Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 18.08.2021, Az.: 2 A 231/20

Apostasie; Asyl; Atheismus; Flüchtlingseigenschaft; Pakistan; Religion; Verfolgung, religiöse

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
18.08.2021
Aktenzeichen
2 A 231/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 70919
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Apostaten (hier: Atheisten), deren Abfall vom Islam öffentlich bekannt wird, unterliegen in Pakistan der Gefahr einer landesweiten Verfolgung durch den Staat oder nichtstaatliche Akteure aus religiösen Gründen.

Tatbestand:

Der 1986 geborene Kläger zu 1., seine Ehefrau, die 1991 geborene Klägerin zu 2., und ihre gemeinsame Tochter, die 2014 geborene Klägerin zu 3., sind pakistanische Staatsangehörige. Sie reisten nach eigenen Angaben am 12.07.2019 auf dem Luftweg aus Pakistan aus und am 13.07.2019 mit einem durch das Deutsche Konsulat in Karatschi ausgestellten Schengen-Besuchervisum in das Bundesgebiet ein. Hier stellten sie am 07.08.2019 Asylanträge.

Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 29.08.2019 gab die Klägerin zu 2. an, sie habe mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter bei ihren Schwiegereltern in Karatschi gelebt. Im Jahr 2012 habe sie einen Bachelor-Abschluss erlangt und im Zeitpunkt ihrer Ausreise habe sie in einem Masterstudiengang studiert. Sie stamme aus einer gläubigen muslimischen Familie. Als sie Abitur gemacht habe, habe sie viel im Koran gelesen und sich kritisch mit seinem Inhalt befasst. Der Koran sei frauenfeindlich, enthalte teilweise gewaltsame Verse und sie habe es kritisch gesehen, dass der Prophet Mohammed zahlreiche Frauen geheiratet habe, unter denen ein erst siebenjähriges Mädchen gewesen sei. Sie habe sich daraufhin vom Islam abgewandt, dies aber vor ihrer Familie verheimlicht. Auch ihr Ehemann sei bereits seit 2004 Atheist.

Im Februar 2019 sei ihre Schwiegermutter gestorben. Nach drei Tagen habe eine Trauerfeier nach muslimischem Ritus stattgefunden. Ihr Ehemann habe es nicht ertragen, dass die Gäste gefeiert und sich amüsiert hätten. Er habe dieses Verhalten kritisiert und es sei zu einer Auseinandersetzung über den Islam mit seinem Cousin I. J. gekommen, der Polizist sei. Der Cousin sei sehr wütend geworden, habe den Ehemann mit einem Messer attackiert und nur der Schwiegervater und ihr Schwager hätten verhindern können, dass er ihn tötete. In der Folgezeit habe ihr Mann Material gesammelt, um es dem Cousin zu zeigen. In der letzten Maiwoche 2019 habe er YouTube-Videos an den Cousin weitergeleitet, die sich kritisch mit dem Islam und mit Mohammed auseinandergesetzt hätten. Einige Tage vor dem Versenden des Videos sei der Cousin mit mehreren Leuten gekommen und habe versucht zu beweisen, warum der Islam gut sei. Nach dem Versenden des Videos sei er mit einer Pistole und sechs oder sieben weiteren Männern zum Haus ihres Schwiegervaters gekommen. Er habe beabsichtigt, ihren Ehemann wegen des Vorwurfs der Blasphemie festzunehmen. Sie hätten sich versteckt und dies sei der Grund gewesen, warum sie sich zur Ausreise entschlossen hätten. Nach diesem Vorfall hätten sie Urlaub genommen und ihre Ausreise vorbereitet. Erst am 20.06.2019 hätten sie das Visum beantragen können. Nach dem Vorfall sei I. nicht noch einmal zurückgekommen. Ihr Schwiegervater habe ihm gesagt, sie seien nicht zu Hause. Die Polizei habe in Pakistan eine große Macht. I. sei gut vernetzt und hätte sie auch gefunden, wenn sie in Pakistan geblieben und in einen anderen Ort gezogen wären.

