Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 30.07.1996, Az.: 10 B 4000/96

Qualifizierung der "Chaos-Tage" in Hannover als Versammlung i.S.d. Art. 8 GG; Interessenabwägung bei einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO); Verbot einer Versammlung; Hinreichende Bestimmtheit einer Verbotsverfügung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
30.07.1996
Aktenzeichen
10 B 4000/96
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1996, 24360
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:1996:0730.10B4000.96.0A

Fundstellen

  • Kriminalistik 1997, 792
  • NVwZ-RR 1997, 622-623 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO

Das Verwaltungsgericht Hannover - 10. Kammer Hannover - hat
am 30.07.1996
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Der Antrag von Herrn ... .

    Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte ...

    ihn zu dem Verfahren beizuladen, wird abgelehnt.

  2. 2.

    Der Antrag der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 27.06.1996 wiederherzustellen, wird abgelehnt.

    Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.

  3. 3.

    Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 24.000 DM festgesetzt.

Gründe

1

I.

Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegenüber dem von der Antragsgegnerin verfügten Verbot der "Chaos-Tage 1996" in Hannover.

2

Erstmals 1982 fanden in Hannover sogenannte Chaos-Tage statt, die sich gegen eine angeblich eingerichtete "Punker-Datei" richteten, 1983, 1984 und 1994 kam es erneut zu "Chaos-Tagen", die von schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei, Punks und Skins, Straßenschlachten und Gewalttaten gekennzeichnet waren, 1995 schließlich fanden erneut "Chaos-Tage" statt, die etwa eine Woche andauerten. Über Tage lieferten sich überwiegend Punks, aber auch Skins, Hooligans und Autonome, die teilweise aus dem In- und Ausland angereist waren, erbitterte Straßenschlachten mit der Polizei. Barrikaden wurden errichtet, Pkw in Brand gesetzt und ein Supermarkt geplündert. Mehrere hundert Personen wurden verletzt; der bekanntgewordene Sachschaden beläuft sich auf ca. 800.000 DM.

3

Mit Allgemeinverfügung vom 27.06.1996, öffentlich bekanntgemacht am 28.06.1996, verbot die Antragsgegnerin für die Zeit vom 26.07. bis 05.08.1996 in den Gebieten der Landeshauptstadt Hannover und des Landkreises Hannover alle Veranstaltungen, die zur Durchführung oder als Bestandteile der sogenannten "Chaos-Tage" geplant oder der Veranstaltung "Chaos-Tage" zuzurechnen sind, sowie jede Form von Ersatzveranstaltung; zugleich ordnete die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Verbotsverfügung an. Zur Begründung heißt es in der Verfügung unter anderem: Personen, die sich zur Teilnahme an den sogenannten Chaos-Tagen in Hannover treffen wollten, bildeten eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes. Aus den punktypischen Verhaltensweisen und den konkreten Ankündigungen sei zu entnehmen, daß es sich bei den Chaos-Tagen 1996 um eine Vielzahl von Kleinaktionen an vielen Orten handele, die das gemeinsame Ziel verfolgten, die Gesellschaft - häufig durch Gewalttaten - zu provozieren und Platz für eine andere Ordnung zu schaffen. Es sei davon auszugehen, daß die im Rahmen der Chaos-Tage geplanten Versammlungen einen unfriedlichen Verlauf mit schwerwiegenden Ordnungswidrigkeiten und Straftaten nehmen werden. Hierdurch sei die öffentliche Sicherheit und Ordnung konkret und unmittelbar gefährdet. Dieser Gefährdung könne nur durch ein Verbot der Versammlung begegnet werden. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Verbotsverfügung sei erforderlich, weil nur so die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintretenden Gefahren abgewehrt werden könnten.

4

Am 25.07.1996 haben die Antragsteller Widerspruch eingelegt und zugleich um vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung machen sie geltend, die Verbotsverfügung ziele nicht auf eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes. Die Auslegung der "Chaos-Tage" als einer einzigen Versammlung hätte das Verbot von Aktivitäten Einzelner, ohne daß diese sich in direkter Nähe zu anderen Versammlungsteilnehmern befänden, zur Folge. Eine solche Anwendung des Versammlungsgesetzes sei durch Sinn und Zweck dieser Vorschrift nicht gedeckt. Es gebe auch keinen gemeinsamen Zweck der Veranstaltung "Chaos-Tage", was unbedingte Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Versammlungsgesetzes sei. Da es kein gemeinsames Ziel der Punk-Bewegung gebe, könne auch das Werben für die Ziele kein gemeinsam bewußter Zweck sein. Insbesondere fehle es der Verfügung an der erforderlichen inhaltlichen Bestimmtheit. Weder aus der Verfügung selbst noch aus ihrer Begründung sei erkennbar, welches Verhalten verboten sein solle; vielfach obliege die Auslegung der Verfügung der willkürlichen Entscheidung jedes einzelnen Polizeibeamten. In der Verfügung fehle es auch an der notwendigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit; auch mit den vielfältigen Alternativen zu einem Verbot der Veranstaltung befasse sich die Verfügung nicht.

