Arbeitsgericht Hameln
Urt. v. 06.11.1996, Az.: 2 Ca 393/96

Urlaubsgeldanspruch; Berechnung der Beiträge zur Sozialversicherung bei der Auszahlung von Urlaubsgeld; Abschlagszahlung; Lohnzuflussprinzip; Nachholverbot gemäß § 28g Sozialgesetzbuch IV (SGB IV)

Bibliographie

Gericht
ArbG Hameln
Datum
06.11.1996
Aktenzeichen
2 Ca 393/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1996, 10167
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:ARBGHM:1996:1106.2CA393.96.0A

Fundstelle

  • NZA-RR 1997, 418-419 (Volltext mit red./amtl. LS)

In dem Rechtsstreit
hat das Arbeitsgericht in Hameln
auf die mündliche Verhandlung vom 06.11.1996
durch
den Richter am Arbeitsgericht ... als Vorsitzenden,
den ehrenamtlichen Richter als Beisitzer
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

  3. 3.

    Der Streitwert wird auf 235,43 DM festgesetzt.

  4. 4.

    Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten um eine Forderung.

2

Die Klägerin war seit dem 02.08.1982 bei der Otto Bosse GmbH & Co KG mit einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt ca. 3.000,00 DM tätig; das Arbeitsverhältnis endete aufgrund fristgemäßer arbeitgeberseitiger Kündigung vom 28.10.1994 mit dem 31.01.1995. Mit Beschluß des Amtsgerichts Stadthagen vom 01.12.1994 wurde über das Vermögen der Otto Bosse GmbH & Co KG das Anschlußkonkursverfahren eröffnet; der Beklagte wurde zum Konkursverwalter bestellt (Bl. 17 d. A.).

3

Für das Urlaubsjahr 1994 belief sich das zusätzliche Urlaubsgeld der Klägerin auf 2.466,00 DM. Angesichts der bereits im Frühsommer 1994 bestehenden finanziellen Schwierigkeiten der späteren Gemeinschuldnerin schlossen die Betriebsparteien am 14.06.1994 eine Betriebsvereinbarung über die Zahlung des zusätzlichen Urlaubsgeldes 1994, wonach

"auf die lt. MTN zu zahlenden Beträge vor Beginn des Urlaubs ein Abschlag geleistet wird. Dieser beläuft sich auf 50 % des zu erwartenden Nettobetrages des vollen zusätzlichen Urlaubsgeldes. Das zusätzliche Urlaubsgeld wird am 30.10.1994 unter Berücksichtigung des geleisteten Abschlags zur Zahlung fällig" (Bl. 4 d. A.).

4

Im Juli 1994 erhielt die Klägerin auf das Urlaubsgeld 1994 einen sogenannten Abschlag in Höhe von 960,00 DM. Dieser Betrag wurde regelmäßig in der Weise ermittelt, daß der aus der Summe der regelmäßigen Bruttomonatsvergütung und des Bruttourlaubsgeldes unter Berücksichtigung der Steuern und der Sozialversicherungsbeiträge sich ergebende Nettobetrag errechnet wurde. Davon wurde der aus dem regelmäßigen Bruttomonatseinkommen sich ergebende Nettobetrag abgezogen, 50 % des daraus sich ergebenden Differenzbetrages erhielt die Klägerin ausgezahlt.

5

Das Nettourlaubsgeld wurde von der Gemeinschuldnerin fehlerhaft errechnet; dadurch, daß Beitrage zur Sozialversicherung weder in Abzug gebracht noch zunächst abgeführt wurden, errechnete die Gemeinschuldnerin ein überhöhtes Nettourlaubsgeld. Die fehlerhafte Abrechnung des Urlaubsgeldes wurde bei einer Betriebsprüfung im Frühjahr 1995 festgestellt; auf entsprechende Aufforderung hin entrichtete der Beklagte die Beiträge nach.