Der Kläger zu 1. trug bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 29.08.2019 vor, er habe in Pakistan einen Masterabschluss erlangt und als Journalist gearbeitet. Zwischen 2001 und 2004 habe er sich vom Islam abgewandt und sei Atheist geworden. Er habe versucht, in Zeitungen islamkritische und pakistankritische Texte zu veröffentlichen. Dies sei aber verhindert worden. Den Vorfall bei der Trauerfeier für seine Mutter schilderte der Kläger zu 1. entsprechend der Darstellung seiner Ehefrau. Hierzu führte er aus, er habe sich danach bei seinem Cousin entschuldigt. Weil dieser ihn öffentlich beleidigt und attackiert habe, habe er aber weiter mit ihm diskutieren wollen. Deshalb habe er ihm die Videos geschickt. Nachdem sein Cousin nach der Übersendung der Videos bewaffnet zum Haus seines Vaters gekommen sei, hätten sie sich zur Ausreise entschlossen. Sie hätten nicht versucht, in Pakistan in einem anderen Landesteil zu leben, weil man sie überall ausfindig gemacht hätte.

Durch Bescheid vom 23.11.2020 (zugestellt am 25.11.2020) lehnte das Bundesamt den Antrag der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Gewährung subsidiären Schutzes ab, verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, forderte die Kläger unter Androhung ihrer Abschiebung nach Pakistan zur Ausreise aus dem Bundesgebiet aus, ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete dieses auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Sachvortrag der Kläger genüge nicht den Anforderungen an eine glaubhafte Darstellung eines Verfolgungsschicksals. Die Angaben zu den Fluchtgründen seien arm an Details, vage, oberflächlich, nicht nachvollziehbar und widersprüchlich geblieben.

Am 08.12.2020 haben die Kläger Klage erhoben. Sie widersprechen der Auffassung der Beklagten und tragen vor, ihr Sachvortrag sei schlüssig und detailreich. Zwischen der Beerdigung der Mutter des Klägers zu 1. und dem Ende des 40-tägigen Trauerzeitraums habe der Cousin immer wieder in Gesprächen versucht, den Kläger zu 1. zum Islam zurückzuführen. Ab Mitte Mai 2019 sei es zu WhatsApp-Kontakten gekommen. Da der Kläger zu 1. von den Antworten seines Cousins auf seine Fragen nicht überzeugt gewesen sei, habe er ihm Ende Mai die Videos gesandt, die bestimmte Inhalte des Korans wissenschaftlich hinterfragt hätten. Daraufhin sei es zu der massiven und gewaltsamen Bedrohung durch den Cousin gekommen. Sie seien daher als Atheisten vor ihrer Ausreise durch den Cousin des Klägers zu 1. verfolgt worden. Ihre Einstellung zum Islam sei seit der Beerdigungsfeier öffentlich bekannt. Ihnen drohe daher in Pakistan der Tod durch religiöse Verfolgung. Eine offizielle Anklage wegen Blasphemie habe es nicht gegeben, sodass sie unbehelligt hätten ausreisen können. Der Cousin des Klägers zu 1. und unbekannte Dritte hätten versucht, ihren Aufenthaltsort herauszubekommen.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheids vom 23.11.2020 zu verpflichten,

ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

hilfsweise, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid. Ergänzend führt sie aus, der Vortrag der Kläger im gerichtlichen Verfahren könne die Zweifel an der Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens nicht ausräumen. Auch die ungehinderte legale Ausreise spreche dagegen, dass sie sich wegen Beleidigung des Propheten Mohammed strafbar gemacht hätten.

Das Gericht hat die Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung ergänzend zu ihrem Fluchtschicksal befragt. Wegen des Ergebnisses dieser Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Im Übrigen nimmt das Gericht wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie den Inhalt der Akten der Beklagten und der Ausländerakten des Landkreises Göttingen Bezug.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.

Das Gericht hat nach Bewertung des Inhalts der Anhörung beim Bundesamt und nach dem in der mündlichen Verhandlung erhaltenen Eindruck die Überzeugung gewonnen, dass den Klägern zu 1. und 2. bei einer Rückkehr nach Pakistan Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG i.V.m. Art. 9, 10 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden: QRL) aus religiösen Gründen droht. Die Kläger zu 1. und 2. haben daher in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 23.11.2020 ist rechtswidrig, soweit er dem entgegensteht, und verletzt die Kläger zu 1. und 2. in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560; sog. Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG, Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG, Art. 6 QRL vom Staat, von Parteien oder von Organisationen ausgehen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nach § 3e AsylG, Art. 8 QRL wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn eine inländische Fluchtalternative (sog. „interner Schutz“) besteht.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn. 19, 32). Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Allerdings ist nach Art. 4 Abs. 4 QRL die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung begünstigt den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung und begründet eine tatsächliche - widerlegliche - Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Der für die Gefahrenprognose maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinn einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung geboten. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn. 32 m.w.N.).