5

Die Antragsteller beantragen,

die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 27.05.1996 wiederherzustellen.

6

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

7

Sie ist der Auffassung, die Anträge seien wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses unzulässig. Im übrigen seien sie auch unbegründet, weil die angefochtene Verfügung zu Recht ergangen sei.

8

Mit am 30.06.1996 eingegangenem Schriftsatz beantragt Herr ...

9

ihn zu dem Verfahren beizuladen.

10

Zur Begründung macht er geltend, da er Eigentümer eines Wohn- und Geschäftshauses in der Nordstadt von Hannover sei, in der es anläßlich der "Chaos-Tage 1995" zu blutigen Straßenschlachten gekommen sei, lägen die Voraussetzungen sowohl einer notwendigen wie auch einer einfachen Beiladung vor.

11

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie die von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

12

II.

Der Antrag auf Beiladung hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen einer notwendigen Beiladung (§ 65 Abs. 2 VwGO) liegen ersichtlich schon deshalb nicht vor, weil die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 27.06.1996 Herrn ... allenfalls reflexartig, nicht aber in rechtsgestaltender Weise begünstigt. Von einer einfachen Beiladung (§ 65 Abs. 1 VwGO) sieht die Kammer ohne Prüfung, ob deren rechtliche Voraussetzungen gegeben sind, im Hinblick auf die hierdurch eintretende Verzögerung der Entscheidung über den Eilantrag ab. Im übrigen lassen die Ausführungen zur Sache nicht erwarten, daß durch eine Beiladung das Verfahren in nennenswerter Weise gefördert würde.

13

Zugunsten der Antragsteller geht die Kammer unter Zurückstellung von Zweifeln davon aus, daß diesen die Antragsbefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO in entsprechender Anwendung) sowie das (allgemeine) Rechtsschutzinteresse zukommen. Die Antragsteller machen der Sache nach unter anderem geltend, sie seien deshalb durch die Verbotsverfügung in ihren Rechten verletzt, weil die Verfügung hinsichtlich ihres Regelungsgegenstandes, nämlich dessen, was als Versammlung verboten würde, zu unbestimmt sei, so daß sie nicht hinreichend sicher wüßten, welche Verhaltensweisen ihnen durch die Verfügung verboten würden. Damit haben sie in einer noch hinreichenden Weise ihre Rechtsbetroffenheit dargelegt.

14

Der Antrag bleibt in der Sache ohne Erfolg.

15

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell nicht zu beanstanden. Die Antragsgegnerin hat in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verbotsentscheidung begründet.

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Die bei seiner Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO vom Gericht zu treffende Interessenabwägung geht zu Lasten der Antragsteller aus. Maßgebend hierfür ist zunächst, daß die in diesem Eilverfahren allein mögliche summarische Überprüfung keine durchgreifenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verbotsverfügung vom 27.06.1996 ergibt.

17

Die angefochtene Verfügung findet ihre Rechtsgrundlage in § 15 Abs. 1 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz - VersG -), wonach die zuständige Behörde, das ist hier die Antragsgegnerin, Versammlungen verbieten kann, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Entgegen der Auffassung der Antragsteller sind die "Chaos-Tage 1996" als Versammlung im Sinne von Art. 8 GG, § 15 VersG zu qualifizieren.

18

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt Art. 8 GG Versammlungen und Aufzüge - im Unterschied zu bloßen Ansammlungen oder Volksbelustigungen - als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. Dieser Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfaßt vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nichtverbalen Ausdrucksformen. Es gehören auch solche mit Demonstrationscharakter dazu, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (BVerfGE 69, 315<343>). Eine Versammlung im Sinne von Art. 8 GG liegt daher nicht schon immer dann vor, wenn sich mehrere Personen in unmittelbarer räumlicher Nähe zusammenfinden. Notwendig ist vielmehr, daß zwischen den Versammelten eine gewisse innere Verbindung besteht. Sie müssen den gemeinsamen Wunsch haben, beieinander zu sein und beieinander zu bleiben (so Herzog in Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 8, Rdnrn. 49, 51). Diese innere Bindung der Personenansammlung macht das Wesen einer Versammlung aus und führt dazu, daß die Versammelten sich als überpersonales Ganzes verstehen (so BVerwG, BVerwGE 56, 63 <69>[BVerwG 07.06.1978 - 7 C 5/78]). Dabei ist das Erfordernis des gemeinsamen Willens weit zu fassen, da auch Kontroversen einen möglichen Versammlungsgegenstand bilden können und das lockere Nebeneinander von verschiedenen Gruppen vom Begriff der Versammlung umfaßt sein kann, wenn dabei ein gewisser kollektiver Effekt der "Selbstorganisation" entsteht (vgl. Ridder/Breitbach/Rühl/Steinmeier, Versammlungsrecht, Kommentar, Rdnr. 17 zu Art. 8 GG).