6

Während der Sitzung der Einigungsstelle vom 03.12.1994 hatte der Beklagte erklärt, es sei "beabsichtigt, das ausstehende zusätzliche Urlaubsgeld für 1994, das die Arbeitnehmer dem Betrieb gestundet hätten, an die Arbeitnehmer auszuzahlen. Die Zahlung müsse allerdings nach dem 31.12.1994 erfolgen" (Bl. 24 d. A.).

7

Bei der Abrechnung und Zahlung der zweiten Hälfte des Urlaubsgeldes im Dezember 1995 behielt der Beklagte die aus dem gesamten Urlaubsgeld von 2.446,00 DM sich ergebenden Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 470,85 DM ein und errechnete ein Nettourlaubsgeld in Höhe von 1.250,73 DM; nach Verrechnung mit dem bereits gezahlten Urlaubsgeld zahlte er einen Restbetrag von 290,73 DM aus.

8

Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Schreiben vom 08.01.1996 (Bl. 25 d. A.) und führte unter Hinweis auf § 28 g SGB IV aus, sie habe Anspruch auf Zahlung eines Restbetrages in Höhe von 235,41 DM; der Beklagte wies dies mit Schreiben vom 09.01.1996 zurück (Bl. 26 d. A.).

9

Mit der am 20.06.1996 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Zahlung eines Restbetrages von 235,43 DM weiter. Sie führt zur Begründung aus, der Beklagte habe bei der Abrechnung und Zahlung des Urlaubsgeldes im Dezember 1995 die arbeitnehmerseitigen Sozial Versicherungsbeiträge nur auf der Grundlage des hälftigen Bruttourlaubsgeldes abrechnen und einbehalten dürfen. Der auf der Grundlage des ungekürzten Urlaubsgeldes von 2.446,00 DM brutto errechnete Beitragsabzug und die Einbehaltung des Sozial Versicherungsbeitrages zur Masse sei angesichts des in § 28 g SGB IV normierten Nachholungsverbotes unzulässig.

10

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 235,43 DM netto nebst 4 % Zinsen seit dem 01.01.1996 zu zahlen.

11

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12

Die Beklagte führt aus, der Anspruch der Klägerin auf Zahlung des Urlaubsgeldes 1994 sei erfüllt. Mit dem aus dem Bruttourlaubsgeld von 2.446,00 DM unter Beachtung der Sozialversicherungsbeiträge und der Steuern sich ergebenden Nettobetrag von 1.250,73 DM habe die Klägerin bekommen, worauf sie einen Anspruch habe. Auch die fehlerhafte Nichtbeachtung der Sozialversicherungsbeiträge bei der Abschlagszahlung im Juli 1994 habe nicht zu einer Erhöhung des Nettourlaubsgeldanspruchs geführt. Die Regelung des § 28 g SGB IV stehe dem deshalb nicht entgegen, weil der Arbeitnehmer dadurch allein vor einer Anhäufung der von ihm zu erstattenden Beitragsanteile und einer künftigen Erstattungsklage geschützt werden solle; überdies sei von Bedeutung, daß es sich bei der Zahlung des Urlaubsgeldes im Dezember 1995 um die nächste Zahlung i. S. d. § 28 g Satz 3 SGB IV gehandelt habe.

13

Wegen der Einzelheiten wird auf den Vortrag in den Schriftsätzen der Klägerin vom 19.6. und 30.09.1996 sowie im Schriftsatz des Beklagten vom 23.08.1996 Bezug genommen.

Gründe

14

Die Klage ist zulässig. Bei dem mit der Klage geltend gemachten Urlaubsgeldanspruch handelt es sich um einen Anspruch der Klägerin aus dem Arbeitsverhältnis zu der Gemeinschuldnerin, deren Rechte und Pflichten von dem Beklagten als Partei kraft Amtes gemäß § 6 Abs. 2 KO wahrgenommen werden. Die möglichen Folgen der sozialrechtlichen Regelungen des § 28 g SGB IV für den in der Form der Nettolohnklage geltend gemachten Klageanspruch berühren dessen Natur als eines zivilrechtlichen Anspruchs nicht (BAG, 21.3.84, AP Nr. 29 zu § 2 ArbGG 1979).

