unter Ziffer 1.1.9 u.a. folgendes bestimmt:
"Wenn z.B. von zwei Kindern geschiedener oder getrenntlebender Eltern je eines bei einem der Elternteile wohnt und jeder der Elternteile vereinbarungsgemäß für den vollen Unterhalt des bei ihm lebenden Kindes aufkommt, ist jedes dieser Kinder so zu behandeln, als zahle der andere Elternteil regelmäßig den in §2 Abs. 1 und 2 bezeichneten Mindestunterhalt."
Es erscheint schon fraglich, ob die vorstehenden Verwaltungsvorschriften auf den hier zu entscheidenden Sachverhalt überhaupt zugeschnitten sind. Denn von einer Vereinbarung zwischen der Mutter des Klägers und seinem Vater darüber, daß wechselseitig kein Unterhalt an die bei dem jeweils anderen Elternteil lebenden Kinder gezahlt werden solle, kann im vorliegenden Fall nicht die Rede sein. Es spricht vielmehr Überwiegendes dafür, den Normalfall, auf den die Verwaltungsvorschriften zugeschnitten sind, darin zu sehen, daß zwei prinzipiell leistungsfähige Elternteile beteiligt sind. Nur in diesem Idealfall vermag die Kammer die durch die Verwaltungsvorschriften vorgenommene Fiktion nachzuvollziehen.
Darüber hinaus hält die Kammer es aber nicht für vertretbar, wenn die Verwaltungsvorschrift durch die in Textziffer 1.1.9 vorgenommene Auslegung die Anspruchsvoraussetzungen des Gesetzes umgestaltet und somit den Kläger im Ergebnis von Ansprüchen nach dem UVG ausschließt. Denn nach der Zielsetzung des Gesetzes soll es den Schwierigkeiten begegnen, die alleinstehenden Elternteilen und ihren Kindern entstehen, wenn der andere Elternteil, bei dem das Kind nicht lebt, sich der Pflicht zur Zahlung von Unterhalt ganz oder teilweise entzieht und hierzu nicht oder nicht in hinreichendem Maße in der Lage ist. So liegt es hier. Sowohl der Vater des Klägers als auch seine Mutter sind nach dem Inhalt der vorliegenden Akten offenbar nicht in der Lage, für das bei ihrem getrenntlebenden Ehepartner lebende Kind aufzukommen. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll in diesem Fall staatliche Hilfe erfolgen mit der Möglichkeit, diese nach Maßgabe von §7 UVG von dem Verpflichteten zurückzufordern. Die Auslegung durch den Beklagten würde im vorliegenden Fall dazu führen, daß der Kläger, weil seine Mutter aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage ist, dem Sohn Jean Unterhalt zu leisten und von ihrem getrenntlebenden Ehemann für Clas ebenfalls keinen Unterhalt bekommt, gehalten wäre, deswegen auch auf Unterhaltsvorschußleistungen zu verzichten. Im Ergebnis bedeutet dies, daß der Kläger gerade wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Mutter zusätzlich auf Ansprüche nach dem UVG verzichten müßte, obwohl dieses Gesetz gerade dazu geschaffen wurde, in ähnlich gelagerten Fällen unterstützend einzugreifen. Ebensowenig kann die in den Verwaltungsvorschriften zum Ausdruck kommende Überlegung, die Elternteile rechneten mit den ihnen für die bei ihnen lebenden Kinder zustehenden Unterhaltsansprüche wechselseitig auf, durchgreifen. Denn dieses Rechtsgeschäft der Aufrechnung führte bei der von dem Beklagten vorgenommenen Auslegung dazu, daß ein Dritter, nämlich der Kläger, in eigenen Ansprüchen hierdurch beeinträchtigt wurde. Anspruchsberechtigt nach dem UVG ist aber regelmäßig das Kind und nicht der jeweilige Elternteil.
Die Kammer ist daher der Auffassung, daß die von dem Beklagten herangezogene Verwaltungsvorschrift in den Fällen jedenfalls nicht zur Anwendung kommen kann, in denen das Unterbleiben von Unterhaltsleistungen des jeweiligen Elternteiles deshalb erfolgt, weil beide Elternteile aus wirtschaftlichen Gründen hierzu nicht oder nur bedingt in der Lage sind. Falls eine solche Aufteilung der Unterhaltsverpflichtung gegenüber den Kindern im Einzelfall aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Elternteilen stattfindet, mag die Verwaltungsvorschrift - so wie der Beklagte sie versteht - sachgerecht sein. Im vorliegenden Fall jedenfalls kann ihre Anwendung nicht in Betracht kommen.
Die Voraussetzungen für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides des Beklagten vom 8. September 1992 lagen somit nicht vor. Der Bewilligungsbescheid war rechtmäßig, und dem Kläger waren Leistungen auch für die Zeit über den 1. Februar 1993 hinaus zu bewilligen. Der Klage war somit mit den kostenrechtlichen Nebenentscheidungen aus den §§154 Abs. 1, 167, 188 Satz 2 VwGO, 708 Nr. 11 ZPO stattzugeben.
Steffen
Teichmann-Borchers