Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 19.08.2019, Az.: 14 U 141/19

Fahrlässige Herbeiführung eines Verkehrsunfalls; Verhalten bei unklarer Verkehrslage; Fahren mit Schrittgeschwindigkeit

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
19.08.2019
Aktenzeichen
14 U 141/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 43253
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 08.07.2019 - AZ: 19 O 86/18

Fundstellen

  • NJW-Spezial 2019, 649-650
  • SVR 2020, 265-266
  • ZAP 2019, 1111

Amtlicher Leitsatz

1. Auf einem Sonderweg, der eine Mischung des Radverkehrs mit den Fußgängern auf einer gemeinsamen Verkehrsfläche bewirkt, haben Radfahrer auf Fußgänger Rücksicht zu nehmen. Radfahrer haben auf solchen Wegen die Belange der Fußgänger besonders zu berücksichtigen.

2. Insbesondere bei einer unklaren Verkehrslage muss gegebenenfalls per Blickkontakt eine Verständigung mit dem Fußgänger gesucht werden; soweit erforderlich, muss Schrittgeschwindigkeit gefahren werden, damit ein sofortiges Anhalten möglich ist.

3. Diese Maßstäbe gelten erst recht auf Gehwegen, die durch ein Zusatzschild für Radfahrer freigegeben sind. Das Zusatzschild "Radfahrer frei" eröffnet dem Radverkehr nur ein Benutzungsrecht auf dem Gehweg. Den Belangen der Fußgänger kommt in diesem Fall ein besonderes Gewicht zu.

Tenor:

I. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf bis 22.000,00 € festzusetzen.

II. Es wird erwogen, die Berufung der Klägerin gegen das am 8. Juli 2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.

III. Der Klägerin wird Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu binnen drei Wochen seit Zugang dieses Beschlusses gegeben.

Gründe

I.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Eine Entscheidung des Berufungsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist nicht erforderlich. Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten. Die Berufung hat nach vorläufiger Beurteilung auch offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg.

Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Dabei ist der Senat gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die vom Landgericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Im vorliegenden Fall ist unter keinem der vorgenannten Gesichtspunkte eine Änderung der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts veranlasst. Das Landgericht hat die Klage jedenfalls im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgeblich:

1.

Zugunsten der Klägerin kommt ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 1 Abs. 2 StVO und § 229 StGB, jeweils in Verbindung mit § 116 Abs. 1 SGB X, in Betracht.

a)

Entgegen der wohl vom Landgericht vertretenen Auffassung dürfte der Beklagte fahrlässig gehandelt und so die Verletzung des Zeugen M. schuldhaft verursacht haben.

Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, § 276 Abs. 2 BGB. Die Sorgfaltsanforderungen sind für die einzelnen Handlungstypen, je nach der Größe der damit verbundenen Gefahr, unterschiedlich; sie sind nach dem jeweiligen Verkehrskreis zu bestimmen (Palandt, BGB, 78. Auflage, § 276, Rn. 17 mit Rechtsprechungsnachweisen). Auch bei Kindern und Jugendlichen gilt ein objektiver, jedoch auf die Altersgruppe abstellender Maßstab (Palandt, a.a.O. m.w.N.).

Aufgrund der Angaben des Beklagten und der Zeuginnen und Zeugen, soweit deren Aussagen ergiebig waren, und bei lebensnaher Betrachtung des Geschehensablaufs dürfte anzunehmen sein, dass der Beklagte unachtsam auf den Gehweg lief, wo es zur Kollision mit dem Zeugen M. kam. Ob der Beklagte dabei zunächst hinter dem Baum stand und überraschend dahinter hervorsprang oder zwar vor dem Baum, jedoch vom Gehweg wegblickend stand, kann dabei dahinstehen. Von einem 13-jährigen kann erwartet werden, dass er nicht blindlings auf einen Gehweg läuft, weil ein solches Verhalten andere Nutzer des Gehwegs gefährden kann. Dass der Gehweg im Bereich des Unfallorts auch für Radfahrer freigegeben ist (Zusatzzeichen VZ 1022/10), muss dabei nicht gesondert berücksichtigt werden. Denn ein achtloses Laufen auf den Gehweg ist auch geeignet, Fußgänger zu gefährden. Der Umstand, dass der Beklagte mit einem anderen Kind spielte, entlastet ihn im Zusammenhang mit den maßgeblichen Sorgfaltsanforderungen und der Frage, ob diese beachtet wurden, nicht.

b)

Letztlich kann allerdings auch dahinstehen, ob dem Beklagten ein Schuldvorwurf zu machen ist. Denn jedenfalls hat der Kläger durch sein Verhalten den Unfall und damit seine Verletzungen derart überwiegend verursacht, dass ein Verschulden des Beklagten jedenfalls gemäß § 254 Abs. 1 BGB vollständig zurücktritt.

aa)

Zutreffend ist das Landgericht insofern davon ausgegangen, dass gemäß § 254 Abs. 1 BGB in dem Fall, dass bei Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt hat, die Verpflichtung zum Schadensersatz und dessen Umfang insbesondere davon abhängt, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist.

bb)

Des Weiteren hat das Landgericht zu Recht angenommen, dass der Zeuge M. auf dem Gehweg im Bereich des Unfallortes gegenüber Fußgängern besondere Rücksichtnahme schuldete.