Dabei ist es Sache des Schutzbegehrenden, die Gründe für seine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Hierzu gehört, dass er zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung abgibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405/89 -, juris Rn. 8). In Anbetracht des Beweisnotstands, in dem sich ein Asylbewerber in der Regel befindet, ist es dazu notwendig, aber auch hinreichend, wenn er schlüssig und nachvollziehbar ein glaubhaftes Verfolgungsschicksal darlegt. Ungeachtet dessen muss das Gericht jedoch die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt haben (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109/84 -, juris Rn. 16).

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG und Art. 10 Abs. 1 Lit. b QRL umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Danach gehören zu den Handlungen, die eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG bzw. von Art. 9 Abs. 1 QRL darstellen können, nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit, den Glauben im privaten oder öffentlichen Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in die Freiheit, sich keiner Religion anzuschließen oder sich von einer Religion abzuwenden und als Atheist zu leben und zu handeln (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 03.04.2018 - Au 3 K 17.32736 -, juris Rn. 30; VG Münster, Urteil vom 26.07.2017 - 7 K 5896/16.A -, juris Rn. 25; VG Chemnitz, Urteil vom 26.04.2017 - 6 K 921/16.A -, juris Rn. 23).

Die Beurteilung der Frage, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG bzw. Art. 9 Abs. 1 QRL zu erfüllen, hängt von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten ab (EuGH, Urteil vom 05.09.2012, Rs. C-71/11 und C-99/11, juris Rn. 70; BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn. 28). Ein objektiver Gesichtspunkt ist insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter. Die erforderliche Schwere kann dann erreicht sein, wenn dem Ausländer bei einem Bekanntwerden seiner religiösen bzw. atheistischen Einstellung die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr. Subjektiv ist zu berücksichtigen, ob die Glaubensbetätigung, die die Verfolgung auslöst, oder das bewusste Abwenden von einer Religion für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen oder weltanschaulichen Identität besonders wichtig bzw. unverzichtbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn. 28 f.). Die religiöse bzw. areligiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dabei muss sich das Gericht insbesondere die Überzeugung verschaffen, dass die behauptete Einstellung tatsächlich identitätsbestimmend ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn. 26, 31).

Der erkennende Einzelrichter ist nach Bewertung des Vortrags der Kläger zu 1. und 2. beim Bundesamt und nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck davon überzeugt, dass sich die Kläger aus ernsthafter Überzeugung vom Islam abgewandt haben. Der Kläger zu 1. hat nachvollziehbar dargelegt, dass er nach den Anschlägen in den USA im Jahr 2001 begonnen habe, sich intensiver mit dem Islam zu beschäftigen. Er habe schon damals nicht verstanden, dass der Islam die Tötung von Andersgläubigen („Ungläubigen“) erlaube, und sei über die Darstellung des Propheten Mohammed befremdet gewesen. Er habe dessen Umgang mit Frauen und die Darstellung missbilligt, dass Mohammed mehrere Ehefrauen gehabt habe, unter ihnen ein siebenjähriges Kind. Er habe zudem den Eindruck gewonnen, dass es sich beim Inhalt des Korans großenteils um fiktive Geschichten handele, die - was auch für andere Religionen wie das Christentum und den Hinduismus gelte - mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vereinbar seien. In den Folgejahren bis 2004 habe er sich vom Islam abgewandt. Danach habe er sich an islamischen Bräuchen nur noch beteiligt, um den Schein zu wahren. Der Grund, warum er seine Einstellung damals nicht nach außen getragen habe, habe in seiner Furcht vor einer möglichen Reaktion des pakistanischen Staates gelegen. Dies habe sich im Februar 2019 geändert, nachdem seine Mutter gestorben sei. Er sei infolge des Sterbefalls damals psychisch stark beeinträchtigt gewesen. Die islamischen Trauerzeremonien, die ihm fremd geworden seien, und das Verhalten der Trauergäste, die wie bei einer Hochzeit gefeiert hätten, hätten ihn wütend gemacht. In dieser Situation habe er seine Einstellung in Gegenwart zahlreicher Personen zum Ausdruck gebracht, was zu einer ernsten Auseinandersetzung mit seinem Cousin geführt habe. Auch die Klägerin zu 2. hat ihre Entfremdung vom Islam nachvollziehbar dargestellt. Sie hat geschildert, gegen Ende ihrer Schulzeit Zweifel am Koran und am Islam bekommen zu haben. Sie habe sich insbesondere daran gestört, wie der Islam mit den Rechten der Frauen umgehe. Der Koran sei frauenfeindlich, enthalte teilweise gewaltsame Verse und sie habe es kritisch gesehen, dass der Prophet Mohammed zahlreiche Frauen geheiratet habe, unter denen ein erst siebenjähriges Mädchen gewesen sei. Sie habe sich daraufhin vom Islam abgewandt, dies aber vor ihrer Familie verheimlicht.

