Amtsgericht Lingen
Urt. v. 04.01.2001, Az.: 12 C 826/00 (X)

Verletzung der Verkehrssicherungspflicht oder Fürsorgepflicht in einer Massagepraxis durch den Masseur; Schadensersatzanspruch und Schmerzensgeldanspruch gegen den Betreiber einer Massagepraxis; Verkehrssicherungspflicht des Masseurs bei einer Mobilitätsbeeinträchtigung des Patienten; Definition des Begriffs "Verkehrssicherungspflicht" oder "Fürsorgepflicht"

Bibliographie

Gericht
AG Lingen
Datum
04.01.2001
Aktenzeichen
12 C 826/00 (X)
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 31212
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:AGLINGE:2001:0104.12C826.00X.0A

Fundstellen

  • NJW 2001, 3418 (red. Leitsatz)
  • NJW-RR 2001, 961-962 (Volltext mit red. LS)

...
hat das Amtsgericht Lingen
auf die mündliche Verhandlung vom 14.12.2000
durch
den Richter am Amtsgericht Kruse
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.)

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.)

    Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

  3. 3.)

    Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Der Beklagte betreibt in Lingen eine Massagepraxis.

2

Am 06.07.1999 befand die Klägerin sich als Patientin in der Praxis des Beklagten. Sie trägt vor, an diesem Tage habe sie die erste von sechs ärztlich verordneten Massagen erhalten. Vorangegangen seien zwar schon zwei osteopathische Behandlungen. Diese seien der Klägerin jedoch im Sitzen verabreicht worden. Am 06.07.1999 habe sie zum ersten Mal auf einer Massagebank des Beklagten gelegen, und zwar in der Bauchlage. Nach erfolgter Massage habe der Beklagte sie aufgefordert, sich zwecks Massage der Nackenmuskulatur aufzusetzen. Während die Klägerin dieser Aufforderung gefolgt sei, habe der Beklagte sich von ihr weggedreht und aus dem Fenster geschaut. Die Klägerin habe versucht, sich weisungsgemäß aus der Bauchlage heraus in eine Sitzposition zu begeben. Zunächst habe sie deshalb den sog. Vierfüßlerstand eingenommen, indem sie sich auf Ellenbogen und Knien gestützt habe. Nun habe sie jedoch nicht so recht gewußt, wie sie sich habe seitlich setzen sollen. Aus diesem Grunde habe sie Bodenkontakt aufnehmen wollen, um sich sodann sicher hinsetzen zu können. Aufgrund der zu hoch eingestellten Massagebank habe sie jedoch mit den Füßen keinen Bodenkontakt herstellen können. Sie habe lediglich mit den Zehenspitzen die nackten Fliesen erreichen können. Da eine rutschfeste Matte auf dem Boden vor der Massagebank nicht vorhanden gewesen sei, habe sie keinen Halt gefunden. Auch der Versuch, sich mit den Händen an der Massagebank festzuhalten, sei fehlgegangen, da das auf der Massagebank befindliche Laken verrutscht sei und ihr keine Haltemöglichkeit gegeben habe.

3

Mit lautem Aufprallgeräusch sei die Klägerin infolgedessen zu Boden gefallen. Dabei habe sie erhebliche Verletzungen davongetragen.

4

Am Nachmittag des selben Tages habe sie sich in ärztliche Behandlung begeben. Im Rahmen der Erstuntersuchung habe sich eine massive Blutergussschwellung mit zunehmender Hämatomverfärbung im Bereich der rechten Gesäßhälfte sowie eine Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk mit ausstrahlenden Schmerzen bis zum Knie gezeigt. Im Rahmen der ärztlichen Behandlung habe sich sodann am 02.08.1999 herausgestellt, dass die Klägerin auch eine Fraktur des ersten Lendenwirbelkörpers erlitten habe.

5

Vom 06.07. bis zum 26.08.1999 habe die Klägerin sich in der Behandlung des Facharztes Dr. Stegmann befunden.

6

Es sei mit einem bleibenden Dauerschaden zu rechnen, da sich eine deutliche Höhenminderung im Bereich der Vorderkante des ersten Lendenwirbelkörpers gezeigt habe. In der Folgezeit sei die halbtagsarbeitende Klägerin stark in ihrer Haushaltsführung eingeschränkt gewesen.

7

Laut ärztlichem Befunden habe bei ihr vom 06.07. bis zum 20.07.1999 eine 100 %tige MdE, vom 21.07. bis zum 17.08.1999 eine 70 %ige MdE, vom 18.08. bis zum 25.08.1999 eine 50 %ige MdE, vom 26.08. bis zum 10.09.1999 eine 30 %ige MdE und vom 11.09. bis zum 11.11.1999 eine 10 %ige MdE bestanden.