Auf einem Sonderweg, der eine Mischung des Radverkehrs mit den Fußgängern auf einer gemeinsamen Verkehrsfläche bewirkt, haben Radfahrer auf Fußgänger Rücksicht zu nehmen (vgl. OLG Köln VersR 2002, 1040 [OLG Köln 29.01.2002 - 3 U 117/01]; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., § 41 StVO, Rn. 248c). Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass kombinierte Fuß- und Radwege, die eine Benutzungspflicht für Radfahrer zur Folge haben, nur dann angelegt werden sollen, wenn dies nach den Belangen der Fußgänger, insbesondere der älteren Verkehrsteilnehmer und der Kinder, im Hinblick auf die Verkehrssicherheit vertretbar erscheint (vgl. die Verwaltungsvorschrift zu den Zeichen 240 und 241 gemeinsamer bzw. getrennter Fuß- und Gehweg). Radfahrer haben demnach die Belange der Fußgänger auf solchen Wegen besonders zu berücksichtigen. Selbstverständlich haben auch Fußgänger auf Radfahrer Rücksicht zu nehmen und diesen die Möglichkeit zum Passieren zu geben; den Radfahrer treffen aber in erhöhtem Maße Sorgfaltspflichten. Insbesondere bei einer unklaren Verkehrslage muss gegebenenfalls per Blickkontakt eine Verständigung mit dem Fußgänger gesucht werden; soweit erforderlich, muss Schrittgeschwindigkeit gefahren werden, damit ein sofortiges Anhalten möglich ist. Auf betagte oder unachtsame Fußgänger muss der Radfahrer besondere Rücksicht nehmen; mit Unaufmerksamkeiten oder Schreckreaktionen muss er rechnen. Diese Maßstäbe gelten erst recht auf Gehwegen, die durch ein Zusatzschild für Radfahrer freigegeben sind. Das Zusatzschild "Radfahrer frei" eröffnet dem Radverkehr nur ein Benutzungsrecht auf dem Gehweg. Den Belangen der Fußgänger kommt in diesem Fall ein besonderes Gewicht zu; insbesondere darf der Radverkehr nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 09. März 2004 [8 U 19/04], Rn. 6f., juris; ebenso: OLG München, Urteil vom 04. Oktober 2013 [10 U 2020/13], Rn. 25f., juris).

cc)

Darüber hinaus trafen den Zeugen M. jedoch auch die erhöhten Sorgfaltspflichten aus § 3 Abs. 2a StVO. Nach dieser Vorschrift, die auch für Radfahrer gilt (vgl. auch König, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 3 StVO, Rn. 29a), muss sich derjenige, der ein Fahrzeug führt, gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies verlangt von dem Fahrer das Äußerste an Vorsicht, Umsicht und Rücksicht sowie höchstmögliche Sorgfalt (OLG Saarbrücken, Urteil vom 13. November 1997 [3 U 804/96], Rn. 14 m.w.N., juris). Voraussetzung zur Anwendbarkeit der Norm ist, dass die Personen aufgrund äußerer Merkmale erkennbar einer der genannten verkehrsschwachen Gruppen angehören; der Fahrzeugführer muss die geschützte Person bei gehöriger Aufmerksamkeit bemerken oder nach den Umständen mit ihrer Anwesenheit rechnen können (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., Rn. 29b; Helle, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Auflage, § 3 StVO, Rn. 32).

Der Zeuge M. sah nach eigenem Bekunden den Beklagten bei Annäherung an den späteren Unfallort. Da der Beklagte und mindestens ein weiteres Kind spielten und nicht auf ihre Umgebung achteten - was der Zeuge M. ebenfalls wahrnahm -, kommt es vorliegend auch nicht weiter darauf an, ob ein 13-jähriger überhaupt noch zur Gruppe der Hilfsbedürftigen im Sinne von § 3 Abs. 2a StVO gehört (vgl. insofern König, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 3 StVO Rn. 29c mit Rechtsprechungsnachweisen). Aufgrund des Verhaltens der Kinder war in der konkreten Situation die - vom Zeugen M. auch erkannte - Schutzbedürftigkeit gegeben. Ob die Kinder zunächst eher im Bereich des Grünstreifens neben dem Gehweg spielten, führt im Übrigen zu keiner anderen Bewertung. Denn der Grünstreifen grenzt unmittelbar an den Gehweg, und der Zeuge M. musste aufgrund des Spielens der Kinder ohne Weiteres damit rechnen, dass sie demnächst den Gehweg in ihren Spielbereich einbeziehen könnten.

dd)

Den unter bb) und cc) genannten Anforderungen ist der Zeuge M. nicht gerecht geworden.

