Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 19.10.2016, Az.: S 44 SO 70/13

Beurlaubung; Maßregelvollzug

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
19.10.2016
Aktenzeichen
S 44 SO 70/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 43110
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Beurlaubungen aus dem Maßregelvollzug können Teil der stationären Maßnahme Maßregelvollzug sein.

Tenor:

Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2013 verurteilt dem Kläger im Zeitraum 01.07.2012 bis 30.11.2012 Leistungen nach dem 4. Kapitel SGB XII in Höhe des anteiligen Regelbedarfes von 345,00 € monatlich für die Urlaubstage unter Anrechnung des für An- und Abreisetag gewährten Verpflegungsgeldes zu gewähren und nachzuzahlen. Darüber hinaus wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 1/4.

Tatbestand:

Streitig sind Leistungen der Grundsicherung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Der am 18.10.1957 geborene Kläger befand sich seit September 1996 im Maßregelvollzug. Zuvor war er in der Stadt C-Stadt gemeldet.

Am 19.07.2012 beantragte der Kläger erstmalig bei der Beklagten Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII. Er sollte ein Probewohnen bei der damaligen Lebensgefährtin absolvieren. Dazu würde er jeweils über einige Tage aus dem Maßregelvollzug beurlaubt werden. Für die Urlaube erhalte er lediglich für den An- und Abreisetag ein Verpflegungsgeld in Höhe von jeweils 5,40 €.

Mit Bescheid vom 22.10.2012 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Eine örtliche Zuständigkeit der Beklagten sei nicht gegeben. Örtlich zuständig sei der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich er sich tatsächlich aufhielt.

Hiergegen erhob der Kläger mit Schriftsatz vom 19.11.2012, bei der Beklagten am 23.11.2012 eingegangen, Widerspruch. Die Beklagte sei örtlich zuständig. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt vor Aufnahme im Maßregelvollzug sei im Bereich der Beklagten gewesen.

Mit Schriftsatz vom 05.12.2012, bei der Beklagten gleichen Tage eingegangen, beantragte der Kläger abermals Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Er beantragte ausdrücklich den Regelsatz für Haushaltsangehörige sowie die Übernahme der Miet- und Heizkosten. Er gab weiterhin an, mit seiner Lebensgefährtin eine Bedarfsgemeinschaft zu bilden. Am gleichen Tage beantragte der Kläger den Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem Sozialgericht Hildesheim.

Mit Beschluss vom 28.12.2012 wurde der Antrag abgelehnt. Auf den zwischen den Beteiligten ergangenen Beschluss zum Aktenzeichen S 34 SO 240/12 ER wird Bezug genommen. Die hiergegen eingelegte Beschwerde zum Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen war erfolgreich. Mit Beschluss vom 07.02.2013 verpflichtete das Landessozialgericht die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung dem Kläger vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel SGB XII im Zeitraum 05.12.2012 bis einschließlich 31.05.2013 zu gewähren. Auf den zwischen den Beteiligten ergangenen Beschluss zum Aktenzeichen L 8 SO 53/13 B ER wird Bezug genommen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11.04.2013 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 22.10.2012 zurück. Die Beklagte sei für Beurlaubungen nicht mehr örtlich zuständig. Die Beklagte sei nur solange zuständig, wie die stationäre Unterbringung andauere. Gemäß § 15 Abs. 7 Niedersächsisches Maßregelvollzugsgesetz (Nds. MvollZG) habe der Untergebrachte während des Urlaubs nur Anspruch auf Behandlung und Pflege durch die für ihn zuständige Einrichtung oder eine andere geeignete Einrichtung soweit dies abgestimmt sei. Die Übernahme weiterer Kosten sei nicht vorgesehen. Diese Regelung mache deutlich, dass eine Beurlaubung nicht Bestandteil der stationären Unterbringung im Rahmen des Maßregelvollzuges sei.

Mit Schreiben vom 04.04.2013 teilte die Deutsche Rentenversicherung C-Stadt-Hannover der Beklagten mit, dass beim Kläger, zumindest seit dem 31.05.1974, die volle Erwerbsminderung bestünde.

Gegen den Bescheid vom 22.10.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2013 richtet sich die mit Schriftsatz vom 08.05.2013 beim Sozialgericht Hildesheim am 13.05.2013 eingegangene Klage. Die Beklagte sei weiterhin örtlich zuständig. Die Beurlaubungen seien Teil der stationären Unterbringungsmaßnahme. Die Zuständigkeitsregelung würde davon nicht betroffen werden. Sowohl während der Kurzurlaube, als auch während des Probewohnens, welches mittlerweile beendet wurde, sei der Kläger weiterhin stationär untergebracht. Es handele sich insofern um eine ganzheitliche Maßnahme. Die Zuständigkeit der Beklagten sei weiterhin gegeben.

Die erkennende Kammer hat mit Beschluss vom 16.06.2015 den Landkreis D-Stadt beigeladen, da dieser bei Ablehnung des Anspruches als leistungspflichtig in Betracht komme.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.10.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2013 zu verurteilen dem Kläger ab Antragstellung bis zur Beendigung des Probewohnens Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel SGB XII zu gewähren und nachzuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre fehlende örtliche Zuständigkeit.