8

Ärztlicherseits sei der Verbleib eines Dauerschadens prognostiziert worden. Die Klägerin verkenne nicht, möglicherweise ein Mitverschulden zu tragen. Im wesentlichen allerdings sei ihr Unfall darauf zurückzuführen, dass der Beklagte seine Fürsorgepflicht verletzt habe. Der Beklagte nämlich habe, statt die Klägerin im Auge zu behalten, aus dem Fenster geschaut. Er habe darüber hinaus der Klägerin zugemutet, sich auf der viel zu hoch eingestellten Massagebank in eine Sitzposition zu begeben. Schließlich habe die Beklagte es versäumt, eine rutschfeste Matte auf den Boden vor der Massagebank zu legen.

9

All diese Versäumnisse seien dem Beklagten haftungsbegründend anzulasten. Für die erlittenen Schmerzen und sonstigen immateriellen Unbilden halte die Klägerin unter Berücksichtigung eines 50 %igen Mitverschuldens ein Schmerzensgeld von nicht unter 1.000 DM für angemessen.

10

Der Haushaltsführungsschaden für den gehobenen Haushalt der Klägerin belaufe sich auf 3.782,02 DM. Hiervon habe der Beklagte der Klägerin 1.891,01 DM zu erstatten. Die Klägerin habe Arztattestkosten in Höhe von 93,44 DM zahlen müssen. Hiervon habe der Beklagte ihr 46,72 DM zu erstatten.

11

Schließlich sei der Beklagten auch für eventuelle Zukunftsschäden, die aufgrund der ärztlichen Prognose nicht auszuschließen seien, haftbar.

12

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, das einen Betrag in Höhe von 1.000 DM nicht unterschreitet, zu zahlen, nebst 8,42 % Zinsen seit Rechtshängigkeit,

  2. 2.

    den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 1.891,01 DM zu zahlen,

  3. 3.

    den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 46,72 DM zu zahlen,

  4. 4.

    festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen hälftigen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der der Klägerin aus dem Ereignis vom 06.07.1999 mit dem Beklagten entstehen wird, soweit dieser Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger übergegangen ist.

13

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

14

Er trägt vor, die Verletzung einer Verkehrssicherungs- bzw. Fürsorgepflicht könne ihm nicht vorgeworfen werden.

15

Er habe seine Praxis entsprechend den berufsständischen Sicherheitsvorschriften eingerichtet. Weder sei der Fußboden um die Massagebank herum glatt gewesen, noch sei die Massagebank zu hoch eingestellt gewesen, noch habe ein sonstiger Umstand aus der Risikosphäre des Beklagten zum Unfall der Klägerin beigetragen. Der Unfall sei vielmehr darauf zurückzuführen, dass die Klägerin, was der Beklagte nicht habe voraussehen können, auf höchst ungewöhnliche Art und Weise versucht habe, aus der Bauchlage heraus in eine sitzende Position zu gelangen.

16

Dass die Klägerin generell eine Hilfestellung bei der Positionsänderung von der Bauchlage in eine sitzende Haltung benötigen könnte, sei für den Beklagten angesichts ihrer allgemeinen Mobilität nicht erkennbar gewesen. Der Beklagte sei deshalb davon ausgegangen, dass die Klägerin generell in der Lage sei, sich ohne Hilfestellung aufzusetzen.

17

Dass die Klägerin in der von ihr konkret herbeigeführten Situation eine Hilfestellung benötigt habe, sei für den zu 95 % sehbehinderten Beklagten nicht erkennbar gewesen. Richtig sei, dass der Beklagte sich von der Klägerin abgewandt habe. Er könne nicht ausschließen, dass er dabei in Richtung des Fensters geschaut habe. Ausgeschlossen sei aber, dass er gezielt aus dem Fenster geschaut habe, da seine Sehbehinderung ihm nur gestatte, Hell- und Dunkelzustände zu unterscheiden. Das sei der Klägerin auch bekannt gewesen.

18

Der Unfall der Klägerin sei deshalb nicht auf ein Versäumnis des Beklagten zurückzuführen, sondern darauf, dass die Klägerin, jedenfalls nach ihrer Beschreibung in der Klagschrift, in einer höchst ungewöhnlichen und nicht voraussehbaren Art und Weise versucht habe, aus der Bauchlage heraus in eine sitzende Position zu gelangen. Das habe der Beklagte nicht vorhersehen können. Angesichts der Mobilität, die die Klägerin zuvor gezeigt habe, habe für den Beklagten kein Grund zu der Annahme bestanden, dass sie den erforderlichen Positionswechsel nicht ohne Hilfestellung werde bewerkstelligen können.

19

Hilfsweise bestreitet der Beklagte die von der Klägerin geltend gemachten Schadenspositionen der Höhe nach.

20

Wegen der Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

21

Nach eingehender Würdigung des Vortrags beider Pareien geht das Gericht davon aus, dass dem Beklagten die Verletzung einer Verkehrssicherungs- bzw. Fürsorgepflicht nicht vorzuwerfen ist.