Beide Kläger haben auf das Gericht einen uneingeschränkt glaubwürdigen Eindruck gemacht. Sie sind gebildet, vom äußeren Erscheinungsbild her westlich orientiert und es ist es ist glaubhaft, dass sie sich nach einer Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Korans vom Islam entfremdet haben. Ihre Einlassungen waren detailreich und widerspruchsfrei und es besteht kein Anlass zu der Annahme, dass sie die Apostasie nur aus asyltaktischen Gründen vorgeben. Vielmehr konnten sie den Einzelrichter davon überzeugen, dass sie sich nach einem ernsthaften inneren Ablösungsprozess vom Islam abgewandt haben.

Unabhängig davon, ob sich die Kläger zu 1. und 2. bereits vor ihrer Ausreise in einem Zustand unmittelbar drohender Verfolgung befanden und Ihnen deshalb die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 QRL zugutekommt, ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihnen die erhebliche Gefahr staatlicher oder staatlich geduldeter religiöser Verfolgung drohen würde, wenn sie ihren Abfall vom islamischen Glauben und die hierfür angeführten Gründe nach einer Rückkehr nach Pakistan in die Öffentlichkeit tragen würden. Zwar steht die Apostasie in Pakistan anders als in vielen anderen muslimisch geprägten Ländern nicht ausdrücklich unter Strafe. Die Gesellschaft akzeptiert Apostasie aber in keiner Weise. Äußert der Betroffene seine Überzeugung öffentlich, besteht Gefahr für seine Gesundheit und sein Leben. Zudem gehört Pakistan zu den Ländern mit den schärfsten Blasphemiegesetzen (§§ 295a-c des Pakistan Penal Code, PPC). Seit 1990 verbietet § 295a PPC das absichtliche Verletzen religiöser Objekte oder Gebetshäuser, § 295b PPC die Entweihung des Korans, § 295c PPC die Beleidigung des Propheten Mohammed. Die letztgenannte Norm sieht selbst bei unbeabsichtigter Erfüllung des Tatbestands der Prophetenbeleidigung die Todesstrafe vor. Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass auf der Grundlage dieser Vorschriften zwischen 1987 und 2017 ca. 1.500 Anklagen erfolgten. Oftmals wird erstinstanzlich auf Druck von Extremisten hin die Todesstrafe verhängt. Zwar wurde diese bislang noch nie vollstreckt. Es sollen jedoch (Stand: Dezember 2019) mindestens 17 zum Tode Verurteilte auf die Vollstreckung ihres Urteils warten. Blasphemie-Vorwürfe werden immer wieder zum Anlass oder Vorwand für Mob-Gewalt oder Mordanschläge genommen; selbst nachdem wegen Blasphemie Verurteilte freigesprochen werden, werden sie vielfach von extremistischen Organisationen verfolgt (vgl. zu alldem Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 29.09.2020, S. 12 f.).