19

Für die Kammer ist es nicht zweifelhaft, daß jedenfalls die meisten Besucher mit ihrer Teilnahme an den "Chaos-Tagen 1996" in Hannover die Absicht verbinden, durch eine Vielzahl von gemeinsam angeführten Aktionen ihre Auffassung vom Leben bzw. Zusammenleben darzustellen. Daß es unter den Teilnehmern diesbezüglich verschiedene Anschauungen gibt, ändert nichts an dem sie verbindenden Willen, durch provozierendes Verhalten bürgerliche Ordnungsvorstellungen in Frage zu stellen.

20

Nach den derzeit erkennbaren Umständen ist bei Durchführung der "Chaos-Tage 1996" die öffentliche Sicherheit schon deshalb in erheblichem Umfang unmittelbar gefährdet, weil mit der Begehung von Straftaten gerechnet werden muß. Die Antragsgegnerin hat dies in der angefochtenen Verfügung unter Hinweis auf den Verlauf der "Chaos-Tage 1995" und die Aufrufe zur Teilnahme an den "Chaos-Tagen 1996" belegt. Die Kammer folgt diesen Ausführungen, denen die Antragsteller nicht entgegengetreten sind, und nimmt auf sie Bezug (§ 117 Abs. 5 VwGO).

21

Die Verbotsverfügung ist auch inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 1 NVwVfG, § 37 Abs. 1 VwVfG). Die Antragsgegnerin hat in ihr hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, was als Teilnahme an der Versammlung gewertet und damit verboten wird. Dabei liegt es in der Natur der geplanten Versammlung, daß sich - anders als bei herkömmlichen Versammlungen - die Ausdrucksformen der Versammlungsteilnehmer im voraus nicht umfassend beschreiben lassen. Die Antragsgegnerin hat aber auf Seite 3 der Verfügung beispielhaft typische Verhaltensweisen aufgeführt, die sie der Veranstaltung "Chaos-Tage 1996" zurechnet und damit dem Versammlungsverbot unterstellt, wenn sie - objektiv erkennbar - von dem Willen getragen sind, auf diese Weise an der Aktion "Chaos-Tage" teilzunehmen. Hierdurch ist im Einzelfall hinreichend sicher bestimmbar, welche nicht ausdrücklich aufgeführten Verhaltensweisen gleichfalls eine Teilnahme an der verbotenen Versammlung bedeuten. Daß hierbei im Einzelfall Abgrenzungsschwierigkeiten auftreten können, ist nicht vermeidbar, aber auch keine Besonderheit gerade dieser Verfügung. Die Antragsteller haben im übrigen in nachvollziehbarer Weise keine ernsthaften Abgrenzungsprobleme aufgezeigt. Daß das Tragen auffälliger Kleidung oder einer auffälligen Frisur ebensowenig wie ein bestimmter Wohnsitz für sich genommen zu der Annahme führt, die betreffende Person nehme an den "Chaos-Tagen" teil, bedarf keiner näheren Darlegung.

22

Die angefochtene Verfügung ist auch verhältnismäßig. Das Verbot der "Chaos-Tage 1996" ist geeignet, die Zahl von Vorkommnissen, wie sie die "Chaos-Tage 1995" prägten, zumindest zu verringern, zumal wenn es einerseits konsequent, andererseits aber auch mit Fingerspitzengefühl umgesetzt wird. Daß die Erteilung von Auflagen in vergleichbarer Weise wie ein Verbot geeignet wäre, der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit entgegenzuwirken, ist nicht erkennbar; auch die Antragsteller haben diesbezüglich nichts vorgetragen.

23

Neben der schon jetzt erkennbaren voraussichtlichen Erfolglosigkeit des von den Antragstellern in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs spricht auch eine Interessenabwägung im engeren Sinne für die Bestätigung des von der Antragsgegnerin angeordneten Sofortvollzugs. Werden die "Chaos-Tage 1996" durchgeführt, ist mit einem an Sicherheit grenzenden Grad von Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, daß es zu einer Vielzahl von Verletzungen hochwertiger Rechtsgüter kommen wird, so daß ein ganz erhebliches öffentliches Interesse an der sofortigen Durchsetzung des Versammlungsverbotes besteht. Demgegenüber ist das private Interesse der Antragsteller, von der Verbotsverfügung vorläufig - durch den Zeitablauf faktisch aber auch endgültig - verschont zu bleiben, als äußerst gering zu bewerten. Denn es ist nicht erkennbar geworden, welche rechtlich gebilligten Formen ihrer Lebensäußerung oder ihrer beruflichen Betätigung durch die angefochtene Verfügung eingeschränkt werden.

24

Als Unterlegene haben die Antragsteller gem. § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Streitwertbeschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 24.000 DM festgesetzt.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2 GKG, § 173 VwGO, § 5 ZPO.