22

Bei der Definition des Begriffs Verkehrssicherungs- bzw. Fürsorgepflicht orientiert das Gericht sich an einer Entscheidung des OLG Karlsruhe (VersR 1996/129). Dort heißt es:

In Rechtsprechung und Schrifttum besteht jedoch Einigkeit darüber, dass die Verkehrssicherungspflicht nicht mißverstanden werden darf als Pflicht zur völligen Gefahrloshaltung der Verkehrswege. Es ist unzulässig, allein daraus, dass die Beschaffenheit des Verkehrsweges einen Unfall u.U., mitverursacht hat, eine Haftung wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht herzuleiten. Vielmehr findet die Pflicht dort ihre Grenze, wo die Vermeidung der Gefahr vom Verkehrsteilnehmer selbst erwartet werden kann. Der Sicherungspflichtige kann sich grundsätzlich auf den sorgfältigen, aufmerksamen, die Verkehrsvorschriften beachtenden Verkehrsteilnehmer einstellen.

23

Diese Definition beschränkt sich nicht nur auf Verkehrswege, sondern entfaltet Gültigkeit für jedwede andere Örtlichkeit, so auch die Praxisräume des Beklagten. Unter Zugrundelegung dieser Definition kann dem Beklagten eine Mitverursachung des Unfalls der Klägerin durch Unterlassung nicht vorgeworfen werden. Nach ihrer eigenen Schilderung hat die Klägerin, von der lediglich verlangt war, sich aus liegender Position in Bauchlage in eine sitzende Position zu begeben, ihren Sturz ganz allein selbst verursacht und verschuldet.

24

Denn der Bewegungsablauf, der der Klägerin bei der beabsichtigten Positionsänderung abverlangt war, war grundsätzlich kein anderer, als wenn die Klägerin sich aus liegender Position heraus in ihrem Bett hätte aufsetzen wollen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Aufsitzen aus der Rückenlage und der Bauchlage heraus in Angriff genommen wird. Denn jemand, der in Bauchlage im Bett liegt und aufstehen will, wird zu diesem Zweck normalerweise nicht erst die Fuße und die Beine aus dem Bett bewegen und auf den Fußboden stellen, um sich sodann aufzurichten und aus stehender Position auf das Bett zu setzen. Er wird sich vielmehr in die Rücken- oder eine Seitenlage begeben und sich aus dieser Position heraus aufsetzen. Der Umstand, dass die Massagebank des Beklagten unstreitig schmaler ist, als ein normales Bett, führt - zumindest nach Auffassung des erkennenden Gerichts - zu keinem anderen Bewegungsablauf. Weshalb die Klägerin dann trotzdem den in der Klagschrift beschriebenen und in der Anlage A 2 zur Klagschrift skizzierten Bewegungsablauf gewählt hat, entzieht sich der Kenntnis des Gerichts. Nach Auffassung des Gerichts war dieses Verhalten für den Beklagten auch nicht ohne weiteres nachvollziehbar, selbst wenn die Klägerin - was zwischen den Parteien streitig ist - zum ersten Mal auf der Massagebank des Beklagten gelegen hatte.

25

Ohne weiteres nachvollziehbar ist für das Gericht allerdings, dass die Klägerin, nachdem sie sich in die sog. Vierfüßlerstellung begeben hatte, Schwierigkeiten bekam. Aber auch das war für den Beklagten nicht vorhersehbar und in der akuten Situation auch nicht vermeidbar.

26

In dieser Situation wäre es vielmehr Sache der Klägerin gewesen, den Beklagten im Bedarfsfalle um Hilfestellung zu bitten.

27

Das Gericht ist nicht der Auffassung, dass der Beklagte die Klägerin bei der Aufforderung, sich aus ihrer liegenden Position aufzusetzen, mit einer Beschreibung des dabei zu bewerkstelligenden Bewegsungsablaufs zu versehen gehabt hätte. Das Gericht geht vielmehr davon aus, dass die Klägerin, wenn dies tatsächlich geschehen wäre, den Beklagten mehr oder weniger nachdrücklich darauf hingewiesen hätte, dass sie als 62jährige Frau durchaus selbst wisse, wie man sich aus liegender Position aufsetzt.

28

Das Gericht ist auch nicht der Auffassung, dass der Beklagte die Klägerin während des "Aufsitzens" ständig hätte im Auge behalten müssen. Ein Masseur wird in einer solchen Situation, zumindest dann, wenn er keine Kenntnis von irgendwelchen Mobilitätsbeeinträchtigungen des Patienten hat, sich mehr oder weniger taktvoll abwenden, um dem Patienten das Gefühl zu ersparen, beobachtet bzw. in mehr oder weniger bekleidetem Zustand einer Betrachtung unterzogen zu werden.

29

Nach allem vermag das Gericht auch unter Zugrundelegung der Situation, wie sie von der Klägerin geschildert worden ist, ein Versäumnis des Beklagten nicht zu erkennen. Damit fehlt es an einer Anspruchsgrundlage für Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen den Beklagten.

30

Die Klage war mit der Kostenfolge des §91 Abs. 1 ZPO abzuweisen.

31

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§708 Nr. 11, 711 ZPO.

Kruse Richter am Amtsgericht