Im Fall des Klägers zu 1. ist seine innere Einstellung zum Islam nach seinem glaubhaften Vorbringen bereits vor seiner Ausreise während der Trauerfeier für seine Mutter zahlreichen Personen bekannt geworden. Zwar hat dies über die detailreich geschilderte mehrmonatige Auseinandersetzung mit seinem Cousin hinaus bis zur Ausreise der Kläger nicht zu einer konkreten Gefährdung geführt. Das Gericht geht jedoch davon aus, dass dies im Wesentlichen dem Einfluss und dem Ansehen des Vaters des Klägers geschuldet war, gegen den der Cousin sich nicht auflehnen wollte. Nach der Übersendung islamkritischer Videos, durch die sich der Cousin offenbar erneut erheblich provoziert fühlte, standen dem Kläger zu 1. Konsequenzen nach seinem Vortrag unmittelbar bevor und er konnte ihnen nur dadurch entgehen, dass sich die Familie ab Ende Mai versteckt hielt und es dadurch nicht zu weiteren Zusammenstößen mit dem Cousin kam. Würden die Kläger nach Pakistan zurückkehren und ihren Abfall vom Islam wiederum öffentlich machen, hätten sie nicht nur mit Maßnahmen des Cousins, sondern auch mit staatlicher Strafverfolgung und mit Übergriffen Dritter zu rechnen, gegen die kein staatlicher Schutz gewährt würde (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 29.09.2020, S. 19). Auch die Klägerin zu 2. wäre hiervon betroffen und könnte dem allenfalls dadurch entgehen, dass sie ihre Überzeugung unterdrücken und vorgeben würde, zum Islam zurückzukehren. Ein erzwungener Verzicht, ihre atheistische Überzeugung nach außen zu tragen, käme jedoch qualitativ einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach § 3a Abs. 1 AsylG, Art. 9 Abs. 1 QRL gleich.

Die Klägerin zu 3., die sich nicht auf eigene Fluchtgründe beruft, hat Anspruch auf internationalen Schutz für Familienangehörige in Gestalt der Flüchtlingsanerkennung gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 Alt. 1 i.V.m. § 26 Abs. 1 AsylG; soweit er dem entgegensteht, ist der angefochtene Bescheid gleichfalls rechtswidrig. Der in § 26 Abs. 2 AsylG normierten Voraussetzung, dass die Zuerkennung subsidiären Schutzes für den Stammberechtigten, die Kläger zu 1. oder 2., unanfechtbar, d.h. im vorliegenden Fall rechtskräftig geworden sein muss, wird dadurch Rechnung getragen, dass die Beklagte lediglich verpflichtet wird, die positive Entscheidung bezüglich der Klägerin zu 3. unter der aufschiebenden Bedingung des Eintritts der Rechtskraft des die Kläger zu 1. oder 2. betreffenden Teils des vorliegenden Urteils auszusprechen (vgl. Urteil des erkennenden Gerichts vom 23.05.2019 - 2 A 268/17 -, VG Stuttgart, Urteil vom 22.09.2017 - A 1 K 7628/16 -, juris Rn. 59; VG München, Urteil vom 22.04.2016 - M 16 K 14.30987 -, juris Rn. 40; VG Schwerin, Urteil vom 20.11.2015 - 15 A 1524/13 As -, juris Rn. 54; VG Freiburg, Urteil vom 19.04.2006 - A 1 K 11298/05 -, juris Rn. 10). Insoweit unterliegt die Klägerin zu 3., sodass ihre Klage teilweise abzuweisen war.

Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG bzw. des Art. 8 QRL steht den Klägern in Pakistan nicht zur Verfügung. Zwar geht das Gericht regelmäßig davon aus, dass von Verfolgung bedrohte Asylbewerber aus Pakistan in anderen Teilen ihres Heimatlands, insbesondere in den Großstädten wie Rawalpindi, Lahore, Karatschi, Peshawar oder Multan, eine interne Schutzmöglichkeit finden können. Im vorliegenden Fall gilt dies jedoch nicht, denn auch in den Großstädten kann es jederzeit zu Verfolgungsmaßnahmen durch den Staat oder durch Dritte kommen, sobald die Apostasie der Kläger zu 1. und 2. öffentlich bekannt wird.

Weil den Klägern somit die Flüchtlingseigenschaft i.S.v. § 3 AsylG zuzuerkennen ist, war der angefochtene Bescheid des Bundesamts aufzuheben, soweit er dem entgegensteht. Dementsprechend waren neben der Ziffer 1 auch die Ziffern 3 und 4 des Bescheids aufzuheben, da die Feststellung, dass der subsidiäre Schutzstatus und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, gegenstandslos wird, wenn die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft Erfolg hat. Entsprechendes gilt für die Ausreiseaufforderung und Androhung der Abschiebung nach Pakistan (Ziffer 5 des Bescheids) sowie die Entscheidung über ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Ziffer 6 des Bescheids). Über die hilfsweise gestellten (Verpflichtungs-)Anträge auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG und auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG war nicht mehr zu entscheiden, da die Klage bereits mit dem Hauptantrag erfolgreich ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83b AsylG.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.