Insofern dürfte zunächst anzunehmen sein, dass der Zeuge M. zu schnell fuhr. Hierfür spricht die eigene Einlassung des Zeugen gegenüber dem ermittelnden Polizeibeamten und erneut in der Verhandlung vor dem Landgericht, er habe sich mit dem Fahrrad überschlagen. Denn eine solche Folge der Kollision dürfte eine nicht nur ganz niedrige Geschwindigkeit erfordern. Zudem hatte der Zeuge gegenüber dem Polizeibeamten noch von 10 bis 12 km/h gefahrener Geschwindigkeit gesprochen, und die Polizeibeamten stellten am Fahrrad fest, dass der höchste Gang eingelegt war. Angesichts der vom Zeugen wahrgenommenen Situation im Umfeld des Gehwegs spielender Kinder ("jagend", vgl. die schriftliche Einlassung im Ermittlungsverfahren, Bl. 32 der Ermittlungsakte), hätte er seine Geschwindigkeit so stark reduzieren und sich bremsbereit halten müssen, dass er jederzeit ohne Gefährdung der Kinder hätte anhalten können. Gegebenenfalls - etwa im Hinblick auf ein eventuell alters- oder körperlichbedingtes reduziertes Reaktionsvermögen - hätte der Zeuge absteigen und sein Rad zeitweise schieben müssen, um den genannten hohen Anforderungen der Sorgfaltspflichten aus § 3 Abs. 2a StVO sicher nachkommen zu können. Auf die konkret gefahrene Geschwindigkeit, die sich ohnehin nicht hinreichend genau feststellen ließe, kommt es danach nicht an.

Letztlich kann aber auch dahinstehen, ob sich der Zeuge M. den vorstehend genannten Vorwurf gefallen lassen muss.

Denn jedenfalls hat das Landgericht zu Recht aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme ein sorgfaltswidriges Verhalten des Zeugen bei Annährung an den späteren Unfallort bejaht, weil er nicht der erkennbaren Gefahrenlage entsprechend adäquat reagiert hat.

Der Senat ist nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden. Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche (BGH, VersR 2005, 945 [BGH 19.04.2005 - VI ZR 175/04]; OLG München, Urteil vom 21. Juni 2013 - 10 U 1206/13). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH, a.a.O.).

Die Klägerin zeigt derartige konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung mit ihrer Berufung nicht auf. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Nach den eigenen Angaben des Zeugen M. ist anzunehmen, dass er dem Beklagten und dem bzw. den anderen Jungen nicht die gebotene Aufmerksamkeit zukommen ließ, obgleich er die spielenden Kinder bereits wahrgenommen hatte. Auf die Ausführungen des Landgerichts hierzu im angefochtenen Urteil wird insofern zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen verwiesen.

Soweit die Klägerin im Rahmen ihrer Berufungsbegründung meint, der Zeuge habe ein gewisses Mindestmaß an Aufmerksamkeit vom Beklagten erwarten dürfen, verfängt dies nicht. Die den Zeugen treffenden Sorgfaltsanforderungen, wie ausgeführt, ließen es jedenfalls in der konkreten Situation (erkannt spielende Kinder) nicht zu, dass der Zeuge auf ein bestimmtes, vernünftiges Verhalten der Jungen vertrauen durfte. Zudem hätte der Zeuge bei gehöriger Aufmerksamkeit bemerkt, dass die Jungen auf sein Klingeln - dieses galt im Übrigen wohl ohnehin nur dem oder den kurz vor dem Kollisionsort passierten Mädchen - nicht reagierten, so dass er auch und gerade deshalb keine Aufmerksamkeit der Kinder erwarten durfte.

Bereits dieses feststehende, nach Maßgabe der hier geltenden Sorgfaltsanforderungen nicht ausreichend aufmerksame Annähern an die spielenden Kinder, stellt einen derart schweren Verhaltensverstoß dar, der eine Alleinhaftung des Zeugen begründet, ohne dass es auf die konkret gefahrene Geschwindigkeit noch streitentscheidend ankäme.

2.

Da dem Zeugen M. gegenüber dem Beklagten danach keine Schadensersatzansprüche aus dem streitgegenständlichen Unfallgeschehen zustehen, kann die Klägerin solche Ansprüche auch nicht mit Erfolg aus übergegangenem Recht geltend machen.

II.

Die Klägerin sollte nach alledem erwägen, aus Kostengründen ihr Rechtsmittel zurückzunehmen. Insoweit weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass sich im Fall einer Rücknahme der Berufung die anfallenden Gerichtskosten deutlich ermäßigen würden.