Der Beigeladene beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

die Beklagte zu verurteilen.

Der Beklagte verweist darauf, dass die stationäre Unterbringung bestehen bliebe, wenn der Patient aus ihr beurlaubt würde. Der gewöhnliche Aufenthalt würde durch einen Aufenthalt in einer stationären Maßnahme nicht begründet. Vor der Unterbringung habe der Kläger in C-Stadt gewohnt. Die Beklagte sei daher zuständig.

Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten lagen dem Gericht bei der Entscheidung vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf diese sowie auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihre Zustimmung hierzu erklärt haben.

Die Klage ist, sofern sie sich auf Zeiträume ab Dezember 2012 bezieht, unzulässig. Insofern fehlt es an einer entsprechenden Entscheidung der Beklagten. Der Neuantrag des Klägers im Dezember 2012 stellt insofern eine zeitliche Zäsur dar (vgl. BSG, Urteil v. 11.12.2007, B 8/9 B SO 12/06 R, insbesondere Rd.-Ziffer 8, zitiert nach Juris).

Der Antrag kann von der Beklagten nicht ignoriert werden. Anträge sind zu bescheiden. Insofern wird auch der Neuantrag nicht Gegenstand eines Widerspruchsverfahrens. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 11.04.2013 erstmalig über den Antrag des Klägers aus Dezember 2012 entschieden hat. Es würde insofern an einem Vorverfahren fehlen. Jedenfalls kann der Antrag auf Dezember 2012 nicht Gegenstand des Bescheides vom 22.10.2012 gewesen sein.

Soweit die Klage die Zeiträume Juli bis einschließlich November 2012 betrifft, ist sie gemäß § 54 Abs. 1 u. 4 SGG zulässig. Sie ist auch begründet. Der angefochtene Verwaltungsakt ist rechtswidrig verletzt den Kläger insofern in seinen Rechten.

Der Kläger hat im Zeitraum Juli bis einschließlich November 2012 Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel SGB XII gegen die Beklagte.

Zwischen den Beteiligten dürfte unstreitig sein, dass der Kläger dem Grunde nach leistungsberechtigt ist. Insofern bringen weder die Beklagte noch der Beigeladene Tatsachen oder Argumente vor, die gegen einen Leistungsanspruch des Klägers gemäß § 41 ff. SGB XII sprechen würden. Entsprechendes ist auch aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich.

Die Beklagte ist auch gemäß § 98 Abs. 2 SGB XII zuständig. Die Kammer ist der Überzeugung, dass hier § 106 Abs. 2 SGB XII eingreift. Diese Regelung fingiert das Fortbestehen des Einrichtungsaufenthaltes. Die fingierte Zeit muss sich direkt an einen tatsächlichen Aufenthalt in der Einrichtung oder Vollzugsanstalt anschließen. Bloße besuchsweise Aufenthalte in der Einrichtung genügen nicht. Die Fiktion gilt, wenn auch weiterhin eine Betreuung durch die Einrichtung gewährleistet und tatsächlich ausgeübt wird. Die Einrichtung muss den Leistungsberechtigten insoweit auch tatsächlich weiterhin beobachten, beaufsichtigen und überwachen sowie die Möglichkeit haben, kurzfristig auf den Leistungsberechtigten zugreifen zu können und den Inhalt wie auch den Fortgang der Maßnahme beeinflussen können. Beispielhaft für derartige, den Einrichtungsaufenthalt verlängernde Unterbringungen seien u.a. die Unterbringung in eine eigene Wohnung, wenn dort eine tatsächliche Betreuung durch die Einrichtung ausgeübt würde (Böttiger in jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 106, Rd.-Nr.: 133 ff.).

So liegt der Fall hier. Zumindest in der Zeit von Juli bis einschließlich November 2012 war der Kläger auch weiterhin stationär im Maßregelvollzug untergebracht. Insofern waren die Kurzbeurlaubungen von ihrer Dauer her nicht lang genug, um einen Aufenthalt im Maßregelvollzug zu unterbrechen. Die Höchstdauer belief sich auf rund fünf Tage. Der Kläger wurde weiterhin von der Einrichtung des Maßregelvollzuges überwacht. Der Kläger arbeitete weiterhin im Berufsbildungsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen in Göttingen. Eine Betreuung und Überwachung des Klägers erfolgte auch weiterhin durch die Einrichtung des Maßregelvollzuges.

Dem steht auch § 15 Abs. 7 Nds. Maßregelvollzugsgesetz nicht entgegen. Auch wenn der Gesetzgeber selbst ausdrücklich davon ausgegangen ist, dass die Untergebrachten, die durch Vollzugslockerungen und Urlaub entstehenden Kosten grundsätzlich selbst zu tragen hätten, berührt dies die Zuständigkeit nach dem SGB XII nicht. Insofern ist die Zweckrichtung eine andere. Die Regelungen des SGB XII sollen die Leistungen möglichst aus einer Hand begründen. Dies war nicht Zweckrichtung des § 15 Abs. 7 Nds. Maßregelvollzugsgesetz.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.