Landgericht Braunschweig
Beschl. v. 06.07.2006, Az.: 7 Qs 198/06

Beiordnungsantrag; Beiordnungsbeschluss; nachträgliche Pflichtverteidigerbeiordnung; nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung; Nichtbescheidung; Pflichtverteidigerbestellung; rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung; rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung; Rückwirkung; Verfahrensabschluss; Verfahrensbeendigung; Verfahrensfehler; Verteidigungsrecht

Bibliographie

Gericht
LG Braunschweig
Datum
06.07.2006
Aktenzeichen
7 Qs 198/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 53389
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG - 07.06.2006 - AZ: 7 Ds 913 Js 146/06

Tenor:

Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Amtsgerichts Seesen vom 7.6.2006 (7 Ds 913 Js 146/06) aufgehoben.

Gründe

1

I. Der Verteidiger des Angeklagten hat mit Schriftsatz vom 10.3.2006 Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt und für den Fall der Beiordnung Niederlegung seines Wahlmandates angekündigt. In der Hauptverhandlung vom 15.3.2006 ist über den Beiordnungsantrag nicht entschieden worden. Der Verteidiger des Angeklagten trägt dazu vor, dass er zum Schutz des Angeklagten den Antrag auf Beiordnung zurückgestellt habe. In der Hauptverhandlung vom 15.03.2006 ist der Verurteilte zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt worden. Auf Antrag des Verteidigers vom 22.3.2006 auf nachträgliche Beiordnung bestellte das Amtsgericht dem Angeklagten mit Beschluss vom 7.6.2006 nachträglich Rechtsanwalt P. als Pflichtverteidiger.

2

Gegen den Beschluss des Amtsgerichts wendet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft mit der Begründung, dass die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers unzulässig sei.

3

Der Angeklagte ist der Ansicht, dass es sich nicht um eine rückwirkende Bestellung handele, da sein Verteidiger den Antrag bereits vor der Hauptverhandlung gestellt und das Amtsgericht über den Antrag nicht entschieden habe.

II.

4

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig, da die Staatsanwaltschaft jederzeit die gesetzwidrige Beiordnung eines Pflichtverteidigers rügen kann (Meyer-Goßner, StPO, 48. Auflg., § 141 Rn 9). Sie ist auch begründet, da eine nachträgliche Bestellung zum Pflichtverteidiger unzulässig ist.

5

Nach überwiegender obergerichtlicher Rechtsprechung ist eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das im Rechtszug abgeschlossene Verfahren schlechthin unzulässig und unwirksam und mithin grundsätzlich ausgeschlossen (BGH StV 1997, 238, KG StraFo 2006, 200, OLG Köln NJW 2003, 2038, OLG Düsseldorf StraFo 2003, 94, OLG Hamm, Beschluss vom 20.7.2000, 1 Ws 206/00, ZAP EN-Nr. 649/2000, siehe auch Meyer-Goßner, StP0, 48. Aufl., § 141 Rand-Nr.8).

6

Dies gilt auch dann, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und vom Gericht nicht, nicht rechtzeitig, ohne Gründe oder fehlerhaft beschieden worden ist und die Voraussetzungen der Beiordnung vorgelegen haben (KG StraFo 2006, 200, OLG Hamm, ZAP EN-Nr. 649/2000). Soweit das OLG Koblenz (StV 1995, 537) und verschiedene Landgerichte (z.B. LG Potsdam, StV 2005, 83, LG Berlin, StV 205, 83, LG Bremen, StV 204, 126, siehe auch LG Braunschweig, Beschlüsse vom 28.12.2000, - 43 Qs 52/00 - , StV 2001, 447 und 25.07.1996, - 35 Qs 56/96 - , StV 1997, 70) die Ansicht vertreten, in derartigen Fällen dürfte sich ein gerichtsinterner Fehler nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken, ist diese Ansicht mit Sinn und Vorschrift der Pflichtverteidigerbestellung nicht vereinbar. Zutreffend verweist das Kammergericht (StraFo 2006, 200 [KG Berlin 09.03.2006 - 1 AR 1407/05 - 5 Ws 563/05]) darauf, dass die Vorschriften über die Pflichtverteidigerbestellung nach §§ 140 f StP0 ausschließlich die ordnungsgemäße Verteidigung des Angeklagten sichern wollen (so auch OLG Hamm, ZEP EN-Nr. 649/2000). Die Beiordnung nach § 140 StP0 erfolgt nicht im Kosteninteresse des Angeklagten, sondern dient allein dem im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, in schwerwiegenden Fällen eine ordnungsgemäße Verteidigung des rechtsunkundigen Angeklagten in einem noch ausstehenden oder noch anhängigen Verfahren zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten (OLG Hamm, a.a.0.). Dieser Zweck kann aber nach dem Abschluss des Verfahrens nicht mehr erreicht werden, so dass eine nachträgliche Bestellung ausschließlich dem verfahrensfremden Zweck dienen würde, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch zu verschaffen, nicht jedoch eine noch notwendige ordnungsgemäße Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten (OLG Düsseldorf, JM NW 1998, 22). Dieser Sinn der Vorschrift wird auch dadurch deutlich, dass dem Angeklagten im Falle der Verurteilung die zunächst aus der Staatskasse zu leistenden Pflichtverteidigerkosten als Verfahrenskosten nach §§ 465 Abs. 1, 464 Abs. 1, 464 a Abs. 1 Satz 1 StP0 aufzuerlegen sind.

7

Vorliegend bestand daher nach Abschluss der Hauptverhandlung mit Verurteilung vom 15.3.2006 keine Möglichkeit mehr, dem Angeklagten seinen Wahlverteidiger Rechtsanwalt P. nachträglich als Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung bestanden haben dürften. Der Angeklagte war durch Rechtsanwalt P. als Wahlverteidiger ausreichend vertreten, so dass eine ordnungsgemäße Verteidigung bestanden hat. Mit der Verurteilung war der Rechtszug abgeschlossen, so dass es keiner weiteren Verteidigungshandlungen mehr bedurfte. Soweit der Angeklagte durch seinen Wahlverteidiger P. im Anschluss über die Möglichkeit einer Berufung beraten worden ist, schuldete Rechtsanwalt P. diese Beratung zivilrechtlich aus seinem Mandat als Wahlverteidiger. Auch insoweit bedurfte es der nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung nicht. Zudem war am 22.03.2006 allein aus zeitlichen Gründen auch bei schnellstmöglicher Entscheidung über den Beiordnungsantrag eine Beiordnung vor Ablauf der Rechtsmittelfrist gegen das Urteil vom 15.03.2006 nicht mehr möglich.

8

Insgesamt fehlte es daher der nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung an der erforderlichen Rechtsgrundlage, so dass der angegriffene Beschluss aufzuheben war.