15

Indessen ist die Klage nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung eines Nettourlaubsgeldes in Höhe von insgesamt 1.486,16 DM; mit der Zahlung von 1.250,73 DM netto ist der Urlaubsgeldanspruch erfüllt. Die Regelung des § 28 g SGB IV steht der Beitragsberechnung auf der Grundlage des vollen Urlaubsgeldes nicht entgegen.

16

1.

Die Klägerin kann ihre Forderung nicht auf § 611 BGB i. V. m. dem Arbeitsvertrag stützen.

17

Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf Zahlung des vertraglich vereinbarten Arbeitsentgelts. Das Arbeitsentgelt i. S. d. (eine Legaldefinition enthaltenden) § 14 Abs. 1 SGB IV ist das Bruttoarbeitsentgelt; es umfaßt das Nettoarbeitsentgelt, die auf das Bruttoarbeitsentgelt entfallenden Steuern und die dem gesetzlichen Anteil des Arbeitnehmers entsprechenden Beiträge zur Sozialversicherung sowie den Beitrag des Arbeitnehmers zur Arbeitslosenversicherung. Das Nettoarbeitsentgelt ist das um die gesetzlichen Abzüge geminderte Bruttoarbeitsentgelt.

18

Obgleich Vergütung i. S. d. § 611 BGB das Bruttoentgelt ist, ist dem Arbeitnehmer das Nettoentgelt auszuzahlen. Die beschränkte Auszahlung folgt aus öffentlich-rechtlich angeordneten Lohnabzügen, die der Arbeitgeber vorzunehmen hat; er hat die Steuern an das Finanzamt, die Sozialversicherungsabgaben an die Krankenkasse als Inkassostelle für die Sozialversicherungsträger abzuführen (Dütz, Arbeitsrecht, 2. Aufl. 1994, Rdnr. 169). Der Arbeitnehmer kann die Nettovergütung verlangen, die sich aus der Bruttovergütungen ergeben hätte, wenn der Arbeitgeber bei Fälligkeit jeweils abgerechnet und bezahlt hätte (BAG, 29.8.84, DB 84, 2708).

19

Daraus ergibt sich: Der Beklagte konnte bei der im Dezember 1995 erfolgten Abrechnung und Auszahlung des Restbetrages des (gemäß Betriebsvereinbarung vom 14.06.1994 mit dem 30.10.1994 fällig gewordenen) Urlaubsgeldes, bei welchem es sich begrifflich um ein einmalig gezahltes "aus der Beschäftigung" erlangtes Arbeitsentgelt i. S. d. § 14 Abs. 1 SGB IV handelt, der Beitragsberechnung das volle Urlaubsgeld zugrunde legen. Die Klägerin hat auch aufgrund der von der Gemeinschuldnerin gewählten Verfahrensweise bei der Ermittlung und Auszahlung des (erst-)hälftigen Urlaubsgeldes im Juli 1994 keinen Anspruch auf ein höheres als das gesetzliche, d. h. korrekt errechnete Nettourlaubsgeld. Dies folgt bereits dadurch, daß es sich bei der ersten Hälfte des Urlaubsgeldes nach der Formulierung der Betriebsvereinbarung vom 14.06.1994 um einen "Abschlag" handelt und somit um eine Zahlung in ungefährer Höhe, die nicht schon aufgrund einer fehlerhaften Berechnung einen Anspruch auf ein höheres als das "gesetzliche" Entgelt begründet. Bei der ersten Hälfte des Urlaubsgeldes handelt es sich indessen rechtstechnisch nicht um einen Abschlag auf einen bereits fälligen (Entgelt-)Anspruch, dessen Abrechnung hinausgeschoben wurde, sondern um einen Vorschuß auf das erst später am 30.10.1994 geschuldete Entgelt (BAG, 11.2.87, BB 87, 1743). Angesichts des Charakters der ersten Zahlung als Vorschuß waren keine Beiträge zur Sozialversicherung zu erheben, da das Lohnzuflußprinzip im Beitragsrecht keine Geltung beansprucht. Erst wenn der Vorschuß mit dem erzielten Entgelt verrechnet wird, ist der Beitragsberechnung das volle Arbeitsentgelt zugrunde zu legen (Küttner/Voelzke, Personalbuch 1996, Vorschuß Rdnr. 22). So liegt es hier.

20

Sozialrechtliche Regelungen über die Beschränkung des Erstattungsanspruchs des Arbeitgebers auf das Lohnabzugsverfahren und die Begrenzung der Nachholmöglichkeit gemäß § 28 g SGB IV stehen der von dem Beklagten gewählten Verfahrensweise, der Beitragsberechnung das volle Weihnachtsgeld zugrunde zu legen und den daraus sich ergebenden (Rest-)Nettobetrag auszuzahlen, nicht entgegen. Dies folgt bereits daraus, daß es sich bei der ersten Hälfte des Weihnachtsgeldes nicht um eine Abschlags-, sondern um eine Vorschußzahlung handelte. Doch auch für den Fall, daß man - wie die Parteien - die Zahlung der ersten (Netto-)Hälfte des Urlaubsgeldes rechtstechnisch als Abschlagszahlung bewertet, ergibt sich nichts anderes. Bei der im Juli 1994 erfolgten Zahlung handelt es sich um einen Teil einer Entgeltzahlung, über die angesichts ihrer Fälligkeit Ende Oktober 1994 abzurechnen war; das hat der Beklagte mit einer Verspätung von mehr als einem Jahr getan. Das Nachholverbot des § 28 g Satz 3 SGB IV soll den Arbeitnehmern nur vor einer Beitragshäufung schützen und bezweckt nicht den Schutz des Arbeitnehmers vor verspäteten Lohn- und Gehaltsabrechnungen (BAG, 15.12.1993, NZA 94, 620 ff., 621). Nachdem der Beklagte der Klägerin nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Weihnachtsgeldabrechnung im Dezember 1995 den restlichen Nettobetrag von 290,73 DM gezahlt hat, ist der diesbezügliche Nettoentgeltanspruch der Klägerin erfüllt; sie hat das erhalten, was ihr nach Abzug von Steuern und Sozial Versicherungsbeiträgen zustand und ist nicht mit übermäßigen Beitragsrückständen belastet worden (BAG, 21.3.84, AP Nr. 29 zu § 2 ArbGG 1979). Das Nachholverbot bewirkt nicht, daß dem Beklagten angesichts des unterbliebenen Beitragsabzugs bei der sogenannten Abschlagszahlung im Juli 1994 jede Möglichkeit der Verrechnung mit etwaigen Überzahlungen bei der Endabrechnung genommen ist; dem entspricht, daß es nicht Sinn und Zweck des § 28 g SGB IV ist, einen höheren als den bei korrekter Beitragsberechnung auf Grundlage des vollen Arbeitsentgelts sich ergebenden Nettoentgeltanspruch zu begründen.

21

2.

Ein Bereicherungsanspruch gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB steht der Klägerin nicht zu. Der Beklagte, der die Sozialversicherungsbeiträge korrekt berechnet hat, hat nichts auf Kosten der Klägerin erlangt.

22

3.

Einem Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 1 BGB steht entgegen, daß es auf seiten der Klägerin an einem Schaden fehlt. Mit dem um die gesetzlichen Abzüge verminderten Bruttourlaubsgeld hat die Klägerin das Nettoentgelt erhalten, das ihr zustand.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

24

Der Streitwert ist mit dem Nennbetrag der Geldforderung festzusetzen, § 3 ZPO.

25

Die Kammer hat gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG die Berufung zugelassen. Die zentrale Rechtsfrage, ob der Klägerin angesichts der Verfahrensweise des Beklagten ein höherer als das "gesetzliche" Entgelt zusteht, ist klärungsbedürftig und von grundsätzlicher Bedeutung. Bei dem vorliegenden Verfahren handelt es sich um einen Fall aus einer Vielzahl gleichgelagerter, gegenüber dem Beklagten geltend gemachten Forderungen.

Streitwertbeschluss:

Der Streitwert wird auf 235,43 DM festgesetzt.